Britannien: Arme zahlen nicht drauf

Nr. 34 –

Er werde gemeinwirtschaftliche Ansätze fördern, versprach einst Premierminister David Cameron. Doch kaum im Amt, kassierte sein konservativ-liberales Kabinett alte Zusagen. Den vielen kleinen Kreditkooperativen geschadet hat dies freilich nicht: Sie boomen wie nie zuvor.


Am Eingang geht es munter zu. Drei ältere Männer debattieren über Fussball, eine junge Frau schiebt gerade einen Kinderwagen herein, zwei Frauen blättern in Broschüren, Kinder springen umher – und alle warten, dass sie an die Reihe kommen. «Momentan herrscht hier jeden Tag Hochbetrieb», sagt Fran Williams, als sie durch die Büros führt, in denen ihre KollegInnen Briefe tippen, Zahlen addieren, Akten abheften und das Telefon bedienen. Vom unteren Geschoss führt eine Treppe hinauf in eine Halle, die einmal ein Gemeindesaal war und gerade renoviert wird. «Wir sind noch nicht lange hier», sagt die knapp Vierzigjährige, «und da alle Arbeiten ehrenamtlich erledigt werden, geht es nicht so schnell voran, wie wir das gerne hätten.» Wird wirklich alles von Freiwilligen erledigt? «Ja», sagt Williams, «alles.»

Williams ist Darlehensbeauftragte der Park Road Community Credit Union in einem der ärmsten Stadtbezirke von Liverpool. Seit 21 Jahren gibt es die Spar- und Kreditkooperative, und sie wächst beständig, wie die zweifache Mutter erläutert, die immer freitags da ist. Angefangen habe die Kooperative, die inzwischen über 3000 Mitglieder zählt, in einem kleinen Zimmer in einem der vielen Reihenhäuser, die sich von den alten, längst aufgegebenen Docks am Mersey bis nach Toxteth hinaufziehen. Dann sei man in ein Bildungszentrum ausgewichen, und als auch dort der Platz nicht mehr reichte, habe die Kooperative mit den Rücklagen der vergangenen Jahre die alte Church Hall an der Park Road gekauft.

Die Park Road Credit Union basiert wie die vielen anderen Sparvereine in Britannien auf einem einfachen System: Die Mitglieder sparen wöchentlich einen kleinen Betrag (ein Pfund, fünf Pfund, vielleicht auch etwas mehr), den sie entweder bar vorbeibringen, abholen lassen oder per Lastschrift überweisen. Dafür erhalten sie zinsgünstige Kredite und sind an allen wichtigen Entscheidungen beteiligt: Sie wählen an den Jahreshauptversammlungen den ehrenamtlichen Vorstand, beschliessen über die Verwendung der Einkünfte und bestimmen die Politik der Kooperative. Mitglied kann werden, wer im Quartier wohnt oder arbeitet und eine einmalige Einlage in Höhe von einem Pfund (etwa 1.60 Franken) zahlt. Im Grunde genommen sind Credit Unions also Einrichtungen, die die eigentliche Aufgabe des herkömmlichen Bankgeschäfts erledigen: Erspartes verwalten und Geld verleihen. Aber sie sind noch viel mehr.

Kein Bankkonto, kein Kredit

«In sozial benachteiligten Quartieren wie unserem hier leben viele Menschen von Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe», sagt Fran Williams. «Sie haben nie sparen gelernt, und doch haben auch sie Bedürfnisse – ein paar Weihnachtsgeschenke für die Kinder, eine neue Schuluniform, ein Ersatz für die alte Waschmaschine, vielleicht sogar ein paar Tage Ferien.» Doch woher das Geld nehmen für die zwar kleinen, aber oft unvermeidlichen Ausgaben? In Britannien haben immer noch über zwei Millionen Erwachsene kein Konto, weil die Banken ein regelmässiges Einkommen oder andere Sicherheiten verlangen; das aber können nicht alle in diesem Teil von Liverpool bieten. «Und so wenden sie sich, wenn sie einen Kinderwagen brauchen, an Geldverleiher, die von Haus zu Haus gehen und Kredite anbieten – für über 200 Prozent Zins im Jahr.»

