Trivialliteratur: Fremdarbeiter als Staffage behandelt

Nr. 39 –

Mit seinem Roman «Massimo Marini» versucht der Schriftsteller und Unternehmer Rolf Dobelli, aus der helvetischen Zeitgeschichte Kapital zu schlagen. Ein Lehrstück über die Anfertigung von Kitsch.


Sie kamen in Scharen. Um die 100 000 italienische Emigrantinnen und Emigranten wanderten ab 1955 auf der Suche nach Arbeit, Verdienst und einem besseren Leben Jahr für Jahr in die Schweiz ein, damals noch im Status von Saisonniers mit beschränkter Aufenthaltsbewilligung. Es war die erste Generation der Zuwanderer. Viele von ihnen sind inzwischen, samt ihren Nachkommen, Schweizerinnen und Schweizer.

Doch seltsam: Die Schweizer Literatur hat nie prominent Kenntnis genommen von dieser Völkerwanderung. Immerhin existiert ein einzigartiges Zeugnis, das Buch «Siamo italiani» von Alexander J. Seiler, entstanden 1965 als Nebenprodukt des gleichnamigen Dokumentarfilms. Im Vorwort von Max Frisch findet sich ein Merksatz, der noch heute oft zitiert wird: «Ein kleines Herrenvolk sieht sich in Gefahr: Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen.»

Jetzt aber widmet Rolf Dobelli, 44, den italienischen ImmigrantInnen die epische Familiensaga «Massimo Marini». Sowohl im Nachwort des Romans als auch in Interviews beruft sich der Autor, im Industrieort Emmenbrücke aufgewachsen, auf seine frühe Begegnung mit der Kultur der Fremdarbeiter und tut so, als wollte er ihnen ein Denkmal setzen.

Vermarktung total

Und so geht die Geschichte: Massimo, Sohn apulischer EmigrantInnen, reist 1959 illegal in die Schweiz ein – als viermonatiger Säugling in einem Koffer mit Luftlöchern – und bringt es hier zum gefeierten Bauunternehmer. Die eher exotischen Stationen dieser Tellerwäscherkarriere bilden das Philosophiestudium in Paris, die Jugendunruhen in Zürich 1980/81 und die Demos gegen die Nachrüstung 1982 in Bonn. Später baut Massimo den Gotthard-Basistunnel. Vor dessen Fertigstellung wird sein Sohn Raffael wie bei einer Aktion der Roten Brigaden entführt; die Kidnapper verlangen, dass die SBB nie einen Zug mit radioaktiven Abfällen durch den Tunnel fahren lässt.

«Ein umfassendes Gesellschaftspanorama» glaubt der Diogenes-Verlag da vor sich zu haben. Aber Immigration, Schwarzenbach-Initiative, Opernhauskrawall, Anti-Atom-Demos und Rote Brigaden sind für Dobelli lediglich Staffage. Wichtiger sind ihm der Spermienfleck auf dem Slip einer Aktivistin, über den sich ihre Genossen – angekettet an die Eisenbahnschienen in Cuxhaven – verkrachen, und der erste Orgasmus von Massimos Frau Julia, einer begnadeten Cellistin aus dem Geschlecht der Bodmers, den ihr der 15-jährige Stiefsohn Raffael bereitet, wobei er sie auch gleich noch schwängert. Welcher Stellenwert da der Zeitgeschichte zukommt, illustriert am besten, dass Dobelli die Autorschaft an den Achtzigerparolen «Nieder mit den Alpen! Freie Sicht aufs Mittelmeer!» und «Macht aus dem Staat Gurkensalat!» explizit seinem Massimo zuschreibt.

Plumpe Mache also, und das im angesehenen Diogenes-Verlag, wo man neuerdings auch nicht vor schlimmsten Plattitüden zurückschreckt: Bei Dobelli, dem selbst ernannten Fremdarbeiter-Versteher, ist der süditalienische Immigrant generell «emsig», der kleine Raffael gleichzeitig «stark wie ein junges Pferd und rosig wie ein Apfel» und die Geborgenheit in der mediterranen Familie «unwiderstehlich».

Verlag und Autor lancieren das Machwerk exakt auf den Termin des finalen Durchschlags beim Gotthard-Tunnelbau, auf den 15. Oktober, den Tag, an dem sich die Bohrmaschine in Dobellis Poesie «durch das letzte, zarte Felshäutchen schrammt». Dobelli selbst hat sich, wie man hört, erfolglos angedient, bei der offiziellen Feier aus seiner Kitschoper vorlesen zu dürfen – vor versammelter Prominenz und vor Dutzenden von Fotografen und TV-Kameras.

Denn auf das Vermarkten versteht sich unser Autor, der auf www.dobelli.com exakt 150 Belobigungen seiner literarischen Selbstversuche auflistet, besser als aufs Schreiben. Das beginnt schon bei seinem Namen, den er vom ländlich-biederen Döbeli ins schnittige, gestylte Dobelli globalisiert hat. Zuerst im Management der Swissair tätig, gründete er die Firma getAbstract, die die Weltliteratur – von den «Buddenbrooks» bis zum «Stiller» – als «Klassiker kompakt» auf Heftchenformat eindampft.

Dass es ihm auch im neuesten Œuvre um Marken und Marketing geht und nicht um eine Hommage an die italienischen FremdarbeiterInnen, merkt man auf fast jeder Seite des Buches. Gegessen wird hier permanent in der Zürcher «Kronenhalle», das Sportboot auf dem Zürichsee ist «vom Typ Boesch, Schweizer Fabrikat aus Mahagoni», und die IWC Typ Aquatimer stammt aus der «limitierten Auflage mit dem blau-orangen Zifferblatt». Beim Film nennt man so etwas Product Placement und lässt sich dafür bezahlen.

Die Sonntagspresse macht mit

Auch die bisherige Rezeption des Werks lässt eher an Produktevermarktung denken als an Literaturkritik. Die «SonntagsZeitung» brachte einen «exklusiven Vorabdruck», der «SonntagsBlick» ein Gefälligkeitsinterview, in dem Dobelli einmal mehr auf seine geistige Nähe zu Max Frisch hinweisen und sein Buch als «griechische Tragödie» anpreisen durfte. «Die Lektüre hinterlässt ein gutes Gefühl», befand die in Luzern erscheinende «Zentralschweiz am Sonntag».

Was ist Kitsch und was vermag Kitsch? Und warum kann Kitsch mitunter erfolgreich so tun, als sei er keiner? Der Erfolg von Dobellis literarischer Hochstapelei, die wohl in Kürze die Bestsellerliste ziert, wird uns da vielleicht zu neuen Erkenntnissen verhelfen.

Rolf Dobelli: Massimo Marini. Diogenes Verlag. Zürich 2010. 380 Seiten. Fr. 38.90