Die Linke und die Zürcher Wohnungsnot: Wer entscheidet, wie die Stadt gebaut wird?

Nr. 7 –

Walter Angst und Niklaus Scherr von der Alternativen Liste (AL) über die Linke und die städtische Wohnungsnot.

Mit der Kavallerie habe die SP die Baufirma Marazzi gezwungen, mehr Ökologie und gemeinnützigen Wohnungsbau auf der Industriebrache Manegg zu planen, behauptet der Zürcher Freisinn in seinen Wahlinseraten. Wegen dieses «Sündenfalls» würden Bauherren bald wieder einen grossen Bogen um das «rot-grüne» Zürich machen.
Man kann das für eine Schreckensvision oder einen Segen halten: Absurd ist die Aussage so oder so. Die Zahl der Grundstückverkäufe, geplanten Neubauten und Baustellen zeigt einen sehr vitalen Zürcher Immobilienmarkt. Grund für das Zeter und Mordio der FDP ist nicht die Angst vor abwandernden InvestorInnen. Entsetzt ist man, weil in Zürich endlich wieder öffentlich um Stadtplanung gestritten wird.

In die Agglo verdrängt

«Kooperative Planung» heisst das Modell, das auf Hinterzimmergespräche zwischen Investoren und den zuständigen Exekutivmitgliedern setzt. Das enge Beziehungsnetz, das Bauvorsteherin Kathrin Martelli (FDP), der ehemalige Stadtpräsident Elmar Ledergeber (SP) und Finanzvorstand Martin Vollenwyder (FDP) mit den InvestorInnen geknüpft haben, kennt klare Spielregeln: Die öffentliche Hand bringt Wünsche zur baulichen Ästhetik, zum Verkehr und neuerdings zur Ökologie ein, über Nutzweise und Preise entscheiden dagegen die InvestorInnen. Die Produkte dieses Modells sind stadtweit zu besichtigen: Renditeobjekte, die InvestorInnen glücklich machen und zu einer rasanten Umschichtung der Bevölkerung geführt haben. Menschen mit kleinem Einkommen werden in die Agglomeration verdrängt, zahlungskräftige AgglomeritInnen kehren in die Stadt zurück.
Zwischen den Entscheiden der Planungsbehörden und dem öffentlichen Bedürfnis nach zahlbarem Wohnraum hat sich ein wachsender Graben aufgetan. Noch vor einem Jahr wagten nur Alternative Liste AL und Grüne, sich gegen investorenfreundliche Entscheide – etwa bei der Umnutzung des Zollfreilagers – aufzulehnen. Bei der Diskussion um das Manegg-Areal war erstmals auch die SP bereit, eine Planungsvorgabe des Stadtrats umzustossen. SP, Grüne und AL forderten, der vom Stadtparlament zu beschliessende öffentliche Gestaltungsplan müsse den strengen Minergie-P-Standard, weniger Parkplätze und den Bau eines Mindestanteils an zahlbaren Genossenschaftswohnungen festschreiben.
Dass die Hauptinvestorin, die Berner Baufirma Marazzi, auf die Forderungen der politischen Mehrheit einging, hat weitherum erstaunt. Die Firma verpflichtete sich nicht nur zu ökologischen Standards, die weit über den vom Stadtrat ausgehandelten Gestaltungsplan hinausgehen. Sie schloss auch – gegen den standhaften Widerstand von Stadträtin Martelli – einen Vertrag mit dem Dachverband der Zürcher Baugenossenschaften, der den Weg für den Bau von Genossenschaftswohnungen frei macht.
Dieser Vertrag ist ein Durchbruch. Die Baugenossenschaften haben das Geld und das Wissen, um bezahlbare Wohnungen zu bauen. Sie brauchen jedoch Bauland. Ohne die Bereitschaft privater Grundbesitzer, die Genossenschaften und die Stadt an der Entwicklung grosser Wohnbauprojekte zu beteiligen und Land für Alters- und Studentenwohnungen an die Stadt abzutreten, sind die Ziele einer solidarischen Stadtentwicklung – weniger Verkehr, durchmischte Quartiere, Wohn- und Gewerberaum für alle – nicht umsetzbar.
Dass die Immobilienwirtschaft heftig auf den Manegg-Deal reagieren würde, war zu erwarten. Dass sich der Stadtrat offen zum Sprecher ihrer Partikularinteressen machen würde, war es weniger. Als sich abzeichnete, dass das Parlament auch noch einen Landverkauf an die SBB Immobilien blockieren würde, weil die SBB die Baugenossenschaften nicht an der Entwicklung ihrer Wohnprojekte beteiligen wollten, zog der Stadtrat die Notbremse. Mit den Stimmen der rot-grünen Mehrheit liess die Exekutive Anfang Februar das Geschäft sechs Stunden vor der Beratung im Stadtparlament von der Traktandenliste streichen. Die Ansage war klar: Parlament und Öffentlichkeit sollen nicht am Tisch sitzen, wenn wichtige Planungsentscheide gefällt werden.

Schwankende SP

Inszeniert wurde dieser «Buebetrick» von Finanzvorstand Martin Vollenwyder. Sein Ziel: Der Stadtrat soll auch nach der Blutauffrischung vom 7. März an der «Kooperativen Planung» der Ledergerber & Martelli GmbH festhalten. Und die SP soll sich nicht noch einmal dazu versteigen, die in den Hinterzimmern der Macht gefassten Planungsentscheide zu hinterfragen.
Die SP schwankt noch über ihren künftigen Kurs. Beim Entscheid über den Verkauf von 3100 Quadratmeter städtischem Bauland in Zürich West an die Investorengruppe Halter und Albers stimmte die Fraktion im Gemeinderat gegen den Rückweisungsantrag von AL und Grünen. Diese hatten als Gegenleistung für den lukrativen Landdeal den Bau von zahlbaren Wohnungen und mehr Quartiernutzungen verlangt. Das laufende Referendum dürfte hier zu einer Klärung führen.

Walter Angst (48) ist Bereichsleiter Kommunikation beim Zürcher Mieterinnen- und Mieterverband (MV), Niklaus Scherr (65) war bis zu seiner Pensionierung im Juni 2009 Geschäftsleiter des MV Zürich. Beide sitzen für die Alternative Liste (AL) im Zürcher Gemeinderat.