Revision Invalidenversicherung: Falsch gespart

Nr. 26 –

«Arbeit vor Rente» klingt gut, solange die Idee nicht missbraucht wird, um die Renten zu kürzen. Aber genau das will der Bundesrat mit seiner sechsten IV-Revision, die soeben in die Vernehmlassung ging.


«Die Stärke des Volkes misst sich

am Wohl der Schwachen.»


Präambel der Bundesverfassung

Ein Rettungsboot schaukelt auf hoher See, es sitzen zu viele Leute drin, und ein Loch hat es auch. Das Boot wird untergehen, wenn man nicht schleunigst einige Leute über Bord schickt – die könnten schwimmen, wenn sie nur wollten. Dies ist das Bild, das entsteht, wenn man den Bericht zur sechsten Revision des Invalidengesetzes (IVG) liest.

Richtig ist, dass die Invalidenversicherung (IV) jährlich ein Defizit von 1,1 Milliarden Franken ausweist. Das ist viel, aber doch nicht so viel, wenn man bedenkt, dass für die Rettung der UBS 68 Milliarden aufgebracht wurden.

Vergangene Woche hat Bundesrat Didier Burkhalter die Vernehmlassung zum zweiten Teil der IVG-Revision eröffnet. Er präsentiert einen Vorschlag, der eine Grenze überschreitet: Erstmals sollen auch bestehende IV-Renten gekürzt werden. Rund vierzig Prozent der Menschen, die heute bereits eine IV-Rente bekommen, werden künftig weniger Geld von der Versicherung erhalten.

Konkret möchte der Bundesrat die Neurenten um 230 Millionen kürzen, die laufenden Renten gedenkt er um 170 Millionen zusammenzustreichen. Grob gerechnet macht das pro RentenbezügerIn 125 Franken im Monat. Das klingt nach wenig. Allerdings liegt die Durchschnittsrente bei monatlich 1600 Franken – da machen hundert Franken mehr oder weniger viel aus.

Zudem plant Bundesrat Burkhalter auch die Zusatzrenten für Kinder zu kürzen: Heute erhalten Kinder von IV-BezügerInnen eine Unterstützung von durchschnittlich 530 Franken pro Monat, künftig sollen es nur noch 400 Franken sein. Hunderttausend Kinder werden davon betroffen sein – 200 Millionen Franken will Burkhalter auf ihre Kosten sparen. Das ist übrigens gleich viel, wie im vergangenen Jahr die fünf bestverdienenden Manager des Landes bekommen haben. Geld ist also da, nur am falschen Ort.

Eingliederung funktioniert nicht

Heute sind die Renten abgestuft: Bei einem Invaliditätsgrad von bis zu 40 Prozent gibt es keine Rente, von 40 bis 49 Prozent erhält man eine Viertelrente, von 50 bis 59 eine halbe Rente. Bei siebzig Prozent Invalidität könnten die Betroffenen zwar theoretisch noch dreissig Prozent arbeiten, bekommen aber bereits eine ganze Rente – weil man bislang davon ausgegangen ist, dass diese Personen kaum eine Stelle finden werden. Damit soll Schluss sein.

Das neue System will explizit «die Versicherten motivieren, erneut den Weg in die Erwerbstätigkeit zu suchen». Deshalb sollen neu die Renten stufenlos berechnet werden und vor allem tiefer ausfallen: Konkret würde man zum Beispiel bei einer Invalidität von siebzig Prozent nur noch zwei Drittel der heutigen Rente bekommen.

Könnten die Betroffenen ihre «restliche Arbeitskraft» tatsächlich verkaufen, kämen sie auf ein akzeptables Einkommen. Doch wie soll das gehen? Wer wird diese Restarbeitskraft kaufen? Wo sollen die Tausenden von IV-BezügerInnen unterkommen? Laut Staatssekretariat für Wirtschaft suchen zurzeit schon 215 300 Arbeitslose einen Job. Gleichzeitig sind gerade mal 17 100 offene Stellen gemeldet.

«Arbeit vor Rente» klingt gut, solange Arbeit da ist. Vor der letzten IV-Abstimmung vor vier Jahren versprach der Bund mit dem Projekt Job-Passerelle die «verstärkte Integration in die Arbeitswelt» zu fördern. Der freisinnige Luzerner Nationalrat Otto Ineichen hatte das Projekt initiiert und grossartig erklärt, die Wirtschaft werde 3000 neue Stellen für Menschen mit Behinderungen schaffen. «In der Realität sind bisher durch das genannte Projekt nur circa dreissig neue Arbeitsplätze entstanden», resümiert die Dachorganisationenkonferenz der privaten Behindertenhilfe (DOK): «Das massive Scheitern dieses ehrgeizigen Projektes zeigt, dass die Eingliederungsziele des Bundesrates für die 6. IVG-Revision in quantitativer Hinsicht nirgends konkret abgestützt sind. Sie beruhen ausschliesslich auf finanzpolitisch geprägtem Wunschdenken.» Das Ziel des Bundesrats, «ohne Rücksicht auf die Wirtschaftslage und ohne Verpflichtung von Arbeitgebern bis zum Jahr 2018 rund 16 000 Personen in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren, muss als wirklichkeitsfremd bezeichnet werden», schreibt die DOK.

