German Sadulajew: «Ich bin Tschetschene»

Nr. 14 –


Würden Sie eine Streubombe auf einen Gebrauchtwagenmarkt werfen? Oder eine Boden-Boden-Rakete auf einen Dorfplatz schiessen? Wahrscheinlich schon allein deshalb nicht, weil Sie weder Bomber noch U-Boote besitzen. Aber wer hat dann das tschetschenische Schali angegriffen? Schwer zu sagen. Als der Tschetschene German Sadulajew seine schwer verletzte Schwester zur Behandlung nach St. Petersburg bringen will und sie in Moskau umsteigen müssen, werden sie zum russischen Inlandsgeheimdienst zitiert. «Wir führen keinen Krieg gegen die Zivilbevölkerung», erklären ihm die Bürokraten. Verletzte müssen also notwendigerweise «Terroristen» sein.

Erst als Sadulajew mit Tschetschenien-Klischees kommt («dann jage ich euer ganzes Drecks-Moskau in die Luft»), wird ihnen der Weiterflug genehmigt. Als sie, in St. Petersburg angekommen, im Radio hören, dass das Panzerregiment von Schali vernichtet worden sei, sind sie vollends verwirrt – der einzige Panzer, den sie dort während ihrer Jugend sahen, war ein Weltkriegsdenkmal auf einem Betonsockel.

Der Roman «Ich bin Tschetschene» geht weniger der Frage nach, wer Schuld an was ist. Den Autor interessiert, was es heute für ihn bedeutet, Tschetschene zu sein. Wichtig sind ihm die tschetschenische Geschichte, die nordkaukasische Landschaft, die Clans, der Verhaltenskodex – und die Tiere: Milchkühe, die von selbst in die Ställe zurückkehren, Schwalben, von denen alle hoffen, dass sie im Frühjahr unter ihrem Dach nisten. Dass die Kühe bereits in den letzten Jahren der Sowjetunion beim vom Agrarindustriekomplex befohlenen «hochintensiven Pestizideinsatz» vergiftet wurden und Schwalben ihre Nester nicht mehr an implodierten Häusern bauen, verdeutlicht den Verlust der «wahren» tschetschenischen Identität. Aus dieser «Sicht von unten» wird ohnehin klar, dass es immer staatliche Interessen waren, die für die tschetschenische Tragödie verantwortlich sind.

German Sadulajew: Ich bin Tschetschene. Aus dem Russischen von Franziska Zweig. Meridiane 136 im Ammann Verlag. Zürich 2010. 160 Seiten. Fr. 31.50