Deutschland: Die Chefin im Reich der Mitte

Nr. 9 –

Setzt Angela Merkel noch die Leitlinien der Politik, wie es ihre Aufgabe als Bundeskanzlerin ist? Aber warum greift sie dann nicht durch? Zur Strategie einer Frau, die als «mächtigste der Welt» bezeichnet wird.


Ihre Regierung könne nicht regieren und sie, die Kanzlerin, versage. Sie habe keine Linie und sorge nicht für Ordnung. Diese Kritik kommt aus fast allen politischen Ecken. Andererseits ist Angela Merkel, die einem Haufen von regierenden VersagerInnen vorsteht, zugleich eine der stärksten, wenn nicht die stärkste politische Persönlichkeit in Deutschland. Ein bemerkenswerter Kontrast. Woher rührt ihre Stärke, wenn nicht nur aus der Schwäche der anderen?

Eine nie versiegende, im Moment besonders kräftig sprudelnde Quelle ist natürlich der Zustand der anderen Parteien. Warum sind die so schwach? Unter anderem, weil Angela Merkel kaum Angriffsflächen bietet. Hier die Liste dessen, was sie nicht tut: Es gibt bisher keinen Masterplan für den oft prognostizierten sozialen Kahlschlag. Angela Merkel verspürt auch in einer Regierung mit der neoliberal gesinnten FDP offenkundig keine Lust, zu ihrem marktradikalen Kurs in den Jahren vor 2005 zurückzukehren. Es gibt keinen Marsch in den Atomstaat. Sie schleift weder die Rechte der Gewerkschaften noch die der Lohnabhängigen.

Mit dieser Liste des Nichtstuns entwaffnet sie die Oppositionsparteien SPD, Grüne und Linke. All deren Vorhersagen über die sozialen Verwüstungen einer konservativ-liberalen Regierung haben sich – bisher – als falsch erwiesen. So fehlen die Konflikte, an denen die Fronten festgemacht werden könnten, welche alle drei Oppositionsparteien viel dringender benötigen als die Kanzlerin. Ein kluger Beobachter der Szene in Berlin meinte vor kurzem, diese Legislaturperiode werde so langweilig werden, dass die Linke sie nützen könne, um sich selbst zu zerlegen, ihre Wunden zu lecken, Kinder zu kriegen oder Programmdebatten zu führen. Im Moment gibt es einen starken Trend zur ersten Option.

Projekt 1: Liberale Schrumpfung

Mit der FDP ist es etwas anderes: Da gibt es Fronten. Es mehren sich aber die Hinweise, dass Umgang und Auseinandersetzung mit ihr nicht mehr in der Sphäre des Politischen stattfinden. Da geht es eher um Anstand und Ästhetik – und inzwischen sogar um die Sorge, der Tag könne näherrücken, an dem man sich parteiübergreifend ein bisschen schämen muss. Schämen für Guido Westerwelle, den Musterschüler auf Reisen; für Wirtschaftsminister Rainer Brüderle, den tüchtigen Weintrinker auf der verzweifelten Suche nach dem Wachstumspfad; für den netten Gesundheitsminister Philipp Rösler, der sich laufend im Lobbyismus verirrt; für die mit Hochgeschwindigkeitssprachlauten Schrecken verbreitende Dompteuse Birgit Homburger, die der FDP-Fraktion vorsteht.

Ist das noch eine ordentliche Partei? Oder mutierte die FDP in der langen Oppositionszeit von 1998 bis 2009 zu einer Ansammlung von Menschen, für die es bisher keinen präzise analytischen Begriff gibt? Und vielleicht bald keinen mehr braucht? Denn Angela Merkel lässt in diesen Monaten die Liberalen von ihren besten (Finanzminister Wolfgang Schäuble) und nervtötendsten (Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer) Kräften zermürben. Die arbeiten in ihrem Auftrag deren neoliberale Projekte klein, wie die aktuelle Debatte um die Gesundheitsreform zeigt. Vor kurzem hat das Finanzministerium öffentlich vorgerechnet, wer vor allem für die sozial abgefederte Kopfpauschale zahlen muss, die Rösler unbedingt durchsetzen will: Der Einkommenssteuersatz für die Wohlhabenden, die die FDP zu repräsentieren vorgibt, würde auf mindestens 72 Prozent steigen. Anders formuliert: Die Kanzlerin verhält sich ruhig und erzielt so derzeit mit einem Minimum an Aufwand ein Maximum an liberaler Schrumpfung.