Es war die Wut über diese Beutelschneiderei, die Fran Williams’ Mutter dazu brachte, eine Credit Union zu gründen. Ihre Selbsthilfeinitiative funktionierte von Anfang an. Denn deren Mitglieder zahlen für das Geld, das sie aufnehmen, ein Prozent Zins im Monat; also etwas über zwölf Prozent im Jahr. Das ist weniger, als die meisten Banken für Kleinkredite verlangen (durchschnittlich sechzehn Prozent Jahreszins), und weniger, als man für die Überziehung der Kreditkarte zahlt (derzeit siebzehn Prozent).

Vor allem aber wird die Kreditwürdigkeit nicht nach Aktenlage beurteilt. «Wir prüfen jeden Antrag, reden mit den Leuten, lassen uns ihre Lage schildern», sagt Williams. «Wir wissen ja, wie es ihnen geht. Wir alle haben schon in Geldschwierigkeiten gesteckt.» Der persönliche Kontakt sei viel wichtiger als hinterlegte Sicherheiten, erläutert die Beraterin und zeigt einen Kreditantrag. Auf dem Blatt sind alle Details vermerkt: Name, Sozialversicherungsnummer, Höhe des gewünschten Darlehens, Rückzahlungsmodalitäten und, in zwei Kolumnen, die wöchentlichen Einkünfte (Lohn, Sozialhilfe, Arbeitslosengeld, IV-Rente) sowie daneben die wöchentlichen Ausgaben von der Miete bis zur Gasrechnung, von den Fernsehgebühren bis zu den Schulkosten. «Das gehe ich mit dem Mitglied Punkt für Punkt durch», erläutert Williams, «und unsere offene Art schafft Vertrauen. Die Leute erzählen uns persönliche Dinge, die sie einem Bankangestellten nie verraten würden. Zum Beispiel, dass sie nicht lesen und schreiben können.»

Ein Sonderfonds

Natürlich erhält nicht jeder, der die Beitrittsgebühr auf den Tisch legt, sofort einen Kredit. «Drei Monate muss man schon gespart haben, bevor das erste Darlehen genehmigt wird, und das ist in der Regel nicht höher als 250 Pfund», umgerechnet 400 Franken. Später, nach ordentlicher Rückzahlung des Anfangskredits, kommen natürlich auch höhere Beträge in Betracht.

Aber es gibt Ausnahmen. Wer in Toxteth wohnt, plötzlich in Not gerät, bisher nicht Mitglied war und daher auch nichts angespart hatte, kann seit 2006 den Sonderfonds Helping Hand (helfende Hand) der Park Road Credit Union in Anspruch nehmen – muss dann aber zwei Prozent Zins im Monat entrichten. «Die Kooperative geht damit ein gewisses Risiko ein», begründet Williams den doppelten Zinssatz. Aber vergleichsweise sei das immer noch wenig, rechnet sie vor: Ein Helping-Hand-Einjahreskredit von 500 Pfund koste den Kreditnehmer insgesamt 563, ein Spontankredit an der Haustüre jedoch 910 Pfund.

Billige Direktoren, keine Aktionäre

«Die Park Road Credit Union ist eine gute, weil basisnah geführte Organisation», sagt Mark Lyonette – was man ja leider nicht von allen Kooperativen behaupten könne. Lyonette ist Generaldirektor der Association of British Credit Unions (ABCUL) und kennt die britische Genossenschaftsszene. Immer wieder sei es vorgekommen, dass Kooperativen zu schnell expandiert und den Kontakt zu den Mitgliedern verloren hätten, sagt er in seinem kleinen Büro im Holyoake House im Stadtzentrum von Manchester, wo die Coop-Bank, die Coop-Versicherung und andere Coop-Unternehmen ihren Hauptsitz haben. Die Credit Unions hätten diese Entwicklung – von ein paar Ausnahmen abgesehen – bisher nicht mitgemacht. Denn im Unterschied zur Coop-Bank zum Beispiel, die ihre Finanzdienstleistungen allen anbietet, orientieren sich die demokratisch strukturierten Credit Unions allein an den Bedürfnissen ihrer Mitglieder.

