Verwahrung: Gelächter im Todesknast

Nr. 19 –

Wie Waadtländer Beamte über einen sterbenden Insassen lachten und wieso dieser jahrelang in Isolationshaft sass, ohne je ein schweres Delikt begangen zu haben.


Der Skandal trägt den Namen des Opfers: Skander Vogt. Seit Wochen beschäftigt er die Westschweizer Medien und sorgte sogar in Frankreich für Aufsehen. Diesseits des Röstigrabens wurde er hingegen nur vereinzelt aufgegriffen.

Skander Vogt starb am frühen Morgen des 11. März in seiner Zelle im Hochsicherheitstrakt eines Waadtländer Gefängnisses an einer Rauchvergiftung. Wärter hatten ihn dort im Rauch liegen lassen, nachdem er seine Matratze aus Wut angezündet hatte. Doch die tragische Geschichte des Toten beginnt viel früher: Vogt litt unter einer Persönlichkeitsstörung. Statt Hilfe zu bekommen, sass er während insgesamt zwölf Jahren im Gefängnis.

Isolation in Bochuz

Skander Vogt ist der Sohn einer Tunesierin und eines Schweizers. Seine Mutter stirbt, als er dreijährig ist, der Vater macht sich aus dem Staub. Als 14-Jähriger kommt er mit seiner Schwester nach Lausanne, lebt bei Pflegefamilien und in Heimen.

2001 wird Vogt zu zwanzig Monaten Gefängnis verurteilt. Er hat keine schweren Verbrechen begangen, dafür mehrere Delikte: Diebstähle, Sachbeschädigungen, Drohungen und einfache Körperverletzungen. Die Strafe wird ausgesetzt, stattdessen wird er verwahrt. Das Strafgesetz erlaubt es den Gerichten, Menschen, die als gefährlich eingestuft werden, für eine unbestimmte Dauer einzusperren. Die eigentliche Idee dahinter: ihnen helfen, statt sie zu bestrafen; und die Bevölkerung vor ihnen zu schützen. In der Praxis kann das heissen: Ein Mensch wird für Verbrechen bestraft, die er noch gar nicht begangen hat.

Statt zwanzig Monate bleibt Skander zehn Jahre im Gefängnis – also bis zu seinem Tod. 21 Gefängnisse lernt er von innen kennen. Sein Verhalten gegenüber dem Aufsichtspersonal wird als zunehmend aggressiv beschrieben. Mitunter soll er massive Drohungen ausgestossen haben. Dafür bestraft wird er, indem man ihn vermehrt in den Hochsicherheitstrakt verlegt. Nach 2005 wird er die Hochsicherheitstrakte nie mehr verlassen. Im Gefängnis von Bochuz im Kanton Waadt – sozusagen seinem Stammknast – bedeutet das für Skander Vogt praktisch die Isolation.

Briefe aus dem Gefängnis

23 Stunden am Tag sitzt er in seiner knapp zehn Quadratmeter grossen Zelle. In der verbleibenden Stunde duscht er und darf auf einer Art Dachterrasse spazieren – an Armen und Beinen gefesselt und ohne Kontakt zu Mithäftlingen. BesucherInnen empfängt er hinter einer Schutzscheibe. An eine Besserung seiner psychischen Lage ist unter diesen Umständen nicht zu denken.

Im Sommer 2008 gelingt es Skander Vogt, auf das Dach des Hochsicherheitstraktes von Bochuz zu klettern. Er droht, sich in die Tiefe zu stürzen. Mitgefangene solidarisieren sich. Dreissig Stunden dauert die Nervenprobe, dann greift eine Spezialeinheit der Polizei ein, holt ihn vom Dach. Skander wird in den Hochsicherheitstrakt von Lenzburg verlegt, wo er immerhin zwei Tage pro Woche arbeiten könne und wo auch die Wärter anständig seien, wie er die Presse wissen lässt. Doch er wird zurück nach Bochuz verlegt.

Vogt schreibt dem «Matin Dimanche» mehrere lange Briefe, berichtet aus dem Gefängnisalltag. Ab und zu telefoniert er mit der Redaktion. Am Telefon rede er mit «netter Stimme» und wirke «weder verrückt noch gefährlich», ist einem Artikel vom Frühling 2009 zu entnehmen. Seine Schwester sagt nach Vogts Tod: «Mir gegenüber war er sanft, aufmerksam und liebevoll.»

«Das geschieht ihm recht»

In der Nacht auf den 11. März dieses Jahres zündet Vogt nach einem Streit mit Wärtern die Matratze in seiner Zelle an. Der Brand wird um 1 Uhr morgens bemerkt. Durchs Gitter löschen Wärter die Flammen. Vogt bleibt im Rauch zurück. Erst neunzig Minuten später holt man ihn tot aus der Zelle.