Projekt 2: Alte Schandtaten bewahren

Natürlich wagt die Kanzlerin keinen grossen Wurf. Aber wer könnte das überhaupt noch in dieser mit Interessen und Klientelgruppen vollgestellten deutschen Verhandlungsdemokratie? So was fordern nur noch gelangweilte JournalistInnen oder böswillige Oppositionelle. Und dürfte und sollte sie das jetzt überhaupt tun, mitten in einer unberechenbaren Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise, in der alle Kräfte für das Management der Krise gebraucht werden?

Natürlich verficht sie keine Politik, die sich Mann und Frau in ihren Alltagsgesprächen so wünschen: die Finanzmärkte so zurechtstutzen, dass Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann wieder Kellner und nicht länger Koch ist. Die Reichen die Zeche für die Finanzmarktkrise bezahlen lassen. Eine Revolution in Gang setzen, um dem deutschen Bildungs- und Weiterbildungssystem endlich den Feudalismus auszutreiben und die Gleichheit der Chancen wieder einkehren zu lassen. Natürlich kehrt sie auch die verheerenden Steuer-, Renten- und Arbeitsmarktreformen (Leiharbeit, Niedriglohnsektor, Hartz IV, niedrige Unternehmenssteuern, hohe Mehrwertsteuer, Rente mit 67) nicht um, welche die Grünen und die sozialdemokratischen Basta-Politiker Gerhard Schröder, Franz Müntefering, Wolfgang Clement und Peer Steinbrück zu verantworten haben. Da wurden von zwei sich halbwegs links nennenden rot-grünen Regierungen eben Massstäbe gesetzt und vor allem Massstäbe versetzt: Wie könnte eine konservative Partei, will sie sich politisch vor ihrer eigenen WählerInnenschaft nicht ruinieren, eine linkere und sozialere Politik betreiben als die sich links nennenden Parteien des Landes?

Natürlich macht Merkel das alles nicht. Schliesslich sind sie, ihre Partei und vor allem ihre Partnerin FDP von Gesellschaftsgruppen gewählt worden, die eben diese Errungenschaften der rot-grünen Regierungen unbedingt erhalten wollen. Merkel betreibt in wesentlichen Teilen eine gerechtigkeitsfeindliche und wirtschaftsfreundliche Politik, damit nicht auch noch ihr die WählerInnen in Scharen weglaufen.

Projekt 3: Alle einbinden

Aber sie tut zugleich auch das Folgende: Sie hofiert die Gewerkschaften inniger, als es der frühere Bundeskanzler Schröder in seinen gewerkschaftsfreundlichsten Anwandlungen je getan hat. Ihr Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) will im Herbst ein Energiegesamtkonzept vorlegen – «nicht um die Kernkraft zu festigen, sondern um darzulegen, wie wir sie ablösen». Seither streitet die CDU über Laufzeiten und Ausstieg; Röttgen weicht nicht von seiner Linie ab, und alle wissen, er hat diese zuvor mit der Kanzlerin abgesprochen. Finanzminister Schäuble ist seit Ausbruch der Krise Verbal- und in Teilen sogar Realkeynesianer. Arbeitsministerin Ursula von der Leyen pflegte zuvor eine moderne Frauenpolitik und will sich jetzt das Lohndumping des Drogeriediscounters Schlecker vornehmen. Die Integrationsbeauftragte Maria Böhmer, die im Kanzleramt sitzt, fordert für den öffentlichen Dienst eine Beschäftigungsquote für MigrantInnen. Und über Verkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) wird berichtet, er halte nichts von einem Börsengang der Bahn und verwahre sich «gegen den Privatisierungswahn».

CDU und CSU verlieren viele Mitglieder und WählerInnen. Aber Angela Merkel erhält mit diesem Kurs der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Öffnung ihrer schrumpfenden CDU trotzdem den Charakter als Volkspartei. Denn die CDU ist inzwischen als einzige Partei in der Lage, sehr unterschiedliche Interessen auszutarieren. Damit geht sie das Risiko ein, wert- und rechtskonservative Mitglieder und WählerInnen zu verprellen; andererseits ist dadurch für die CDU inzwischen fast jede Koalitionskonstellation denk- und machbar. So schrumpft die Union – und bleibt doch das Zentrum aller Machtspiele. Die Bandbreite an Personen und Inhalten ist breiter und weiter geworden. Positionen und Personen, die sich zwar reiben, die sich aber nie gegeneinander in Stellung bringen lassen im Kampf um Sieg oder Niederlage, richtig oder falsch, gut oder böse.

