Südafrika: Erst schiessen, dann fragen?

Nr. 19 –

Mit Blick auf die Fussballweltmeisterschaft im Juni verschärft das Gastland seit Jahren die Massnahmen zur Verbrechensbekämpfung. Wird Südafrika zum Überwachungsstaat?


Wenn man Dan Plato, den wortgewandten Bürgermeister von Kapstadt, fragt, ob er ein Freund von Big-Brother-Methoden sei, sagt er: «Big Brother, ich mag diesen Ausdruck» – vielleicht, weil er die durchaus kritisch gemeinte Frage nicht als solche aufgefasst hat.

Und es gab viel Kritik im Vorfeld der Fussballweltmeisterschaft in Südafrika, die im Juni beginnt: Die Stadien würden nicht fertig, hiess es, die Zufahrtsstrassen auch nicht und die Tickets nicht verkauft. Weite Teile der Kritik sind bereits widerlegt. Und Plato, zu dessen Job es gehört, vor einem Grossereignis «extrem sehr optimistisch» zu sein, wie er es nennt, steht nun auf der Rundbahn des neuen Stadions von Kapstadt und sagt: «Wir werden die ganze Welt überraschen.»

Nicht während der WM

Ebenfalls optimistisch zeigt sich Kapstadts Bürgermeister im Gespräch mit der WOZ, wenn es um die Sicherheit geht. «Wir haben zusätzlich 223 Überwachungskameras in der Innenstadt aufgestellt», sagt Plato. Zusätzlich zu den vielen anderen, die seit Ende der neunziger Jahre nach und nach installiert wurden. «Wir werden die Sicherheitsstufe erhöhen und das Polizeiaufgebot vergrössern.» Seine Botschaft: Es gibt kein Kriminalitätsproblem in Südafrika, jedenfalls nicht während der WM, nicht in seiner Stadt.

Plato ist Mitglied der liberalen Oppositionspartei Democratic Alliance (DA), der zweitstärksten Partei im Parlament. In der südwestlichen Kapregion ist sie sogar stärker als die Regierungspartei des African National Congress (ANC). Kapstadt weist eine deutlich niedrigere Kriminalitätsrate auf als etwa Johannesburg. Doch Platos harte Linie wird auch hier von der Bevölkerung akzeptiert.

Je näher die WM rückt, desto sensibler reagieren die Medien im In- und Ausland auf jeden neuen Einzelfall. So im April, als Eugène Terre’Blanche, der Gründer und Anführer der rechtsextremen Burenbewegung Afrikaner Weerstandsbeweging (AWB), von zwei Schwarzen ermordet wurde, die auf seiner Farm arbeiteten. Im Nachgang tauchten viele Fragen auf: Ob der Mord ein Vorbote neuer gewalttätiger ethnischer Unruhen sei, worauf Drohungen der gewaltbereiten AWB zu deuten schienen. Ob dadurch vielleicht sogar Südafrikas Zukunft bedroht sei. Auch wenn sich inzwischen herausgestellt hat, dass der Mord an Terre’Blanche kein politisches Motiv hatte, liess die Tat das multikulturelle Nebeneinander, das in Südafrika angestrebt wird, fragil erscheinen.

Tornados im Winter

Die harte Sicherheitspolitik in Südafrika muss vor dem Hintergrund der extremen sozialen Ungleichheit betrachtet werden. Regierung wie Oppositionsparteien sind dabei auf der gleichen Linie. So sagt Helen Zille, Gouverneurin der Kapregion und Vorsitzende der DA: «Wir sind eine sehr sicherheitsbewusste Gesellschaft.» Der ANC sieht das genauso.

Entsprechend rüstet Südafrika vor der WM weiter auf. 1,3 Milliarden Rand, umgerechnet rund 190 Millionen Franken, steckte die Regierung in neue Hubschrauber, Ausrüstung und zusätzliche Einsatzkräfte. Die Zahl der PolizistInnen stieg in den letzten zehn Jahren von 120 000 auf 193 000.

