Elliott Sharp und Carbon: Und mittendrin eine Badewanne

Nr. 12 –

Eine der klassischen Gruppen der New Yorker Downtown-Szene ist erneut jenseits der Rockorthodoxie unterwegs und landet dabei auch in Zürich.


Rockmusik, bis tief ins Indielager hinein, ist im Herzen ein erzkonservatives Genre – innovationsresistent! Sie gleicht einer gigantischen Recyclingmaschine, die fortwährend dieselben Songmuster, Beats und Liedinhalte neu aufbereitet. An den Rändern gibt es Abtrünnige, denen es immer wieder gelingt, aus dem Gefängnis der Orthodoxie auszubrechen.

Der New Yorker Multiinstrumentalist, Komponist und Produzent Elliott Sharp gehört dazu. Er hat mit «Void Coordinates» ein neues Album veröffentlicht, das mit etlichen Konventionen bricht. Mit seiner Gruppe Carbon überführt Sharp die elektrischen Sounds des Rock, die Elektronik des Digitalzeitalters sowie die Dissonanzen des Freejazz und der E-Musik-Avantgarde in ein neues aufregendes Format.

Zentrum des NY-Untergrunds

«Die Klanglichkeit ist auf Extreme ausgerichtet. Abstraktion und Puls bestimmen den Kurs», beschreibt Sharp das Konzept. «Wir spielen keine kurzen Popsongs mit Riffs, sondern ‹Soundscapes› mit Grooves, die sich auf elektronische Tanzmusik wie Jungle oder Techno beziehen. In den Stücken gibt es genug Freiheit für jeden, seinen eigenen Klang einzubringen und die Spielräume für Improvisation zu nutzen, gemäss den verabredeten Strukturen und Vorgaben.»

Sharps Beziehung zur Rockmusik war nie eindimensional. Nach einem Musikstudium, bei dem er ab und zu mit dem Avantgardekomponisten Morton Feldman (1926-1987) über Kreuz geriet – der Professor verwarf Sharps Kompositionen als zu «soziologisch» –, war der Gitarrist, Saxofonist und Klarinettist 1979 nach New York gekommen, wo gerade die Punkrevolte tobte. In kleinen Clubs und alternativen Auftrittsorten war die Hölle los. Sharp tauchte kopfüber in den Untergrund. Es war absolut aufregend. Sein Apartment war ein Loch ohne heisses Wasser und Heizung: Dafür war die Miete billig.

Sharp klinkte sich in verschiedene Bandprojekte ein (unter anderem mit Bill Laswell) und hob 1983 die Gruppe Carbon aus der Taufe, um Hardcore-Rock mit Minimalismus und experimenteller Improvisation zu verbinden. 1983 debütierte die Band bei einem Festival in Soho, wo auch Sonic Youth, die Beastie Boys und Lydia Lunch auftraten. Das war die eine Szene, in der sich Sharp bewegte – die andere war die Clique um John Zorn, die damals mit schrillen Noise-Improvisationen beschäftigt war.

Das spirituelle Zentrum des New Yorker Underground hatte eine Adresse: 315 Bowery. Im CBGB hatte in den siebziger Jahren die Punkbewegung ihren Ausgang genommen und die Ramones, Patti Smith und Television ihre ersten Auftritte absolviert. Die Toiletten dort glichen einer Höhle: dunkel, versifft, die Wände, Decke, Waschbecken und Kloschüsseln dick mit bunter Graffiti besprüht. Ein Blick genügte, und es war klar, welche Musik hier gespielt wurde: Punk, Hardcore, New Wave, Noise – so schrill, laut und roh, wie man es sich nur vorstellen konnte.

Sharp trat regelmässig im CBGB auf. «Die Szene war auf Neues aus. Erkundungen und Innovation wurden grossgeschrieben. Man unterstützte sich gegenseitig und hatte viel Spass», erzählt der Gitarrist. «Wir waren bettelarm, gingen gegenseitig zu unseren Auftritten, schliefen und assen kaum. Es herrschte eine aufgeladene Atmosphäre. Die Leute wollten Musik hören, wie sie sie noch nie zuvor gehört hatten.»