Noch am selben Tag gibt der zuständige Regierungsrat Philippe Leuba (FDP) der Presse Auskunft: «Ich habe keinerlei Hinweise darauf, dass die Gefängniswärter versagt hätten oder dass irgendwelche Fehler begangen wurden.» Die Justizbehörden sprechen von einem «extrem gefährlichen, fast hundert Kilo schweren Mann», den man aus Sicherheitsgründen nicht aus seiner Zelle habe holen können. Stattdessen habe man auf das Eintreffen einer Spezialeinheit der Polizei warten müssen. Die Einheit habe sich mitten in der Nacht zuerst formieren und anreisen müssen.

An der Darstellung der Behörden bestehen von Anfang an Zweifel. Dann gelangt «Le Matin» in den Besitz von Telefonmitschnitten aus jener Nacht und ist in der Lage, den genauen Ablauf der Ereignisse nachzuzeichnen:

Bis die Wärter überhaupt die Alarmzentrale der Polizei alarmierten, dauerte es demnach vierzig Minuten. Kurz nach zwei Uhr stellten die Wärter fest, dass Vogt bewusstlos war. Erst eine halbe Stunde später betraten sie den Raum. Da war Vogt bereits tot und die Spezialeinheit noch nicht einmal eingetroffen.

Der Wortlaut der später in Auszügen von einem französischen Radiosender ausgestrahlten Gespräche zeigt die Verachtung, die die beteiligten Beamten für Skander Vogt übrig hatten: «Seit fünfzig Minuten atmet er Rauch ein, er könnte sterben», sagt etwa ein Wärter zu einem Polizisten. Dieser antwortet: «Das geschieht ihm recht.»

Später, als Vogt bewusstlos am Boden liegt, informiert die Zentrale einen Polizisten über die Lage. «Wir dürfen nicht lachen», sagt der eine Mann. Dann beginnen beide zu lachen.

Nach der Enthüllung musste sich der Polizeikommandant für die Wortwahl seiner Untergebenen entschuldigen («unglücklich», «bedauerlich», «unangemessen»). Derzeit untersucht ein ehemaliger Bundesrichter die Vorfälle, die zum Tod von Skander Vogt geführt haben.

Freilich kommt diese Untersuchung zu spät. Bereits 1991 besuchte das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter (CPT) das Gefängnis von Bochuz und machte ein «grosses Risiko für unmenschliche und erniedrigende Behandlung» aus, wie «Le Temps» berichtet. 2008 hat sich das CPT nach einem Besuch verschiedener Schweizer Gefängnisse «zutiefst beunruhigt» darüber gezeigt, dass einige Häftlinge sich seit Jahren in Isolationshaft befänden.



«So verschlimmert sich der Zustand der Verwahrten»

WOZ: Jean-Pierre Restellini, Sie sind Gefängnisexperte und Arzt. Was sind das für Menschen, die wie Skander Vogt auf unbestimmte Zeit im Gefängnis sitzen? Sind das Leute mit Psychosen? Schizophrene?

Jean-Pierre Restellini: Nein. Es handelt sich meist nicht um Personen im Delirium, nicht um Menschen, die glauben, Napoleon oder Ausserirdische zu sein. Vielmehr sind es häufig Leute mit schwierigem Charakter, man spricht von dissozialer Persönlichkeitsstörung. Sie haben enorme Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Menschen.

Wie wird man dissozial?

Durch Umwelteinflüsse, meistens eine sehr schädliche familiäre Umgebung, Verwahrlosung.

Dann steckt man sie ins Gefängnis, damit sie dort weiter verwahrlosen?

Ja, das könnte man so sagen. Ich halte es für vollkommen ungerecht, diese Menschen für etwas zu bestrafen, wofür sie nichts können.

Besteht denn eine reelle Chance, dass sich der Zustand solcher Menschen während eines Gefängnisaufenthalts verbessert?

In einem normalen Gefängnis, das sich auf den Freiheitsentzug beschränkt, muss ich kategorisch sagen: Nein. Man verschlimmert ihren Zustand sogar noch.

Das heisst, sie haben eigentlich keine Chance, je wieder entlassen zu werden.

Dieses Risiko besteht. Wenn man die Massnahme an Orten durchführt, die dafür gar nicht geeignet sind, wird man das Gegenteil dessen erreichen, was der Gesetzgeber beabsichtigt hat. Ursprünglich wollte man nämlich erreichen, dass solche Leute nicht bestraft werden, sondern dass ihnen geholfen wird.

Was ist schiefgelaufen?

Man hat kein Geld investiert, keine genügende Infrastruktur geschaffen. Die Gefängnisse bleiben überbelegt. Dem Personal ist es nicht möglich, sich um solche Personen zu kümmern.

Welche Betreuung wäre wünschenswert?

