Flughafenstreik: Der lange Kampf von Cointrin

Nr. 32 –

Seit über einem Monat streiken ein paar Putzleute auf dem Genfer Flughafen gegen ein «staatlich organisiertes Lohndumping». Nun wird der Konflikt zum nationalen Thema.


Heute Donnerstag, 12. August, ist der 35. Streiktag in Genf Cointrin. Als hier am 9. Juli 15 von 120 Angestellten der Reinigungsfirma ISS in den Streik traten, hätte niemand erwartet, dass die Bewegung länger als ein paar Tage dauern würde. Zu ungünstig war die Ausgangslage: eine kleine Anzahl Streikende, die schnell durch Interimspersonal ersetzt wurden, keine störenden Auswirkungen auf den Flughafenbetrieb, nur ein Streikposten, abseits zwischen Piste und Autobahn gelegen, ein paar Flugblätter und Aufkleber. Dennoch ging der Streik letztes Wochenende in den zweiten Monat.

Wie fühlt man sich während eines so langen Streiks? «Es ist einfach und schwierig zugleich», fasst Marie zusammen. Sie ist Schweizerin, geschieden, hat erwachsene Kinder und arbeitet an zwei verschiedenen Orten: bei der Reinigungsfirma ISS und in einem Hotel. Marie heisst natürlich nicht so, sie hat für ihr Gespräch mit der WOZ einen fiktiven Namen gewählt und sich bei der Wahl amüsiert. Schwierig sei der Streik, sagt sie, weil die Lage nach einem Monat immer noch völlig blockiert sei. Einfach sei er, weil die Handvoll Streikende zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammengewachsen sei. Die dreizehn Frauen und zwei Männer kommen aus vier verschiedenen Ländern: Schweiz, Frankreich, Portugal und Brasilien. «Wir sind uns sehr nahe gekommen», sagt Marie und freut sich über dieses «zwischenmenschliche Abenteuer».

Billigarbeit «dank» Beschiss

Die meisten von Maries KollegInnen haben Ende Juni die individuellen Verträge unterzeichnet, die der Chef ihnen vorlegte. Marie gehörte zu den RebellInnen, die sich nicht einschüchtern liessen. «Wir kämpfen gegen Lohndumping und dafür, dass wir auch weiterhin einen Gesamtarbeitsvertrag haben», erklärt sie. «Ohne GAV sind wir der Willkür des Patrons schutzlos ausgesetzt.» Bei der ISS galten bis Ende Juni zwei Gesamtarbeitsverträge, der eine für das Reinigungspersonal, das zu mehr als fünfzig Prozent und im Monatslohn angestellt war, der andere für «Hilfskräfte», die weniger als fünfzig Prozent und im Stundenlohn arbeiteten. Doch die Gewerkschaft VPOD stellte fest, dass die ISS eine Reihe dieser sogenannten Hilfskräfte bedeutend länger als die vorgeschriebene Stundenzahl arbeiten liess und sich dennoch weigerte, diese in den Status von monatlich bezahlten Angestellten zu versetzen. Ein Streikender beschreibt, wie das für ihn aussah: «Ich hatte einen Vertrag über 60 Stunden pro Monat, arbeitete aber im Schnitt 150 Stunden, und zwar ohne Überstundenzuschläge. Das heisst, ich bin ein versteckter Vollzeitangestellter, aber ohne dessen Vorteile wie bezahlte Ferien und 13. Monatslohn.»

Eine Klage mehrerer betroffener Hilfskräfte vor dem Genfer Schiedsgericht beantwortete die Firma mit der Kündigung der Gesamtarbeitsverträge auf Ende Juni. Die individuellen Verträge, die die Firma unterschreiben liess, bedeuten gemäss VPOD Einbussen zwischen 200 und 1300 Franken monatlich. Dem hält die Reinigungsfirma entgegen, dass sie rund siebzig Hilfskräfte in den Status von Angestellten mit Monatslohn versetzt und damit deren Arbeitsbedingungen verbessert habe. Neben der Angst vor einer Kündigung ist diese Verbesserung auch der Grund, weshalb Ende Juni die überwiegende Mehrheit des Personals die neuen Verträge unterschrieben hat. Für die Streikenden war der Widerstand nicht einfach: «Am Anfang sind unsere Kolleginnen und Kollegen an uns vorbei zur Arbeit gegangen, ohne uns anzusehen», erinnert sich Marie. Jetzt sei die Lage entspannter, und sie kämen dank des Streikpostens auch regelmässig mit den KollegInnen ins Gespräch: «Natürlich wissen sie, dass wir auch für sie kämpfen, und ich glaube, im Geheimen bewundern sie unsern Mut.»