Schon deswegen hätten die Spar- und Kreditgenossenschaften eine Falle vermeiden können, «in die viele gemeinwirtschaftlichen Unternehmen tappten, die zu gross, zu fett und zu faul wurden», sagt Lyonette und erinnert an Wohnbaugenossenschaften wie Halifax und Alliance & Leicester oder an die frühere Gemeinschaftsbank Northern Rock, die das Gemeinnützigkeitskonzept ablegten, zu profitorientierten Banken mutierten und in der letzten Krise kollabierten.

Mark Lyonette weiss also um die Gefahren des Wachstums. Die meisten der über 330 Credit Unions, die sein Verband vertritt, sind in den letzten zwanzig Jahren entstanden. Ein paar Arbeitersparvereine gab es schon früher, aber so richtig Fuss gefasst hat das Konzept der gegenseitigen Finanzhilfe in Britannien erst Ende der achtziger Jahre. «Im Grunde genommen ist es auch keine linke Idee», sagt er, sondern eine rechte: «Dass sich die Menschen selber helfen und nicht auf den Staat verlassen sollten – dieser Ansatz entstand im viktorianischen Zeitalter.» In den USA, in Kanada oder in Irland zum Beispiel sind die Credit Unions im Durchschnitt grösser, aber auch etablierter und seit langem Mainstream. In Nordengland, Wales und vor allem in Schottland hingegen sind sie noch in der Arbeiterbewegung verankert.

Krisengewinnler und Krisenopfer

«Wir haben einen zentralen Vorteil gegenüber allen anderen Finanzinstitutionen – wir zahlen keine Direktionsgehälter und müssen nicht die Profitinteressen von Aktionären bedienen.» Und genau dieser ökonomische Aspekt müsse auch künftig im Vordergrund stehen, sagt der ABCUL-Chef: «Er ist wichtiger als die ethische Komponente.» Wenn eine Credit Union zu viel Profit erwirtschaftet, weil sie Spareinlagen zu niedrig verzinst oder zu hohe Kreditzinsen verlangt, dann arbeite sie ineffizient – «das aber ist nicht im Interesse der Mitglieder, und die springen dann ab.»

In Schwierigkeiten gerieten in den neunziger Jahren vor allem Credit Unions, die von mitfühlenden MittelständlerInnen gegründet worden waren und deren Vorstände sich dann wunderten: Wir sind viel billiger als die privaten Geldverleiher, warum strömen die Bedürftigen nicht zu uns? «Weil der Service miserabel war, das Büro irgendwo abseits lag und nur zwei Stunden in der Woche geöffnet hatte», sagt Lyonette; der Geldverleiher an der Haustür aber ist stets präsent, zeigt sich bei der Rückzahlung flexibel und lehnt Kreditbegehren nie ab. «Die Kosten sind für die Armen zweitrangig. Sie wissen, dass sie für alles mehr zahlen müssen als andere, das gehört zum Armsein dazu.»

Und die Krisen? «Die Bankenkrise hat uns genützt», sagt Lyonette, «die Zuwachsraten waren phänomenal, vor allem die grösseren und sichtbaren Credit Unions profitierten davon, weil viele Leute ihre gesamten Guthaben transferierten. Da wir inzwischen streng reguliert sind, ist ihr Geld bei den Credit Unions sicher.» Die Rezession hingegen habe die kleinen Credit Unions gebeutelt.

«Die letzten zwei Jahre haben uns hart getroffen», sagt Carol Cosham von der kleinen Trafford United Credit Union. «Viele unserer Mitglieder haben ihren Job verloren und können ihre Kredite nicht zurückzahlen. Früher hatten wir eine Ausfallquote von höchstens zwei Prozent, jetzt sind es sieben. Wir schreiben die Gelder nicht ab, aber wir müssen warten. Wer auf Sozialhilfe angewiesen ist, hat kaum noch Spielraum.»