Im Gegensatz zur SPD – das ist auch der Grund für deren Niedergang – handelt die CDU nicht in diesen Kategorien, weil sie letztlich die Macht eint, und der Kampf um sie. Angela Merkel orchestriert Flügel und Positionen in Harmonie, im Nebeneinander, im Miteinander, zeitweise im Gegeneinander. Was ihr als Schwäche ausgelegt wird, ist ihre Stärke. Und vielleicht ist das ja auch dem deutschen Typ von Demokratie angemessen, der nicht ein Machtzentrum kennt, sondern viele.

Vor dieser Vielfalt verkümmern die anderen Parteien. Warnfried Dettling, einst Chefdenker unter CDU-Generalsekretär Heiner Geissler, sagte einmal, dass «diejenige Partei die erfolgreichste sein [wird], die die Komplexität der Gesellschaft in sich widerspiegelt».

Die kinderlose ostdeutsche Protestantin, die mit einem westdeutschen Schwulen die Spitze einer konservativ-liberalen Regierung bildet, hat sich im neuen Fünfparteiensystem die Mitte gemopst. Die will sie nicht mehr hergeben. Sie riskiert mit ihrem Kurs zwar ebenso die Zustimmung des christlich-konservativen Publikums wie Jahre zuvor Schröder mit seiner Agenda 2010 die Unterstützung der sozialdemokratischen StammwählerInnen. Aber Schröder sagte zu oft «Basta!» und liess so seine SPD an der Agenda 2010 zerbrechen. Merkel sagt nie Basta und hat aus ihrer Partei ein Reich der Mitte gemacht.



Wolfgang Storz hat gemeinsam mit Hans-Jürgen Arlt und Wolfgang Kessler das Buch «Alles Merkel?» (Edition Publik-Forum) verfasst, das auch im WOZ-Shop erhältlich ist.

Westerwelle allein zu Haus

Es gibt in diesen Wochen in Deutschland eine intensive Debatte über den FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle und dessen Angriffe auf den Sozialstaat. Dabei verwundert, dass Westerwelle mit so dürftigen bis falschen und altbekannten Einlassungen immer noch so viel mediale Aufmerksamkeit findet. Denn er sagte mal wieder in all seiner Empörung, wer arbeite, müsse mehr im Geldbeutel haben als jene, die die Sozialleistungen des Staates empfangen; und deshalb müsse der Druck auf die SozialgeldempfängerInnen erhöht werden.

Und es wundert, dass es weder den Gewerkschaften noch den Parteien links vom Mainstream gelingt, dieser Kampagne etwas entgegenzusetzen und Westerwelle beispielsweise den Begriff «Leistung» zu entwenden. Der Abstand zwischen Sozialhilfe und Niedriglohn ist tatsächlich gering geworden – weil die Leistung der Beschäftigten nicht mehr entlohnt wird und Lohnabhängige mit drei oder vier Euro pro Stunde abgespeist werden. Die Linke könnte daraus eine Kampagne gegen das eigentlich leistungslose Einkommen machen: die Zins- und Dividendeneinkünfte der Reichen.

Westerwelles Sprüche von «anstrengungslosem Wohlstand» und «spätrömischer Dekadenz» (bezogen auf Hartz-IV-EmpfängerInnen, die mit umgerechnet 530 Franken im Monat auskommen müssen) werfen jedoch auch ein neues Licht auf die FDP. Diese hatte bei der Bundestagswahl im vergangenen Herbst 14,6 Prozent der Stimmen erzielt und präsentierte sich danach als politischer Riese.

Nur fünf Monate später entpuppt sie sich nun jedoch als eine Kraft, die sich – zumindest sieht es heute so aus – in den Jahren ihrer Opposition mumifiziert hat, sich mit letzter Kraft an die Macht schleppte und nun, an der frischen Luft der Öffentlichkeit, zerfällt und verwest. Jedenfalls sind die Umfragewerte der FDP-Minister schlecht, und um die Partei ist es ebenfalls schlecht bestellt: Vor der Landtagswahl am 9. Mai im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen zeigen die Umfragen einen marktradikalen Zwerg, der zwischen sechs und acht Prozent hin und her hüpft.

Und deshalb attackiert der FDP-Vorsitzende den Sozialstaat und die Bedürftigsten. Trotzdem wollen die Umfrageergebnisse nicht steigen. Die Hoffnung: Die Speerspitze des Marktradikalismus und Egoismus scheint doch nicht so viel Kraft zu haben, wie die Bundestagswahl befürchten liess.