Neue Leitwerte: R.I.P., altes BIP

Nr. 45 –

Ist das Bruttoinlandsprodukt als Messgrösse am Ende? Verschiedene alternative Indices sollen den mangelhaften Leitwert ersetzen und statt Wirtschaftswachstum das Wohl der Menschen erfassen. Doch wie misst sich Zufriedenheit?


«Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt, wir steigern das Bruttosozialprodukt.» Der Hit aus den achtziger Jahren gibt das wirtschaftliche Mainstreamdenken wieder. Strengen wir uns an, steigt die Wertschöpfung, steigt die Freude. Schliesslich bedeutet Wirtschaftswachstum, dass es den Menschen gut geht.

Wirklich? Diese Logik ist schon lange verdächtig. Seit einiger Zeit gibt es vermehrt internationale Bestrebungen, das Bruttoinlandsprodukt (BIP) als wichtigste aller volkswirtschaftlichen Kennzahlen vom Sockel zu stossen. An sich misst das BIP, heute anstelle des Bruttosozialprodukts verwendet, nur den jährlichen «Gesamtumsatz» einer Wirtschaft. Doch es hat methodische Schwächen. So wird sich die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko – real eine gigantische Wertvernichtung – aufgrund der Ausgaben zur Behebung der Umweltschäden günstig auf das Bruttoinlandsprodukt der USA auswirken. Dasselbe gilt für Epidemien (Gesundheitsausgaben) oder Flugzeugabstürze (Aufwendungen für Rettung und Versicherungen).

Wachstum mit Wohlstand verwechselt

Als weiterer Mangel kommt hinzu, «dass ein BIP-Wachstum in der Politik oft mit Wohlstand gleichgesetzt wird», wie Thomas Braunschweig von der entwicklungspolitischen Organisation Erklärung von Bern (EvB) ausführt: «Diese Gleichung ist aber nicht zulässig. Äquatorialguinea hatte lange Zeit Wachstumsraten von rund zwanzig Prozent pro Jahr. Dennoch leben drei Viertel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze.» Oder wie die indische Wissenschaftlerin Vandana Shiva zur WOZ sagte: «Wenn die Armen ihre Produkte verkaufen und dabei verhungern, wächst die Wirtschaft trotzdem.» (Siehe WOZ Nr. 46/09.) Weil in Indien der Geschäftssektor zusehends von grossen Firmen beherrscht werde, bedeute Wachstum heute Ungleichheit. «Als wir 4,5 Prozent Wachstum hatten, war die Gesellschaft gerechter. Jetzt haben wir 9 Prozent, und die Armen werden ärmer.»

Da von einem steigenden BIP nicht immer alle profitieren, die Verteilungsfrage sogar völlig ausgeklammert wird, ist es kein Indikator für Entwicklung und Fortschritt. Nichtsdestotrotz bejubelt die internationale Finanzgemeinde schnell «wachsende» Schwellenländer oft völlig unkritisch. «Die BIP-Zahlen werden als Basis für die Vergabe von Krediten oder Entwicklungshilfe an Länder des Südens verwendet», kritisiert Braunschweig und fordert, Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit mehr zu gewichten.

Ansatzweise ist das BIP bereits vor zwanzig Jahren durch den Human Development Index (HDI) korrigiert worden, der 1990 unter wesentlicher Mitarbeit des renommierten indischen Ökonomen Amartya Sen entwickelt wurde und seither von der Uno verwendet wird. Der HDI ergänzt das BIP um die durchschnittliche Lebenserwartung in einem Land, die Aussagen über den Gesundheitszustand erlaubt, sowie den Bildungsgrad, repräsentiert durch Alphabetisierungs- und Einschulungsrate.

Keine Aussagen machen BIP wie HDI über die Nachhaltigkeit einer Volkswirtschaft: So steigt das BIP von Äquatorialguinea, ähnlich wie das Russlands, nur dank der Ausbeutung natürlicher Ressourcen. Hat solches Wachstum Zukunftspotenzial? Kaum. Ein brauchbarer Index müsste die Vernichtung von natürlichen Werten integrieren, da diese dem Land künftig fehlen.

Warum bessere Kennzahlen wichtig wären, begründete Ökonomie-Nobelpreisträger Joseph Stiglitz im Mai 2010 im «New York Times Magazine» so: «Was wir messen, beeinflusst, was wir tun.» Solange nur das Bruttoinlandsprodukt zählt, kurbelt die Politik weiterhin blind das Wachstum an. «Bessere Messmethoden führen zu besseren Entscheidungen», sagte Stiglitz. Und die sind gefragt. Die Länder des Südens sollten nicht blind dem Wachstumsmodell des Nordens folgen. Und in den wohlhabenden Ländern nimmt das Wohlbefinden der Menschen trotz Wirtschaftswachstum nicht zu, wie der Ökonom Mathias Binswanger erklärt. Diverse Studien zeigen: Während der Wohlstand stieg und stieg, stagnierte die Zufriedenheit.

Was ist Wohlbefinden?

Was ist zu tun? Es ist an der Zeit, das Wirtschaftswachstum nicht länger als für das gesellschaftliche Wohlergehen entscheidenden Faktor zu betrachten. Wie Wohlbefinden definiert wird, ist jedoch eine offene Frage, über die NGOs und staatliche Institutionen debattieren. Ja, es scheint beinahe schick, gegen das BIP loszuziehen: Sogar Nicolas Sarkozy, beileibe nicht als Mann des sozialen Fortschritts bekannt, hat eine Kommission einberufen, die alternative Kennzahlen finden soll.