Nicht unterschrieben haben die fünfzehn AufrührerInnen, weil sie über ihre eigene Nase hinaussehen. Auf dem Flughafen Genf ist nämlich ein Preiskampf aller gegen alle im Gang. Als die Swissair 1996 ihre Langstreckenflüge von Genf abzog, diese in Zürich konzentrierte und damit in der Romandie politische Turbulenzen auslöste, konterte die Genfer Flughafengesellschaft AIG mit der Strategie, um jeden Preis Billigfluggesellschaften nach Cointrin zu locken. Seither liefern sich die konkurrenzierenden Gesellschaften einen Preiskrieg, dessen Druck sie an die Bodenabfertigungs- und Reinigungsfirmen weiterleiten, die ihrerseits immer mehr Druck auf das Personal ausüben. In der Deregulierungslogik sind Gesamtarbeitsverträge und Gewerkschaften ein Störfaktor: Erstere müssen gekündigt, Letztere wenn möglich vom Flughafen vertrieben werden. Dem hält der für den Flughafen zuständige VPOD-Sekretär Yves Mugny entgegen: «Solange der Konkurrenz- und Preiskampf weitergeführt wird, wird es immer wieder Arbeitskonflikte geben.» Nur die Ausweitung der Gesamtarbeitsverträge, garantierte Mindestlöhne und ein Ende des Konkurrenzkampfes zwischen den Firmen könne die Lage in Cointrin dauerhaft sanieren.

Kaltschnäuzige Regierung

Tatsächlich ist es schon im Januar auf dem Flughafen zu einem ersten Streik gekommen. Damals legte das Bodenabfertigungspersonal der Firmen Swissport und Ndata die Arbeit nieder, um für einheitliche Gesamtarbeitsverträge zu kämpfen. Ihr Streik endete nach zehn Tagen mit einem Erfolg des Personals. Bei ISS ist die Sache bedeutend schwieriger: Ohne Bodenabfertigungspersonal können Flugzeuge nicht starten, doch gereinigt werden können sie auch ohne Marie und ihre KollegInnen. Aus diesem Grund setzte die Reinigungsfirma zu Beginn einfach darauf, dass sich die Bewegung in kurzer Zeit totlaufen würde. Ähnlich kaltschnäuzig reagierten die Flughafengesellschaft und die Genfer Regierung auf den Streik in einem staatlichen Regiebetrieb. François Longchamp, als Genfer Regierungspräsident gleichzeitig Verwaltungsratspräsident der Flughafengesellschaft, glänzte so offensichtlich durch Abwesenheit, dass Yves Mugny und ein paar Personaldelegierte auf dem Flachdach des Flughafengebäudes einen Spottgesang anstimmten und sich dabei filmen liessen: «Guten Morgen, Monsieur Longchamp, haben Sie gut geschlafen?» – der Clip macht auf Youtube Furore.

Fauler Kompromissvorschlag

Wie macht man aus einer Schwäche eine Stärke? Diese Frage stellten sich die Streikenden und Yves Mugny, der übrigens vor seiner Zeit als Gewerkschaftssekretär Schauspieler und Drehbuchautor war, gleich zu Beginn der Bewegung. Die Antwort: durch fantasievolle Aktionen und Kommunikation. Demonstrationen, Bankette beim Streikposten, juristisches Geplänkel, ein Ständchen unter den Fenstern der Regierung, jedes Mal begleitet von Medienkonferenzen – die linke Genfer Zeitung «Le Courrier» nennt es «eine Medienguerilla». Wie in den Bewegungen von 1968 und 1980 werden Spott und kulturelle Agitation eingesetzt: Die Streikenden selbst inszenierten und spielten zum Beispiel auch einen Videoclip, in dem sie ihre Beweggründe darstellen («Le clip des grévistes: c’est pour ça qu’on est là!», www.ssp-greve.ch). Für Marie war die Inszenierung dieses kleinen Strassentheaters ein grosses Erlebnis: «Wir wollen zeigen, dass wir nicht mit dem Patron einverstanden, aber dass wir nicht stur sind. Wir sind entschlossen, aber gewaltfrei!»

