Samuel Pepys’ Tagebücher: Verliebt ins pralle Leben

Nr. 34 –

Endlich liegt das wohl berühmteste Tagebuch der Welt vollständig auf Deutsch vor: historisch aufschlussreich, schön, obszön und zum Brüllen komisch. Samuel Pepys (1633-1703) sei Dank.


Der legendäre Groucho Marx schilderte einst die Pein, die ihn an vornehmen Abendgesellschaften regelmässig überkam. Das Schlimmste für ihn war, dass er dann nie wusste, wie man den Namen Pepys ausspricht. Pieps? Peips? Peppis? Egal, was er wählte: Sogleich korrigierte ihn jemand. Das verleidete ihm. Und also schwieg er beleidigt, anstatt geistreich-witzige Gespräche zu führen.

Damit Ihnen nicht dasselbe passiert, gleich vorneweg: Man sagt Pieps. Denn es ist so gut wie sicher: Auch Sie werden über Pepys sprechen wollen, sobald Sie ihn kennen. Zumindest ging es schon Tausenden vor Ihnen so. Neben Shakespeare gehört er zu den meistzitierten britischen AutorInnen. Seine Fans reichen von Exbundeskanzler Helmut Schmidt bis hin zur reizenden US-amerikanischen Autorin Helene Hanff. Und sein Tagebuch ist nicht nur eins der ältesten überlieferten überhaupt, sondern wohl auch das berühmteste der Welt.

Amüsante Geschichtslektion

Umso erstaunlicher ist, dass im deutschen Sprachraum bisher nur Auswahlbände erschienen, die mal seine politische, mal seine komisch-obszöne Seite betonten. Und dass es, obwohl diese meist gleich zu Bestsellern avancierten, ganze 341 Jahre brauchte, bis die Pepys’schen Tagebücher nun erstmals vollständig auf Deutsch vorliegen. Aber jetzt tun sie es. Und wir wollen jubilieren.

Denn der Mann – von Beruf Flottenverantwortlicher des britischen Königs – ist nicht nur einer der wichtigsten Zeitzeugen seiner Epoche. Neben den Ereignissen der grossen Politgeschichte hielt er auch die seiner kleinen, privaten Welt fest (die brisanteren Stellen in einer Art Geheimsprache aus Latein, Spanisch und Französisch). Das macht sein Tagebuch nicht nur zur amüsanten Geschichtslektion, sondern auch zu einem zeitweilig hochdramatischen Lesevergnügen, wobei die familiären Katastrophen für Pepys selbst oft weitaus erschütternder waren als jede noch so fatale nationale.

Der vielleicht schwärzeste Tag in seinem Leben war denn auch der 25. Oktober 1668, an dem seine Frau ihn mit der Magd erwischte: «Ausgerechnet in dem Moment, als ich con meiner Hand sub su Rock war und meine main tatsächlich in ihrer Ritze hatte, stand plötzlich meine Frau im Zimmer.» Pepys ist am Boden zerstört, beteuert seiner Elizabeth, die nachts aus dem Schlaf hochschreckt und ihn mit dem glühenden Feuerhaken durchs Zimmer jagt, unter Tränen, er werde nie wieder eine andere auch nur anschauen – um dann am nächsten Tag sogleich herauszufinden, wo das Dienstmädchen inzwischen wohnt. Was seiner Frau natürlich nicht verborgen bleibt.

Wenn sie gewusst hätte, was er sonst noch so alles anstellte, sie hätte ihn wohl hochkant aus dem Haus geworfen. Sein Schürzenjägertum ist an Dreistigkeit kaum zu übertreffen. Überall findet er hübsche Frauen, und überall stellt er ihnen nach. Besonders gern übrigens – «Gott vergib mir!» – in der Messe. Aber wehe, wenn Pepys seine Frau einmal mit dem Tanzlehrer plaudern statt tanzen sieht. Dann kriegt er sich vor Eifersucht kaum wieder ein.

Nicht weniger unterhaltsam sind seine Schilderungen des Zeitgeschehens, die aufgrund der publizistischen Zensur von König Karl II. zu den wenigen historischen Quellen der Restaurationszeit gehören und sich inzwischen in fast jedem britischen Schulbuch finden.

