Zeitgeist: «Das ist Pseudopolitik»

Nr. 28 –

Vieles, was bis in die neunziger Jahre noch als lustvoll und attraktiv galt, wird heute als anstössig empfunden. Verloren gehen durch die vielen Verbote der Glamour und die Solidarität.


WOZ: Früher schmückten sich die allerschönsten Diven auf den roten Teppichen dieser Welt gern mit einer Zigarette. Heute werben Schönheitsköniginnen halbnackt im Badezimmer für Anti-Aging-Creme, und wir leben im Zeitalter rauchfreier Kneipen. Was ist passiert, Herr Pfaller?

Robert Pfaller: Es kam in der westlichen Kultur zu einem Bruch, der erst etwa fünfzehn Jahre zurückliegt: Vieles, was bis in die Neunziger zu unseren grössten Lustquellen gehört und als elegant und mondän gegolten hat, stösst uns heute ab, gilt als etwas Ekliges, Ungesundes oder sittlich Anstössiges. Der Schönheitskult zum Beispiel wurde bis in die neunziger Jahre hinein noch stark als Theater oder Kostümierung betrieben. Man zelebrierte ein «Als ob», tat so, als ob man ein Filmstar wäre, den grossen Diven und Leinwandhelden gleichen würde, mit einer Sonnenbrille vielleicht, einem grossen Hut oder auch einer Zigarette. Wir dürfen nicht vergessen: Geraucht wird nicht nur aus Gründen der Sucht. Wenn wir rauchen, reaktivieren wir auch Bilder des Glamours, wir spielen auf Mythen an, in denen wir uns selbst gefallen: Denken wir an Szenen mit Humphrey Bogart und Lauren Bacall, die einander um Feuer ersuchen und daraus einen lasziven Dialog entwickeln – Schönheit war mal mondän und elegant.

Was meinen Sie mit mondän?

Alles Mondäne und Elegante beruht auf einer Einbildung. Es handelt sich dabei um eine Einbildung, die nicht die unsere ist. Man schminkte und kostümierte sich gewissermassen für einen naiven Dritten, der einen beobachtet und den man durch ein kleines Schauspiel hereinlegt.

Wie müssen wir uns diesen naiven Beobachter vorstellen? Sitzt der irgendwo in einem Leuchtturm und guckt auf uns hinunter?

Natürlich nicht. Er ist kein Fabelwesen und kein Gott oder Dämon, sondern so etwas wie eine psychische Instanz, ein Ort der Selbstbeobachtung, vergleichbar mit dem, was Freud als das Über-Ich bezeichnet, wenn auch nicht damit identisch. Der französische Psychoanalytiker Octave Mannoni hat das einst für das Theater formuliert: Die Zuschauer und die Schauspieler stecken gleichsam unter einer Decke. Sie alle wissen, dass nicht wahr ist, was da passiert, aber sie verraten es nicht. So führen sie den eingebildeten naiven Beobachter hinters Licht.

Welche Rolle spielt der naive Beobachter jenseits des Theaters?

Er verkörpert das Prinzip einer bestimmten gesellschaftlichen Solidarität. Das lässt sich gut am Phänomen der Höflichkeit illustrieren: Nehmen wir an, wir beide sind Konkurrenten in derselben Uni und hassen einander eigentlich dafür. Jetzt kommt einer von einer anderen Universität und fragt uns, wie bei uns so das Betriebsklima sei. Dann sagen wir dem nicht, wie die Dinge wirklich liegen, sondern täuschen ihm ein ausgezeichnetes kollegiales Verhältnis vor. Wir reden von Respekt, gegenseitiger Inspiration und den grossen Fähigkeiten des Anderen. So wahren wir gegenüber diesem realen, auswärtigen Dritten den Schein, und das erzeugt eine bestimmte Solidarität zwischen uns.

Obwohl wir eigentlich verfeindete Konkurrenten sind?

Sosehr wir uns auch hassen, wir haben dies gegen aussen nicht preisgegeben, wir verhielten uns solidarisch. So funktioniert auch ein Akt der Höflichkeit, wo nicht unbedingt ein realer Dritter anwesend ist: Wir hassen uns, begegnen uns auf dem Gang und sagen uns «Guten Tag, hallo wie gehts, danke bestens». Hier mimen wir Anteilnahme, Wohlergehen und Glück. Wir geben unsere realen Gefühle des Hasses und der Missgunst nicht preis und führen so gemeinsam den unsichtbaren Beobachter hinters Licht. Das hat positive Effekte auf unser kollegiales Verhältnis.

Das ist doch groteskes Elfenbeinturmtheater.

