Medientagebuch: Abwechslung von der Abwechslung

Nr. 28 –


Für einmal kein Katastrophenbericht, keine Enthüllung eines neuen Angriffs auf die Pressefreiheit, sondern ein Plädoyer für die Kontinuität, die es in unserer schnelllebigen Zeit immer noch gibt.

Vor 200 Jahren wurde das Königreich Holland von Napoleon an Frankreich angeschlossen – ein Reich notabene, das der Kaiser seinem Bruder Louis Bonaparte 1806 zugewiesen hatte. Vor 25 Jahren versenkten französische Geheimdienstagenten das Greenpeace-Schiff «Rainbow Warrior» vor Neuseeland. Vor 50 Jahren erschien der erste Roman der Amerikanerin Nelle Harper Lee: «Wer die Nachtigall stört» (über den Rassismus in den Südstaaten), der seither dreissig Millionen Mal verkauft worden ist. Vor 120 Jahren wurde in Wien der aus einer jüdischen Prager Familie stammende linke Journalist und Publizist Anton Kuh geboren, zu seiner Zeit ein Rivale von Karl Kraus.

Was haben diese Ereignisse miteinander zu tun? Sie waren gerade Themen des «Kalenderblatts», eines der täglichen Gefässe des Deutschlandfunks, immer nach den 9-Uhr-Nachrichten. Eine unbedeutende Nebensächlichkeit, könnte man meinen – «peanuts» würde man heute sagen. Für mich hingegen ist das «Kalenderblatt» immer wieder eine Belebung des historischen Bewusstseins, es erinnert mich an die früheren anspruchsvollen Streiflichter der Zeitungen, als es noch ein richtiges Feuilleton gab. Klug ausgewählt, gepflegt präsentiert: keine Massen- und Trendware, immer für eine Überraschung gut.

1960, mitten im Kalten Krieg entstanden, hatte der in Köln angesiedelte Deutschlandfunk (DLF) zunächst einen missionarischen Auftrag in Richtung DDR und Osten, als Stimme der «freiheitlichen westlichen Welt». Seit der Wende von 1989 wirkt er unabhängiger, offener, linker, weil er nicht mehr missionieren und «nur noch» informieren muss. Indem er unglaublich viel Stoff darbietet und Tag für Tag eine wahrhaft enzyklopädische Aufgabe bewältigt, steht er im Dienst der Aufklärung und der Demokratie – mit deutscher Gründlichkeit. Wie kaum ein anderes Medium bleibt er vom überall lauernden Boulevardstil unberührt.

Nüchtern, unaufgeregt wird da über das aktuelle weltweite Geschehen und das, was dahinter steht, berichtet, in für unsere Zeiten ungewöhnlich langen Beiträgen, oft zwischen fünf und zehn Minuten oder mehr. Reportagen, Interviews, Gespräche, Essays über Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Umwelt, Kultur, Sport in unzähligen Rubriken, deren klare Abfolge nicht verändert wird. So findet man sich leicht zurecht. Nicht nur Fakten werden geliefert, sondern auch die dazugehörenden Hintergründe und Zusammenhänge. Natürlich bekommen die deutschen Ereignisse viel Platz, doch der grosse Rest der Welt wird sehr gewissenhaft gewürdigt, sodass meist auch nichtdeutsche Ohren auf ihre Rechnung kommen.

Das Wort gibt ganz klar den Ton an, die Musik muss sich mit einer Nebenrolle und vorab mit den Nachtstunden begnügen. Seit 1994 ist der Deutschlandfunk nicht mehr selbstständig, zusammen mit dem aus dem DDR-Rundfunk hervorgegangenen Deutschlandradio Kultur (mit Sitz in Berlin) gehört er zum Deutschlandradio, einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft auf gesamtstaatlicher Ebene. Vor kurzem ist auch noch DRadio Wissen dazugekommen.

«Langweilig und altmodisch», sagen all jene, die auf ständige Abwechslung getrimmt sind und nur noch Kurzfutter mögen. Der Deutschlandfunk hebt sich wohltuend von den Aktualitätssendern ab, die das Neueste in kleinen Häppchen bringen und sich dabei notgedrungen endlos wiederholen. Der DLF ist alltägliche Weiterbildung für all jene, die sich dem Bildungsbürgertum verbunden und trotzdem nicht wie Ewiggestrige fühlen. Die Einschaltquote vonseiten der sogenannten Entscheidungsträger ist markant und sichert dem Sender das Überleben. Das Geheimnis heisst Kontinuität. Sie ermöglicht die umfassende Information. Nicht die Form überrascht, sondern der Inhalt, die Aussage, die sachliche Botschaft. Für mich ist der DLF ein zuverlässiger, anregender Begleiter, den ich nicht missen möchte.