Vishnu Naidoo, der Sprecher der für die Sicherheit während der WM zuständigen Polizei, ergänzt: Hooligans dürften nicht einreisen; «potenzielle Problempersonen» würden von den Ländern, deren Mannschaften an der WM teilnehmen, bereits an der Ausreise gehindert. Und mit der Polizei der Nachbarstaaten sei vereinbart, gemeinsam gegen illegale Grenzübertritte vorzugehen. «Wir sind für wirklich alles gerüstet», sagt Naidoo. «Für Flugzeugentführungen, grosse Verkehrsunfälle und auch für Terroranschläge.» Es gebe sogar Evakuierungspläne für den Fall, dass – mitten im südafrikanischen Winter – ein Tornado aufzöge. «Tornados sind ein Sommerphänomen», heisst es beim südafrikanischen Wetterdienst. Aber sicher ist sicher.

Vorbild Deutschland

Die Bestrebungen der Regierung scheinen gut anzukommen – jedenfalls bei manchen Fachleuten. So schreibt Johan Burger, Spezialist für Verbrechen und Strafjustiz am Institut für Sicherheitsstudien ISS, einem unabhängigen Thinktank in Pretoria: «Es gibt wenig Zweifel, dass trotz der relativ hohen Kriminalitätsrate der Staat den Willen und die Möglichkeiten hat, ein hohes Mass an Sicherheit für die WM zu gewährleisten.»

Das sei doch klar, sagt Danny Jordaan, der dem Fussballweltverband Fifa unterstellte nationale Organisationschef der WM: «Wir tun alles dafür, dass kein Tourist zu Schaden kommt.» Tourismus sei wichtig für die Wirtschaft. «Wir würden uns ja selber schaden, wenn etwas passiert.»

Neben der Stärkung des Tourismus soll die WM auch das Image Südafrikas verbessern – so, wie die WM 2006 das Image Deutschlands verändert hat, wie Gouverneurin Zille glaubt. «Die Deutschen galten zuvor als humorlos und unfähig zu lachen. Und sie haben das Gegenteil bewiesen», sagt Zille. «So etwas wollen wir auch. Wir wollen, dass die Leute hierherkommen, eine moderne und multikulturelle Gesellschaft sehen und feststellen: Das ist ein zuverlässiges, sauberes und sicheres Land.»

Doch ganz so einfach ist es nicht. Gilt eine Gesellschaft als verbissen, so kann sie eine grosse Party veranstalten und auf gutes Wetter hoffen. Gilt eine Gesellschaft aber als gefährlich, so muss sie, um diese Wahrnehmung zu verändern, Sicherheit spürbar machen.

Dieses Verständnis zeigt sich nicht nur an den Überwachungskameras in Stadtzentren oder der verstärkten Präsenz von Polizeipatrouillen, sondern auch in Zilles Unterstützung der Politik der «Null Toleranz gegenüber jeder Form von Verbrechen». Diese Politik gilt in Südafrika seit 1998, die Gesetze dafür werden ständig angepasst. So unterstützten vergangenen September PolitikerInnen den Vorschlag des kurz zuvor eingesetzten Polizeichefs Bheki Cele, nach dem PolizistInnen mit dem Recht auf «shoot to kill» (Schiessen, um zu töten) ausgestattet werden sollten. Bisher durfte die südafrikanische Polizei nur schiessen, wenn sie selbst oder Umstehende bedroht waren. Obwohl ein entsprechendes Gesetz noch nicht verabschiedet ist, sei es gemäss Präsident Jacob Zuma bereits eine Handlungsanweisung für die Polizei.

Auch ein Werbefilm der Fifa für die WM kommt nicht ohne Bekenntnis zur harten Linie aus. Er zeigt feiernde Menschen, tolle Stadien und grossartige Landschaften. Und plötzlich, Schnitt, ein Sondereinsatzkommando, wie es schwer bewaffnet ein augenscheinlich entführtes Flugzeug umkreist.