Hörbare Mathematik

Der Sound von Carbon entsprach diesem Bedürfnis. Er war brachial, tonnenschwer, geprägt von monotonen Drumbeats, schwebenden Tonballungen, den exzentrischen Klängen selbst gebauter Geräuschtöner, und wurde mit Wucht herausgeschleudert. Sharp, naturwissenschaftlich gebildet, begann mit mathematischen Reihen zu arbeiten, die er für seine Kompositionen nutzbar machte, indem er unterschiedliche rhythmische Einheiten und harmonische Skalen ineinander verschränkte.

In die Hitparaden gelangte solche Musik nicht. «Um über die Runden zu kommen, machte ich manchmal fünf bis sechs Jobs pro Tag», erinnert sich Sharp. «Am Vormittag spielte ich Musik für eine Tanzklasse, am Nachmittag gab ich Gitarrenunterricht, um danach mit einer weiteren Tanzgruppe zu arbeiten, bevor ich abends in einem Club als Begleiter auftrat. Spätnachts gab ich dann mit meiner eigenen Band ein Konzert, wobei es sein konnte, dass sich danach noch ein Gig in den frühen Morgenstunden anschloss. Ich verdiente zehn bis fünfzehn Dollar pro Engagement, manchmal weniger, manchmal mehr. Aus Not arbeitete ich zusätzlich als Gebäudereiniger, als Packer in einem Buchversand und als Kurier.»

Mit befreundeten MusikerInnen schloss sich Sharp zu einer Kooperative zusammen. Sie nahmen ein leer stehendes Haus der Lower East Side von Manhattan in Beschlag und renovierten das baufällige Gebäude. Die Wohngegend war ein gefährliches Pflaster mit ausgebrannten Häusern und Autowracks. Drogendealer und Gangs trieben hier ihr Unwesen. Sharp bewohnte ein grösseres Zimmer, in dem Gitarren und Gitarrenteile herumlagen. Ein Fahrrad lehnte an der Wand, und mitten im Raum stand eine Badewanne. Er experimentierte zu dieser Zeit mit neuartigen Techniken des Gitarrenspiels, wofür er Instrumente auseinandernahm und neu zusammensetzte.

Ab in die Oper

Ein paar Alben genügten, und Carbon galt als eine der aufregendsten Formationen der experimentellen New Yorker Downtown-Szene. Das reichte aus, um die Band 1986 nach Europa zu bringen, wo sie bei den Taktlos-Festivals in Basel, Bern und Zürich auftrat. Die Verbindung von strukturaler Geometrie, Chaostheorie und minimalistischen Loops bei maximaler Lautstärke stiess auf Resonanz. Sharp entwickelte das Konzept weiter und erweiterte die Gruppe zu einem Orchester mit mehr als einem Dutzend MusikerInnen, von denen allein vier Schlagzeug spielten. Anfang der neunziger Jahre kam es zu einer Kooperation mit dem marokkanischen Musiker Bachir Attar, dem Leiter der Master Musicians of Jajouka.

Danach schien das Konzept ausgereizt. Sharp wandte sich anderen Projekten zu: Er arbeitete mit dem Ensemble Modern und dem Radiosinfonieorchester Frankfurt, schrieb Streichquartette und die Musik für Filme und Tanztheaterproduktionen. Als Produzent holte er den Gitarristen Hubert Sumlin, einst Hausgitarrist der Blueslegende Howlin' Wolf, in seine neue Gruppe Terraplane. Zurzeit entwirft er an der Bayerischen Staatsoper eine experimentelle Oper, in der Teenager aus Münchner Schulen die HauptakteurInnen sind.

Nach fünfzehn Jahren Auszeit schien für Sharp die Zeit reif, mit Carbon einen neuen Anlauf zu wagen. Ob Electronics, Samples oder Laptopsounds: Viel Neues war inzwischen passiert, das in das Konzept der Band integriert sein wollte. Eine Herausforderung, die Sharp gerne annahm. Als Avantgardist weiss er: Stillstand ist Rückschritt.

Elliott Sharp Carbon: «Void Coordinates». Intakt/Phonag.

Elliott Sharp Carbon in: Zürich Rote Fabrik, So, 28. März, 19 Uhr.