Nun, letzte Woche ist François Longchamp, ein smarter freisinniger Jungpolitiker in der Genfer Regierung, aus seinem Schlaf des Gerechten aufgewacht. Er hat sich einen Vorschlag abgerungen: Falls die Sozialpartner einverstanden seien, werde er Anfang September durch eine aus Arbeitgebern, ArbeitnehmerInnen und der Regierung zusammengesetzte Instanz abklären lassen, ob der Gesamtarbeitsvertrag des Genfer Reinigungspersonals auf das vorwiegend weibliche Reinigungspersonal am Flughafen angewendet werden könne. Marie hält nicht viel von diesem Vorschlag, und sie weiss, wovon sie spricht. Als normale Putzfrau habe sie einen regelmässigen, fixen Stundenplan, arbeite tagsüber und drinnen. Auf dem Flughafen ist sie jedoch abends im Einsatz, im Schichtbetrieb, draussen, bei Wind und Wetter oder mit schweren Putzmaschinen auf dem Rücken zwischen den Flugzeugsesseln eingeklemmt. «Die Arbeit ist nicht vergleichbar!», sagt sie entschieden. Auch die Gewerkschaft lehnt den Vorschlag als Verschlechterung ab: «Longchamp schlägt vor, den Geltungsbereich des denkbar schlechtesten Gesamtarbeitsvertrags auszudehnen», sagt VPOD-Zentralsekretär Stefan Giger: «Das würde absolute Hungerlöhne bedeuten, es ist noch weniger, als die ISS geben will!»

Laut Giger lagen die Lohnansätze im gekündigten ISS-GAV zwischen 3600 und 4800 Franken, bei den individuellen Verträgen liegen sie zwischen 3400 und 3500 Franken; was Regierungspräsident Longchamp mit seinem Vorschlag anbiete, seien Löhne unter 3200 Franken. «Es geht einfach nicht, dass eine Kantonsregierung dabei mitmacht, wenn Löhne unter das Existenzminimum gedrückt werden!» Nicht die Ansätze des Reinigungs-GAV müssten für ISS gelten, sondern die für das Bodenpersonal üblichen Löhne – in der Höhe von 3700 bis 4500 Franken für die tiefste Lohnklasse. Der VPOD argumentiert wie folgt: Die Reinigungsfirma arbeitet im Rahmen der Konzession, die die Bodenpersonalfirma Swissport von der Genfer Flughafenbehörde erhalten hat, ist also eine Unterakkordantin, für die die gleichen Regeln gelten müssen wie für die konzessionierte Firma. Auch im Eisenbahnverkehr ist das so. Dort sind die Regeln für die Beschäftigten von Railclean, die die SBB-Wagen putzt, im SBB-Gesamtarbeitsvertrag festgelegt – die Lohnansätze bewegen sich bei Railclean zwischen 3400 und 4800 Franken.

Was bisher die Sache einer Handvoll nicht kleinzukriegender Aufständischer war, an deren Erfolg selbst GewerkschaftskollegInnen im Geheimen zweifelten, ist unterdessen zu einem nationalen Thema geworden. Auf heute Donnerstag haben VPOD und SGB nach Bern zu einer Medienkonferenz eingeladen. Thema: Das von François Longchamp und der Genfer Regierung «staatlich organisierte Lohndumping»: «Die Flughafengesellschaft ist ein staatlicher Regiebetrieb, er gehört dem Kanton Genf, infolgedessen ist die Genfer Regierung dafür verantwortlich, dass die Flughafengesellschaft die Gesamtarbeitsverträge respektiert oder zumindest branchenübliche Bedingungen garantiert», sagt Stefan Giger – und zieht im grenznahen Genf eine Verbindung zu den bilateralen Verträgen mit der Europäischen Union. Bisher hätten die Gewerkschaften die bilateralen Verträge unterstützt, weil man ihnen Garantien gegeben habe, dass die Gesamtarbeitsverträge in der Schweiz respektiert und sogar verstärkt würden. «Wenn jetzt aber staatliches Lohndumping Mode wird, könnten die Gewerkschaften das nächste Mal durchaus auch Nein zu den Bilateralen sagen.»

«Streikpostenstehen ist ebenso harte Arbeit wie Flugzeugeputzen», sagt Marie und hofft trotz «zwischenmenschlichem Abenteuer» auf ein baldiges Ende des Konflikts.