Schule im Umbruch: Eine Schule leitet man nicht im Nebenamt

Nr. 20 –

Seit 2008 verlangt das Volksschulgesetz professionelle Schulleitungen. Die Schulen haben nun plötzlich Chefs oder Chefinnen – eine Umstellung, die sinnvoll ist, aber auch schmerzlich sein kann.


«Ich mache meine Arbeit als Schulleiterin sehr gern. Sie ist vielseitig und spannend», sagt die Schulleiterin des Zürcher Schulhauses Allenmoos. Trotzdem hat sie auf den Sommer gekündigt. Die Arbeitsbelastung habe so zugenommen, dass sie kaum noch Zeit finde, sich um die Qualität der Schule oder um die Lehrpersonen in ihrem Team zu kümmern. Das offene Statement im kurzen Film auf der Website www.schule-im-sinkflug.ch (vgl. "Schule im Sinkflug") endet mit der Forderung: «Unsere Schule braucht eine Sekretärin.»

In jedem Betrieb hilft dem Chef oder der Chefin jemand beim Schreibkram – an der Volksschule gibt es so etwas nicht. Das hat viel mit der Geschichte der Zürcher Volksschule zu tun. Im 19. Jahrhundert wurde das Unterrichtswesen der staatlichen Aufsicht unterstellt, Arbeitgeberin des Lehrpersonals war – und ist auch noch heute – die politisch gewählte Schulpflege. Die LehrerInnen hatten zu unterrichten, organisatorische Aufgaben oblagen dem Hausvorstand. Doch der war Gleicher unter Gleichen und hatte weder Führungsaufgaben noch Weisungsbefugnis – von Innovationen wie Personalentwicklung, Managementkompetenzen, Projektplanung und Finanzcontrolling ganz zu schweigen.

Das ist jetzt anders: Vor fünf Jahren haben die Zürcher Stimmenden deutlich dem Volksschulgesetz und damit der Einführung professioneller Schulleitungen zugestimmt. Seit zwei Jahren hat jedes Schulhaus eine solche Leitung. «Es war ein Paradigmenwechsel», sagt Peter Gerber, Präsident des Verbands der Schulleiterinnen und Schulleiter des Kantons Zürich und Schulleiter in Bülach. «175 Jahre war die Volksschule nicht geleitet, sondern verwaltet. Jetzt kommen da so komische Schulleiter – die waren am Anfang in der Lehrerschaft nicht überall gern gesehen, aber das hat sich fast gelegt.»

Was ist denn genau der Unterschied zwischen Schulhausvorstand und Schulleitung? «Nach heutigem Verständnis ist die Schulleitung nicht mehr gleichgestellt mit den Kolleginnen und Kollegen. Sie hat einen neuen Auftrag, sie ist Vorgesetzte», sagt Verena Ulrich, Bereichsleiterin im Departement Beratung und Schulentwicklung an der Pädagogischen Hochschule Zürich (PHZH).

Auf der Website der PHZH liest sich das Anforderungsprofil so: «Erfolgreiche Schulleitungspersonen verstehen sich als Pädagoginnen und Pädagogen, Manager und Leader. Sie professionalisieren sich über geeignete Führungsaus- und -weiterbildungen, betreiben Networking, nutzen Unterstützungsangebote sowie die Selbstreflexion als ständige Triebfeder zur Verbesserung.»

Doch für viele angehende SchulleiterInnen war anfänglich nicht vorstellbar, dass sie jetzt Personalführung machen müssen. Und mindestens ebenso viele Lehrerinnen und Lehrer konnten sich nicht vorstellen, plötzlich einen Chef oder eine Chefin zu haben.

Deshalb ging dem Obligatorium eine lange Versuchsphase voraus, in der viele Schulhäuser Erfahrungen mit der neuen Leitungsstruktur sammeln konnten. «Es gibt Pionierschulen, die seit vielen Jahren geleitet sind und sehr gut funktionieren», sagt Verena Ulrich. Peter Gerber leitet eine dieser Schulen. «Die Schule ist ein komplexes Gebilde, das ist nicht führbar von einem Laiengremium, am Abend zwischen acht und neun», sagt er und meint damit – ohne jegliche Abwertung – die Schulpflege als politisch gewählte Behörde. «Genauso wie ich nicht weiss, wie man metzget, kann ein Metzger nicht eine Schule mit fünfhundert Kindern führen.»