Vielleicht, aber es ist auch entscheidend für ganze Gesellschaften: Die Einbildung eines naiven Beobachters lässt in ihnen so etwas wie mondänen Glanz entstehen. Wir begreifen heute Kollektivität meistens nur nach dem Muster der Gemeinschaft, deren Solidarität sich darin zeigt, dass es ein gemeinsames Merkmal gibt, das alle Mitglieder dieser Gemeinschaft teilen. Zum Beispiel eine übereinstimmende Gesinnung oder ein gemeinsamer Feind.

Die kollektive Einbildung eines naiven Beobachters bietet also eine Alternative zu einem gesellschaftlichen Feindbild?

So ist es. In einem solchen Kollektiv besteht das Gemeinsame nicht darin, dass wir dasselbe glauben oder hassen, sondern dass wir etwas zusammen machen, wovon nur wichtig ist, dass jemand anderes das glauben könnte oder hätte glauben können: Die Instanz, in der das gemeinsame Merkmal verankert ist, liegt ausserhalb der realen Personen, die sich zusammenschliessen. Und genau das unterscheidet eine Gesellschaft von einer Gemeinschaft: Gesellschaften sind mondän, während Gemeinschaften immer schnell sektenartig und fanatisch werden und zum Ausschluss Dritter neigen.

Bedroht der gegenwärtige Verlust des Mondänen in den westlichen Gesellschaften auch ihre naiven Beobachter?

Ja. Denn unser Glaube an den Glauben des naiven Beobachters genügt uns nicht mehr. Nehmen wir die Schönheit: Wir wollen selbst die Gewissheit haben, schön zu sein. So verlagert sich der Schönheitskult vom Theater der Gesten, der Kostümierung und der Schminke zur bitteren Wahrheit der Chirurgie: Der Körper muss unters Messer. Wir entwickeln uns von einer Gesellschaft der Schönheit zu einer Gesellschaft der Makellosigkeit. Wir verlieren so die positiven Qualitäten, die wir durch reine Anspielung erscheinen lassen können und die ein ungeahntes Feld von Reizen und positiven Lusterfahrungen darstellen. Es ist nun umgekehrt: Wir haben ständig Angst, dass irgendetwas an uns stört. Kaum, dass wir die Ohren haben begradigen lassen, stört schon die Nase. Und dann die Zähne und so weiter …

Auch der Tabakgenuss fällt dieser vermeintlichen medizinischen Wahrheit zunehmend zum Opfer. Weshalb vertrauen wir immer öfter strikten Verboten und immer weniger der gesellschaftlichen Rücksichtnahme und spontanen Aushandlungen im Kollektiv?

Der frühere italienische Staatspräsident Alessandro Pertini, der ein grosser Kämpfer gegen den italienischen Faschismus war, immer geraucht hat und 94 Jahre alt geworden ist, hat einmal gesagt: «Toleranz kann man von den Rauchern lernen, denn noch nie hat sich ein Raucher über einen Nichtraucher beschwert.»

Was hat sich da verändert?

Unter den gegenwärtigen neoliberalen Bedingungen zieht sich der Staat immer weiter aus gesellschaftlichen Belangen zurück. Die Bevölkerung lebt so im ständigen Gefühl, vom Staat im Stich gelassen zu werden: Soziale Ressourcen werden privatisiert, das gesellschaftliche Feld den Stärkeren überlassen. Hier entsteht ein stark wachsendes Bedürfnis nach mehr Schutz durch den Staat. Wenn es aber darum geht, die Finanzmärkte besser zu kontrollieren, dafür zu sorgen, dass mehr Menschen an die Universität kommen können, dass die Pensionen garantiert sind, dass niemand Angst haben muss, seinen Arbeitsplatz zu verlieren, findet die Politik zurzeit keine Mittel. Anstatt dieses Scheitern einzugestehen, wendet sie sich dann Nebenschauplätzen zu und wird dort hyperaktiv. Die Rauchverbote sind ein Beispiel dafür. Dort tut die Politik dann so, als würde sie die Menschen beschützen. Ich nenne das Pseudopolitik.

Pseudopolitik?

In einem Wiener Witz sagt der bekannte Graf Bobby, der seine verlorene Geldbörse sucht, er habe diese zwar hinter der Oper verloren, er suche sie aber lieber vor der Oper, weils dort heller sei. So könnte man Pseudopolitik auch gut beschreiben.

Das Rauchverbot schützt doch immerhin das Personal und die Nichtraucherinnen und Nichtraucher in den Lokalen.