Man muss mit den Patienten an ihrer Resozialisierung hart arbeiten können. Dies sind keine Menschen, denen man mit Psychoanalyse oder mit Medikamenten helfen kann. Sie müssen langsam lernen, wie man normale soziale Beziehungen herstellt. Dafür braucht es keine Psychiater, die in weissen Kitteln herumrennen, und auch keine Gefängniswärter. Es braucht gut geschulte, gut beratene und gut beaufsichtigte soziotherapeutische Lehrer.

Aber es gibt doch Täter, die so gefährlich sind, dass sie eingesperrt sein müssen.

Leider gibt es einige solcher Fälle. Das heisst aber nicht, dass man sie bestrafen muss. Man muss ihnen helfen.

Im Waadtländer Gefängnis Bochuz wurde Skander Vogt zur Bestrafung in den Hochsicherheitstrakt gesperrt und isoliert.

Das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter CPT hat Bochuz schon vor Jahren besucht und unter anderem genau diesen Punkt gerügt. Man darf Menschen wie Skander Vogt sicher nicht in Isolationshaft stecken.

Die Behörden haben die Empfehlungen des Komitees nicht ernst genommen?

Das weiss ich nicht. Klar ist: Unternommen wurde nichts.

Die Behörden vertrösten auf später und sagen, neue Bauten seien geplant und würden in den nächsten Jahren erstellt. Was kann man bis dahin tun?

Tatsächlich ist geeignete Infrastruktur die einzige Lösung, um dem Problem längerfristig zu begegnen. Für den Moment bleiben Feuerwehrübungen. Das heisst: Keine Isolationshaft, keine Zellen in Hochsicherheitstrakts und ein Maximum dessen, was man ihnen unter den gegebenen Umständen an soziotherapeutischer Aufmerksamkeit schenken kann.

Jean-Pierre Restellini ist Präsident der Schweizerischen Kommission zur Verhütung von Folter. Die unabhängige Organisation hat Anfang Jahr ihre Arbeit aufgenommen, dem Bund ist sie nur administrativ zugeordnet. Der Jurist und Arzt Restellini ist zudem Mitglied des europäischen Anti-Folter-Komitees CPT.



Isolationshaft

Zum Thema Isolationshaft trafen sich 2007 in Istanbul Expertinnen aus psychiatrischer Praxis und Forschung sowie Folter- und Menschenrechtsexperten und verfassten die «Istanbuler Erklärung». Diese definiert Isolationshaft als «physische Isolierung von Personen, die in ihren Zellen während 22 bis 24 Stunden eingesperrt sind».

Isolationshaft könne zu schweren psychischen und manchmal auch physischen Krankheiten führen. So hätten Untersuchungen ergeben, dass bis zu neunzig Prozent der derart Gefangenen gesundheitliche Probleme beklagten: «Eine lange Symptomliste von Schlaflosigkeit und Verwirrung bis hin zu Halluzinationen und Psychosen.» Die «Istanbuler Erklärung» fordert unter anderem, dass Isolationshaft für psychisch Kranke «absolut» zu verbieten sei.

Was weiter geschah: Nachtrag vom 19. April 2012

Skander Vogt

Das Bundesgericht hat einen Rekurs von Skander Vogts Schwester gutgeheissen. Die Umstände, unter denen der dreissigjährige Häftling Vogt in der Nacht vom 10. auf den 11. März 2010 in der Zelle an Brandgasen erstickte, müssen gerichtlich beurteilt werden. Zahlreiche Fragen seien unbeantwortet, befinden die Bundesrichter. Es sei zurzeit unmöglich, zu beurteilen, ob sich die angeklagten Gefängnisbeamten schuldig gemacht hätten. Deshalb könnten die Untersuchungen nicht eingestellt werden, wie dies die Waadtländer Justiz getan habe.

Der Entscheid bedeutet, dass es zum Prozess gegen die diensthabende Direktorin von Bochuz, einen Gefängniswärter und vier Sanitätsleute kommen wird; die Untersuchung wird möglicherweise auch auf drei weitere Wärter ausgedehnt. Der Prozess soll Antwort auf die Frage geben, was in der Nacht geschah, als Skander Vogt seine Matratze in Brand steckte.

Skander Vogt sass nicht als Strafgefangener in der Zelle, sondern als administrativ Verwahrter. Nach seinem Tod zeigte ein Bericht des ehemaligen Bundesgerichtspräsidenten Claude Rouiller auf, wie Vogt, ein turbulenter Jugendlicher, durch Justiz und Strafvollzug zum sogenannt «gefährlichen» Insassen eines Hochsicherheitstrakts gemacht wurde. Aufgrund der Instruktionen über gefährliche Insassen liess ihn das Personal während neunzig Minuten in der Zelle in seinem Todeskampf, bis es sich entschloss, die Türe zu öffnen. Die Wärter hätten sich «wie Roboter hinter der Direktive verschanzt», stellte Rouiller fest.
Helen Brügger