Die Gunst der Stunde

Was nach aussen hin als Zeichen guter Organisation und einer professionell ausgerichteten WM verkauft werden kann, ist allerdings mehr als das.

Die Forderung nach mehr Sicherheit gibt es in Südafrika seit Jahren, und sie hatte bereits starke Auswirkungen auf die Innenpolitik. Dass nun wegen der WM die ganze Welt auf Südafrika schaut, hat diese Entwicklung noch verschärft. Die Regierung will die Gelegenheit nutzen und das Image Südafrikas als Land der Kriminalität und der Gewalt versuchen zu ändern – mit allen Mitteln.

«Es gibt Anzeichen dafür, dass Südafrika auf dem Weg ist, ein Sicherheitsstaat zu werden», sagt Johan Burger vom ISS in Pretoria. Die «Null-Toleranz-Politik» sei dafür bezeichnend. Dennoch findet eine öffentliche Diskussion darüber, wie weit Massnahmen für mehr Sicherheit gehen dürfen, im Land kaum statt.

Stattdessen wird breit diskutiert, ob die Regierung auch tatsächlich in der Lage sei, die Kriminalität einzudämmen. In den südafrikanischen Medien dominieren Berichte über Gewaltverbrechen und Gerichtsverhandlungen; Vergewaltigungsopfer werden interviewt, Entführungsgeschichten über Wochen prominent verfolgt. Immer wieder werfen die Medien und die Oppositionsparteien der Regierung vor, die Kriminalitätsstatistiken zu manipulieren. «In der Kap-Provinz haben zwei Polizeichefs versucht, die Zahlen zu schönen», sagt Tony Weaver von der Tageszeitung «Cape Times». «Statt Verbrechen aufzuklären, haben sie sie versteckt.»

Nationale Paranoia

Der Fokus der Medien auf spektakuläre Einzelfälle begünstige eine «Inflation der Angst», schrieb das Forscherehepaar Jean und John Comaroff bereits 2006 in einer kriminalethnologischen Studie. Als Folge werde in der Öffentlichkeit der Eindruck gefestigt, überall dominiere die Kriminalität – und dies führe wiederum zum Ruf nach noch mehr Polizei und immer schärferen Sicherheitsmassnahmen. Eine Entwicklung, die auch von internationalen BeobachterInnen und Organisationen wie Amnesty International mit Besorgnis verfolgt wird.

Dies sei umso schlimmer, als in Südafrika die Verbrechensrate seit Jahren fällt; darin sind sich Jean und John Comaroff und Johan Burger einig. «Natürlich hat Südafrika ein Kriminalitätsproblem», sagt Burger, doch im internationalen Vergleich sei es wesentlich weniger schlimm als von ausländischen Medien dargestellt. Man müsse differenzieren, sagt er und präsentiert Zahlen und Statistiken für das ganze Land.

Die Kriminalität sei regional sehr unterschiedlich, erläutert Burger. Ausserdem veränderten sich die Formen und Ziele. So nähmen seit einigen Jahren Plünderungen von Bankautomaten sowie Raubüberfälle zu. Diese wiederum konzentrierten sich stark auf die Geschäftszentren um Johannesburg und Pretoria, liefen aber deutlich seltener als früher gewalttätig ab. Auch die Zahl der Morde fiel seit 1995 um beinahe die Hälfte – auf die allerdings noch immer hohe Zahl von jährlich 37 pro 100 000 EinwohnerInnen. Hinzu komme, dass etwa achtzig Prozent der Gewaltverbrechen im Familien- und Bekanntenkreis geschehen, und dies wiederum hauptsächlich in den Townships, wo Armut und Arbeitslosigkeit am höchsten sind.

Dort jedoch, sagt eine Politikwissenschaftlerin vom Institut für Demokratie in Afrika in Kapstadt, die nicht namentlich zitiert werden will, sei die Überwachung eher gering. «Warum müssen eigentlich nur die Geschäftsleute beschützt werden? Warum gibt es solche Kameras nicht auch in den Townships?»