Oh nein! Die Politik will in Wirklichkeit niemanden schützen, sondern sie will Kosten privatisieren. Das Rauchverbot ist ein Schritt hin zum Ende des Solidaritätsprinzips bei den Krankenkassen. Man will sicherstellen, dass in Zukunft Krankheit als etwas Selbstverschuldetes begriffen werden kann und auch selbst bezahlt werden muss. Wenn im öffentlichen Raum nicht mehr geraucht wird, und Sie kriegen Lungenkrebs, wird Ihre Krankenkasse irgendwann sagen, dass Sie wohl zu Hause geraucht haben. Sie wird sagen: «Sie sind doch selber schuld, und wir bezahlen ihre Krankheit nicht oder nur zu einem kleinen Teil.» Das ist der Skandal dabei: Das sehr berechtigte Bedürfnis der Menschen nach staatlichem Schutz wird ausgenützt, um die Menschen wieder einmal staatlicher Solidarität zu berauben.

Gleichzeitig mit dem Rückzug des Staats in den achtziger und neunziger Jahren, dem Ende der Mondänität und des gesellschaftlichen «Als ob» kam in Europa der Aufstieg des Rechtspopulismus, nicht zuletzt in der Schweiz und in Österreich. Lebt dieser von der Hochkonjunktur der Pseudopolitik?

Auf jeden Fall. Zu Recht fühlen sich viele Menschen von der regierenden Politik betrogen, wenn diese ihnen das Rauchen verbietet, anstatt sich um die existenzbedrohenden Fragen zu kümmern. Davon lebt der Populismus, indem er an die wirklichen Ängste der Leute rührt – aber andererseits die entscheidenden Fragen auch selbst wieder derart verzerrt und deformiert, dass sie nicht triftig werden

Der Populismus ist seinerseits in gewisser Weise ein Zerrbild dessen, was in westlichen Gesellschaften seit den neunziger Jahren geschehen ist: Auch wir haben ja zu Dingen, die wir früher gerne mochten, wie dem Rauchen und Trinken, der Sexualität, elegantem Benehmen, einem lebendigen öffentlichen Raum ein sehr zwiespältiges Verhältnis entwickelt. Viele finden das alles entweder ungesund, scheusslich, unvernünftig, anstössig oder nicht politisch korrekt.

Ähnlich ist es im Zerrbild des Populisten: Auch der Populist hat gelernt, Dinge, die ihn eigentlich faszinieren, als schmutzig zu empfinden. In Österreich gab es mal einen Mann, der als Pornojäger berühmt wurde – Martin Humer hiess der Mann. Er erfüllte beinahe eine offizielle Funktion, indem er ständig neue pornografische Produkte bei der Polizei anzeigte. Bei oberflächlicher Betrachtung glich das Leben dieses Mannes völlig jenem eines Profis aus der Pornoindustrie: Die müssen auch regelmässig in die neuen Produkte hineinschauen, um zu sehen, was es Neues auf dem Markt gibt. Gegenspieler in Konflikten sind sich oft auf unheimliche Weise ähnlich.

Sie meinen, Populisten bekämpfen vor allem das, was sie persönlich heimlich anziehend finden?

Genau. Und ich glaube, dass der Populist immer jemand ist, der gelernt hat, sich selbst als arm, aber sauber zu imaginieren. Was ihn stört und was ihn eigentlich in Aufregung versetzt, ist seine Vermutung, dass der Andere Lustquellen hat, die ihm selber nicht mehr zugänglich sind. Er bekämpft das, was er beim Anderen als Schmutz wahrnimmt, als ehemalige Lust von sich selber, die nun Schmutz geworden ist. Deshalb muss man immer auch berücksichtigen, dass populistische Reden nicht gemacht werden, um einer Überzeugung Ausdruck zu verleihen und Gleichgesinnte zu finden, sondern das Aussprechen muss hier immer auch als ein Ausspucken gewertet werden. Die Populisten sagen irgendeinen schmutzigen Unsinn, um diesen Schmutz loszuwerden. Deshalb sind sie froh, wenn das, was sie sagen, dann jemand anderer glaubt.


Dieses Gespräch können Sie als Podcast des Magazins Wissen&Vermuten bei Radio Stadtfilter Winterthur auch hören: tinyurl.com/Pfaller

Robert Pfaller (47) ist Professor für Philosophie an der Universität für Angewandte Kunst in Wien. Gastprofessuren in Amsterdam, Berlin, Chicago, Oslo, Strassburg, Toulouse, Zürich. Gründungsmitglied der Wiener Forschungsgruppe für Psychoanalyse Stuzzicadenti. 2007 ausgezeichnet mit dem Preis «The Missing Link» des Psychoanalytischen Seminars Zürich.

Unter anderem hat Pfaller folgende Bücher veröffentlicht: «Ästhetik der Interpassivität» (philo fine arts. Hamburg 2009), «Das schmutzige Heilige und die reine Vernunft. Symptome der Gegenwartskultur».(S. Fischer. Frankfurt am Main 2007), «Die Illusionen der anderen. Über das Lustprinzip in der Kultur» (Suhrkamp. Frankfurt am Main 2002).