Das kleine Himalaja-Land Bhutan propagiert statt dem Bruttoinlandsprodukt sogar offiziell das «Bruttonationalglück», bei dem Gerechtigkeit, Umweltschutz, Bildung und gute Regierungsführung zählen. Das auf der buddhistischen Philosophie basierende Modell dürfte für westliche Staaten jedoch kaum umsetzbar sein.

Gemeinsam ist den diversen Ansätzen für neue Kenngrössen eines: Die Lebensqualität rückt gegenüber dem Materiellen in den Vordergrund.

Der glückliche Planet

Das gilt insbesondere auch für den «Happy Planet Index» (HPI). Er will messen, was «wirklich zählt für uns und den Planeten», und verwendet deshalb drei Kriterien: die Lebenserwartung, die Zufriedenheit und den ökologischen Fussabdruck.

Hinter dem HPI steht die New Economic Foundation (NEF) aus London, unterstützt von Friends of the Earth. Wie schaffte es der kleine «Think-and-do-Tank», einen globalen Index zu erstellen? Mit bereits existierenden Forschungsdaten, sagt Nic Marks: «Wir haben den Happy Planet Index 2006 mit nur 30 000 Pfund Budget gestartet. Das Interesse war riesig, wurde die Publikation doch mehr als hunderttausendmal runtergeladen.» Organisationen wie der WWF begrüssen die Berücksichtigung des ökologischen Fussabdrucks im HPI. Umstritten ist jedoch die Messung von Zufriedenheit, weil dafür kaum wissenschaftliche Methoden existieren. Marks erklärt, die NEF wolle in erster Linie die Frage nach dem Wohlbefinden innerhalb ökologischer Grenzen thematisieren. «Wir verteufeln das BIP nicht. Doch in Zukunft sollte anstelle des Wirtschaftswachstums das menschliche Wohlergehen das zentrale politische Motiv sein.»

Tatsächlich überrascht die globale Länderrangliste nach HPI, die 2009 in zweiter Auflage erstellt wurde: Costa Rica steht auf Platz eins. Die Schweiz folgt auf Rang 52; beim BIP pro Kopf dagegen liegt sie an vierter Stelle. Auffällig ist die gute Platzierung lateinamerikanischer Länder: Die dortige Bevölkerung erreicht hohe Zufriedenheitswerte und lebt ökologisch gesehen auf kleinem Fuss. Bei genauerer Betrachtung der Rangliste zeigt sich aber, dass weder die sozialen Verhältnisse in einem Land noch die gesellschaftliche Verteilung von Umweltbelastungen erfasst werden. Daher wird auch der HPI kaum zur tauglichen Alternative zum BIP.

Bis zur tatsächlichen Ablösung des Bruttoinlandsprodukts ist es noch ein weiter Weg. Das BIP wird weltweit nach einheitlichen Standards gemessen. Zur Anerkennung eines neuen Indexes wäre ein globaler politischer Konsens notwendig, der weit entfernt scheint. Der – politisch wohl gewichtigste – Ansatz der Stiglitz-Kommission sieht daher vor, das BIP bestehen zu lassen, aber mit einer Reihe von weiteren Kriterien zu ergänzen.

Wenn das BIP auch Mängel habe, so sei es immerhin eine präzise Kennzahl, die sich für die konjunkturelle Steuerung eigne, argumentieren ÖkonomInnen. Mathias Binswanger sieht das BIP als sinnvolle Grösse für die Messung der Wertschöpfung in einem Land, «die aber nichts über die Zufriedenheit oder das Glück der Menschen aussagt». Allerdings seien diese Faktoren nur schwer messbar, und man werde sie nie präzis in einem Index erfassen können.

Ist, wer von einem neuen Leitindex träumt, eher ein Utopist oder der Vorbote einer neuen Zeit? Der Schritt zu einer ökologischen Welt werde grösser sein als der von der Agrar- zur Industriegesellschaft, glaubt Nic Marks von der NEF: «Uns geht es darum, eine neue Geschichte zu erzählen.» Eine Geschichte von einer Wirtschaft, die wirklich den Menschen dient.


BIP ade: neue Kennzahlen

Eine chronologische Übersicht ausgewählter Messgrössen, die das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ersetzen oder ergänzen sollen.

Das «Zentrum für gesellschaftlichen Fortschritt» aus Deutschland lanciert im November 2010 einen neuen Index. Kriterien: Einkommen, Gesundheit, Bildung und Umwelt.

Auf einer staatlichen deutschen Initiative beruht der Nationale Wohlfahrtsindex (NWI). Themen: soziale Gerechtigkeit, unbezahlte Arbeit, Umwelt und Ressourcen.

Im Auftrag der französischen Regierung arbeitet die Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission seit 2009 an neuen Kennzahlen zu Themen wie Gesundheit, Bildung, Umwelt, Arbeit, materielles Wohlergehen, politisches Engagement, zwischenmenschliche Beziehungen.

2006 wird der erste globale Happy Planet Index veröffentlicht.

Der Human Development Index (HDI) der Uno misst seit 1990 die weltweite menschliche Entwicklung. Kriterien: BIP pro Kopf, Lebenserwartung und Bildungsgrad.

In den siebziger Jahren kreierten James Tobin und William Norhaus den Measure of Economic Welfare (MEW). Seine Kriterien: Einkommensverteilung, unbezahlte Arbeit, Gesundheit, Bildung, Umwelt, Ressourcen.