Erfolgreich gegen Fifa und Bauunternehmen

«Zeigen Sie Sepp Blatter die Gelbe Karte – keine Ausbeutung bei der Fussball-WM.» Mit diesem Slogan wirbt das Schweizerische Arbeiterhilfswerk SAH für eine Kampagne, die 2007 lanciert wurde. Ziel der Kampagne ist es, dass der Weltfussballverband Fifa und dessen Präsident Sepp Blatter ihre soziale Verantwortung als Organisatoren der Fussballweltmeisterschaft wahrnehmen, die im Juni in Südafrika stattfindet.

Es seien hohe Ziele gewesen, die sie sich zusammen mit der Schweizer Gewerkschaft Unia gesetzt haben, sagt Joachim Merz, Kampagnenleiter des SAH im Gespräch mit der WOZ. So wollte die Kampagne auf den WM-Baustellen die Arbeitsbedingungen und die Arbeitssicherheit verbessern, die Gewerkschaften durch Mitgliederrekrutierung nachhaltig stärken und Weiterbildungsmöglichkeiten für die Beschäftigten schaffen.

Keine leichte Aufgabe: Die südafrikanische Regierung zeigte wenig Interesse an den sozialen Missständen auf den Baustellen – auch weil sie von Anfang an unter grossem Zeitdruck stand, den Neubau und die Renovation von zehn Stadien fertigzustellen. Ähnliches galt für die Bau- und Subunternehmen, bei denen es um millionenschwere Aufträge ging, und die wenig kooperative Fifa.

«Es hat einige Zeit gedauert, bis die Kampagne in Südafrika in Gang gekommen ist», sagt Merz. Dennoch zieht das SAH nach dreieinhalb Jahren eine positive Bilanz. Das auslösende Element waren aber nicht konzertierte Streiks von Gewerkschaften, sondern spontane Arbeitsniederlegungen der Kapstadter ArbeiterInnen im Sommer 2007, weil sie keine Transportentschädigung erhielten. «Der Lohn lag damals für einen ungelernten Arbeiter bei knapp 2000 Rand im Monat, das entsprach etwa 320 Franken», erklärt Merz. Die Transportkosten hätten bis zu einem Drittel des Lohns weggefressen. Nach dem zweiten Streik hatten die Beschäftigten ihre Forderung durchgesetzt.

Die Gewerkschaften initiierten diesen Streik zwar nicht, aber ihre Vertrauensleute auf den Baustellen waren in den Streikkomitees dabei. «Sie haben es verstanden, die Forderungen zu kanalisieren», sagt Merz. Inzwischen sind die Gewerkschaften erstarkt und haben über 25 000 Neumitglieder gewonnen. In den letzten drei Jahren gab es 26 Streiks auf den WM-Baustellen, einen davon auf nationaler Ebene.

Den Erfolg führt Merz auf drei Faktoren zurück: So sei durch die Streiks, hartnäckiges Lobbyieren und eine aggressive Medienarbeit konstant der Druck auf die Fifa, die südafrikanische Regierung und die Bauunternehmen aufrechterhalten worden. Inzwischen müssen sich auch die Subunternehmen auf den Baustellen an die gesetzlichen Bestimmungen halten; der Mindestlohn beträgt heute 3000 Rand (rund 440 Franken), auch wenn dies noch immer unter einem existenzsichernden Lohn liegt; und die Fifa hat schriftlich zugestanden, dass sie sich für faire Arbeitsbedingungen einsetzt. Doch auch so profitiert vor allem die Fifa von der WM. «Bereits jetzt hat sie einen deklarierten Gewinn von über zwei Milliarden US-Dollar», meint Merz. «Mehr als je zuvor. Dennoch zieht die Fifa immer wieder gemachte Zusagen zurück.»

Auch deshalb wird die Kampagne fortgesetzt. Nächste Woche übergeben die südafrikanischen Gewerkschaften den Stab an eine brasilianische Delegation für die WM 2014.

Von Sonja Wenger