Schaut man die Statistik an, dann scheiden 99 Prozent BezügerInnen aus der IV aus, weil sie in die AHV wechseln oder sterben. Wie viele von dem Ein-Prozent-Rest Arbeit finden, weiss niemand.

«Nach heutiger Definition des Bundesamtes für Sozialversicherungen wird von erfolgreicher Eingliederung gesprochen, wenn weniger Renten ausbezahlt werden», konstatiert Georges Pestalozzi, der bei Integration Handicap tätig ist. «Ob die Betroffenen, die keine Rente erhalten, wirklich eine Stelle haben oder ob sie nicht vielmehr von der Familie unterstützt werden müssen oder bei der Fürsorge landen, wird bis heute nirgends erfasst», sagt Pestalozzi.

Ein weiteres Problem: Je geringer die Renten ausfallen, desto mehr Ergänzungsleistungen (EL) müssen bezahlt werden. Diese Leistungen wurden in den sechziger Jahren als Übergangslösung eingeführt, weil sowohl die AHV wie die IV oft nicht zum Leben reichten. Ergänzungsleistungen sind keine Almosen, man hat Anspruch darauf, wenn die Rente die Lebenshaltungskosten nicht deckt. Bezahlt werden sie etwa zur Hälfte vom Bund und den Kantonen.

Im aktuellsten Bericht des Bundesamtes für Sozialversicherungen zu den Ergänzungsleistungen steht: «Der Bedarf nach EL ist bei den IV-Rentenbeziehenden stark angestiegen: 41 Prozent beziehen eine EL.»

Der Bundesrat geht jetzt schon davon aus, dass die Ergänzungsleistungen mit den neuen IV-Sparmassnahmen weiter steigen werden – und zwar um mindestens siebzig Millionen Franken. Das ist also der nächste Topf, der in Schieflage manövriert wird. Der rechte Thinktank Avenir Suisse hat auch schon ein Papier publiziert, das Sparmassnahmen bei den EL verlangt, eine entsprechende Motion ist im Parlament bereits hängig.

Die IV verliert ihre Schutzfunktion

Die Invalidenversicherung droht langsam ihre Schutzfunktion zu verlieren. Immer mehr Betroffene landen bei der Fürsorge, statt IV zu erhalten. Die, die IV erhalten, bekommen immer weniger. Um nicht zu darben, sind sie auf Ergänzungsleistungen angewiesen – womit diese Ausgaben stetig wachsen. Eine endlose Spirale, die nur gestoppt werden kann, wenn die Sozialversicherungen mehr Geld bekommen: von denen, die es haben. Behindertenorganisationen, Gewerkschaften und linke Parteien haben bereits das Referendum gegen Burkhalters Revisionsvorschlag angekündigt. Denn das Geld von denen zu nehmen, die auf die Renten angewiesen sind, ist so sinnig, wie Schiffbrüchigen Schwimmen beizubringen.


Abbau bei der Unfallversicherung

Alle Erwerbstätigen sind obligatorisch gegen Unfall versichert, die meisten bei der Suva. Dies ist im Unfallversicherungsgesetz, das zurzeit auch revidiert wird, vorgeschrieben. Das System funktioniert reibungslos und schuldenfrei, trotzdem wollen die Bürgerlichen im Parlament Sparmassnahmen durchdrücken. Insgesamt steht ein Leistungsabbau von 400 Millionen Franken zur Debatte. Zum Beispiel sollen Personen, die durch einen Unfall zu 10 Prozent invalid wurden, keine Rente mehr erhalten. Neu gäbe es erst ab einem Invaliditätsgrad von 20 Prozent eine Rente. Der Bundesrat hatte dies ursprünglich selber vorgeschlagen, krebste dann aber zurück, nachdem der Vorschlag in der Vernehmlassung massiv Kritik geerntet hatte. Ausserdem ist geplant, die Versicherungsleistungen bei Menschen, die nach einem Unfall unter diffusen Beschwerden leiden (zum Beispiel nach einem Schleudertrauma), stark einzuschränken.

Die Ratslinke will die Verschärfungen nicht hinnehmen und droht mit dem Referendum. Sie wird unterstützt vom Baumeisterverband, der fürchtet, für höhere Prämien weniger Leistung zu erhalten.