Durch Pepys’ unverschämt egoistische Sicht auf alles wird Geschichte hier herrlich konkret. So wollen etwa während der Seeschlacht gegen Holland die Frauen englischer Kriegsgefangener sein Haus stürmen, da er dafür verantwortlich scheint, dass ihre Männer während der Gefangenschaft keinen Sold erhalten. Und Pepys’ grösste Sorge ist, ob dies nun wirklich der geeignete Zeitpunkt sei, um seinen Diener loszuschicken, eine Wildbretpastete zu kaufen. Als 1665 eine Pestepidemie London heimsucht und innert kürzester Zeit jedeR fünfte BewohnerIn stirbt, fragt er sich, «wie sich das auf die Perückenmode auswirken wird», da wohl niemand das Haar einer Pestleiche tragen wolle. Und nur ein Jahr später zerstört der berühmte grosse Brand von London vier Fünftel der Stadt. Es herrscht Massenpanik. Doch als Pepys dem König vorschlägt, Häuserzeilen abzureissen, um die Ausbreitung des Feuers zu stoppen, zuckt dieser nur mit den Schultern. Also vergräbt der treue Untertan vorsorglich mal seine wertvollsten Güter im Garten – allen voran seinen Parmesankäse.

Fundgrube für Exklusivitäten

Interessant sind die Tagebücher auch als Dokument des Übergangs von der Feudalherrschaft zur Moderne. Im Umgang mit dem Dienstpersonal, das Pepys nicht nur mit Selbstverständlichkeit schlägt, sondern auch seiner Jungfräulichkeit zu berauben dürfen glaubt, zeigt sich auf erschreckende Weise, wie stark Normen immer vom Zeitgeist abhängen – was auch dazu inspiriert, einen neuen Blick auf die eigene Zeit zu werfen. Beglückt lesen wir zudem, wie Pepys auf dem Heimweg all den Nachttöpfen ausweichen muss, die man aus den Fenstern auf die Strasse kippt, wie er seinen ersten Tee – «ein chinesisches Getränk» – schlürft oder eine Uhr erwirbt: «Mein Gott, wie eitel und kindisch ich bin, dass ich den ganzen Nachmittag in der Kutsche die Uhr in der Hand halten und wohl hundertmal nachsehen musste, wie spät es war.»

Eine Fundgrube für historische Exquisitäten sind die Schriften auch deshalb, da Pepys sich für alles interessiert, was ihm begegnet – und zwar für alles leidenschaftlich. Er, der spätere Brieffreund Isaac Newtons, besucht Parlamentsdebatten, Museen, medizinische Experimente, besichtigt das erste Aquarium, rennt an jede öffentliche Hinrichtung, ist regelrecht süchtig nach Theater und sein Kopf «ganz voll davon, eine Theorie der Musik zu entwerfen, wie sie noch nie versucht worden ist». Jedes Schauspiel wird zudem fachmännisch kommentiert. So heisst es etwa zu Shakespeares «Romeo und Julia»: «Das schlechteste Stück, das ich je gesehen habe, dazu schauderhaft gespielt. Habe beschlossen, nie wieder in eine Première zu gehen, weil die Schauspieler dauernd ihren Text vergessen.»

Sentimental und ironisch

Doch Pepys war nicht nur ein selbstgerechter Patriarch. Er sorgte sich oft um andere, auch ihm Untergebene, er liebte seine Frau wirklich, war frei von Neid, dafür furchtbar oft rührig-sentimental und kannte durchaus auch Selbstironie. Beseelt vom Leben und all seinen Möglichkeiten feierte er jeden Tag als das ganz Besondere, das er war, und steigerte schreibend den Wert jedes Erlebnisses noch mal. Ein Ausflug mit Hirtenbekanntschaft, Glühwürmchen und Milch endet so mit dem «schönsten Blumenstrauss, den ich je gesehen habe», Flötenweisen rühren ihn zu Tränen, und begeistert zählt er die Anzahl Wachteleier auf, die seine Frau ihm servierte.

Als Pepys aus Angst vor Erblindung das Tagebuchführen nach neun Jahren aufgibt, schreibt er: «So beschreite ich denn diesen Weg, der mir fast vorkommt, als ginge ich in mein eigenes Grab.» Dass sein Tagebuch ihn überlebt hat, ist unser aller grosses Glück.

Samuel Pepys: Die Tagebücher 1660–1669. Vollständige deutsche Ausgabe in neun Bänden. Mit Begleitbuch, Anmerkungen und Karten. Haffmans & Tolkemitt bei Zwei­tau­send­eins. Frankfurt am Main 2010. 4416 Seiten