Und doch ist Cosham, eine ehemalige Bankerin, optimistisch. Ihr Büro befindet sich im Shrewsbury Street Center mitten in Manchesters Arbeiterviertel Old Trafford; etwa 1100 Mitglieder zählt die Kooperative, und jedes Jahr kommen hundert dazu. Besonders am Herzen liegen ihr die 150 Kinder, die jede Woche ihr Sparschwein vorbeibringen. Die vierzig Ehrenamtlichen der Kooperative besuchen regelmässig Schulen und veranstalten Kinderpartys. «Es ist wichtig, dass die Kids mit Geld umgehen lernen», sagt Cosham, denn immer wieder habe sie es mit AntragstellerInnen zu tun, vor allem alleinerziehenden jungen Müttern, «die keinerlei Gespür für ihre finanziellen Verhältnisse haben, hoch verschuldet sind und mit völlig überzogenen Erwartungen zu mir kommen».

Manchmal käme sie sich wie eine Grossmutter vor, die unerwünschte Ratschläge erteilt, erzählt die Direktorin, die für ihre Tätigkeit ein kleines Gehalt bezieht – ein Bruchteil dessen, was die Fünfzigjährige früher verdiente. Seit sieben Jahren diene sie nun der Gemeinschaft, sagt sie und strahlt: «Im alten Job würde ich nie wieder arbeiten wollen.»



Besser als eine Bank

800 000 Mitglieder, 550 Millionen Pfund Einlagen, ein Gesamtkreditvolumen von 450 Millionen – die rund 500 britischen Credit Unions haben sich in den letzten Jahren zu einer gesellschaftlichen Kraft entwickelt, die auch die Politik nicht mehr ignorieren kann.

Die Spar- und Kreditgenossenschaften (ihre Mitgliederzahlen reichen von 100 bis 25000) basieren alle auf dem gleichen Prinzip, bedienen aber verschiedene Klientelen. Es gibt gewerkschaftliche Credit Unions, die allein den Gewerkschaftsmitgliedern vorbehalten sind; arbeitsplatzorientierte Kooperativen für die Beschäftigten von Grossunternehmen (wie British Airways) oder staatliche Behörden (beispielsweise die Post und die Polizei) und quartierbezogene Genossenschaften, denen alle beitreten können, die in der Stadt- oder Kirchengemeinde leben oder arbeiten.

Die Credit Unions sind zwar weiterhin auf Geschäftsbanken angewiesen (sie wickeln, weil sie keine eigenen Tresore haben, den Geldverkehr in der Regel über eine Bankfiliale im Quartier ab), verstehen sich jedoch als Alternative: «Wir sind keine Bank, wir sind besser», heisst der Werbespruch der Riverside Credit Union im Süden von Liverpool.

In den letzten Jahren haben eine Reihe von Gesetzesänderungen die Credit-Union-Bewegung gestärkt: Die von Labour gegründete Finanzmarktaufsichtsbehörde FSA reguliert seit 2002 auch die Credit Unions und kontrolliert ihre Bilanzen; dafür garantiert die Regierung auch bei einer Insolvenz die Guthaben. Eine weitreichende Reform war für diesen August vorgesehen: Credit Unions sollten nicht nur Einzelmitglieder, sondern auch Kleinbetriebe aufnehmen und eine Verzinsung der Spareinlagen zusagen können. Doch dieses Vorhaben liegt seit dem Regierungswechsel auf Eis. Bereits kassiert hat das konservativ-liberale Kabinett einen weiteren Labour-Plan: Im Juli sollte das Sparförderprogramm Saving Gateway umgesetzt werden. Es versprach KleinsparerInnen in Credit Unions einen kleinen Zuschuss. Das dafür vorgesehene Geld in Höhe von ein paar Millionen könne sich der Staat nicht leisten, verkündete der konservative Schatzkanzler George Osborne im Juni.

Wirtschaft zum Glück

Die WOZ-Serie «Wirtschaft zum Glück» stellt seit Frühjahr 2009 nachhaltige Produktions- und Eigentumsformen, neue Ideen für eine neue Ökonomie und ökologisch sinnvolle Projekte vor. Finanziert wird die Serie aus einem Legat des früheren nachhaltigen Wirtschaftsverbandes WIV.