Über das zitierte ambitionierte Berufsprofil muss Alois Suter, Leiter des Departements Weiterbildung an der PHZH, schmunzeln, bevor er erläutert, was angehende Schulleitungspersonen mitbringen müssen: Ein Lehrdiplom und mindestens drei Jahre Unterrichtspraxis. Die berufsbegleitende Weiterbildung dauert übers Jahr verteilt zwanzig Tage (plus Selbststudium und Verfassen einer Arbeit), nennt sich «Führen einer Bildungsinstitution» und endet mit dem Certificate of Advanced Studies (CAS), wie es in der Bologna-Terminologie heisst. Versteckt sich dahinter bloss die aktuelle Tendenz, Bildung zu verschulen und ökonomischen Zielen unterzuordnen? Peter Gerber verneint: «Die durchschnittliche Schule hat zwischen dreissig und hundert Angestellte, ein Budget von mehreren Millionen, Hunderte Schülerinnen und Schüler – die leitet man nicht im Nebenamt.»

Aber gerade weil die Volksschule kein üblicher Dienstleistungsbetrieb ist, unterscheidet Alois Suter zwischen dem Leiten eines KMU und einer pädagogischen Institution: Ein wichtiger Teil der Ausbildung besteht darin, sich mit der neuen Rolle vertraut zu machen. «Die Rolle der geführten Leute kennt man gut, man selbst kommt aber in eine neue Rolle», sagt er: «Wie gehe ich zum Beispiel mit dem ehemaligen Kollegen um, wenn ich was will? Plötzlich ist er mein Vorgesetzter, der Mitarbeitergespräche führt.»

Der Rollenwechsel ist nicht einfach. «Es funktioniert immer dann, wenn sich eine Schulleitung bewusst ist, dass sie in einer komplett neuen Rolle ist und auch die LehrerInnen und die Schulpflege das akzeptieren», sagt Peter Gerber und ergänzt, dass man mit dieser Veränderung auch persönlich umgehen können muss: «Wenn ich ins Lehrerzimmer komme, wird manchmal das Thema gewechselt, ich bin nicht mehr Kollege unter Kollegen. Und das ist richtig so.»

In der Anfangsphase haben manche Gemeinden versucht, Konflikte zu vermeiden, indem sie externe BewerberInnen in die Schulleitung wählten. Wenn eine Schulleitung nicht aus dem bestehenden Team kommt, muss sie sich zwar stärker behaupten, hat aber auch keine gemeinsame Vergangenheit, von der sie sich unter Umständen abgrenzen können muss. «Es braucht einen langen Schnauf, eine dicke Haut und ein gewisses Selbstverständnis», sagt Gerber, «und am schwierigsten ist der Umgang mit den ‹Untergrundkämpfern›.» Damit meint er Lehrpersonen, die nicht akzeptieren können, dass jetzt ein Chef im Haus ist, gleichzeitig aber nicht bereit sind, selbst eine solche Aufgabe und damit die Verantwortung zu übernehmen. Ein anderer Schulleiter erzählt, dass er lange mit einer kleinen Gruppe im Kollegium konfrontiert war, die sich aus sämtlichen gemeinsamen Aktivitäten ausgeklinkt hat. So ein Verhalten könne die Dynamik im Team stark belasten.

Trotz solch vereinzelter Probleme bejahen auch die Beratungsfachleute von der PHZH die Notwendigkeit einer qualifizierten Leitung für die Schule mit Nachdruck. Denn obwohl es in manchen Schulpflegen durchaus auch Fachleute gibt, zum Beispiel für Personalentwicklung, ist die Schulleitung ganz wichtig: Sie ist näher bei den Lehrpersonen, unterstützt sie im Alltag und kennt die Geschäfte hautnah. Zudem wird die Behörde alle vier Jahre neu gewählt und kann deshalb nicht immer Kontinuität an der Schule garantieren.

«Das neue Volksschulgesetz trennt aber nicht klar zwischen operativen und strategischen Aufgaben», sagt Peter Gerber, «und es gibt so viele verschiedene Auslegungen, wie es Schulgemeinden gibt.» Rein rechtlich sind es nämlich immer noch die Behörden, die jemanden einstellen oder entlassen dürfen.

Doch auch wenn die Mitarbeiterbeurteilung nach wie vor Sache der Schulpflege ist: Durchführen und vertreten muss sie die Schulleitung. Nach Auffassung des Berufsverbands gehört die Personalführung deshalb unbedingt als Ganzes in die Kompetenz der Schulleitung, denn die kennt schliesslich die Lehrpersonen mit ihren Stärken und Schwächen. Und vielleicht wird es dereinst auch eine Schreibkraft zu ihrer Unterstützung geben.