Care-Arbeit: Die Hälfte der Arbeit wird nicht bezahlt

Nr. 46 –

Ohne Erziehungs-, Pflege- und Hausarbeit ist ein gutes Leben nicht möglich. Diese Bereiche lassen sich nicht nach der kapitalistischen Logik organisieren. Ein Plädoyer für andere Prioritäten.


Kochen, putzen, Kinder betreuen, Kranke pflegen: Diese Arbeiten gewährleisten das Überleben und das tägliche Wohlbefinden von Menschen. Bezahlt oder unbezahlt sind sie die Voraussetzung für die Produktion von Gütern genauso wie für einen guten Lebensstandard. Die feministische Ökonomie bezeichnet sie als Care-Arbeit.

2004 wurden in der Schweiz 53 Prozent der Bruttowertschöpfung im bezahlten Sektor erwirtschaftet, enorme 47 Prozent im unbezahlten Sektor. Fast die Hälfte der in der Schweiz geleisteten Arbeit wird also unbezahlt erbracht.

Zwei Drittel der unbezahlten Arbeit werden aktuell von Frauen geleistet. Die Bruttowertschöpfung der unbezahlten Frauenarbeit ist etwa dreimal so hoch wie jene des gesamten Banken- und Versicherungssektors. Würden Frauen ihre unbezahlte Arbeit nur um 10 Prozent kürzen, hätte das dieselbe Auswirkung auf das Bruttoinlandsprodukt wie die Schliessung sämtlicher Einrichtungen des bezahlten Gesundheits- und Sozialwesens.

Doch wie hängt die Care-Arbeit mit dem Rest der Wirtschaft zusammen?

Ein Lohn reicht nicht mehr

Eine dauernde Steigerung der Arbeitsproduktivität ist zentral für das Erzielen wirtschaftlicher Profite. Bereits Mitte der siebziger Jahre verlangsamte sich dieser Prozess. Der Ökonom Jochen Hartwig hält fest, dass der Rückgang des Wirtschaftswachstums «fundamental produktionstechnische Ursachen» habe: Die technischen Rationalisierungsmöglichkeiten sind allmählich ausgeschöpft.

Mit der nachlassenden Produktivitätssteigerung in der Industrie und sinkenden Löhnen reichte ein Lohn pro Haushalt nicht mehr. Damit war das Konzept des Ernährerlohns überlebt. Die Teiltechnisierung der Hausarbeit, die schwindende Attraktivität der Kleinfamilie und gesellschaftliche Individualisierungsprozesse trugen weiter dazu bei, dass mehr Frauen auf den Arbeitsmarkt stiessen. Nun mussten Tätigkeiten, die sie zuvor gratis geleistet hatten, bezahlt werden.

Dabei ergab sich ein Problem: Der Zeitaufwand für personenbezogene Dienstleistungen lässt sich durch den Einsatz von Maschinen kaum verringern. Denn «Care ist nicht die Produktion eines Produkts (Subjekt-Objekt-Verhältnis), sondern die Entwicklung einer Beziehung (ein Subjekt-Subjekt-Verhältnis)», wie die deutsche Politikwissenschaftlerin Silke Chorus schreibt. Das jedoch ignorieren ÖkonomInnen und PolitikerInnen, wenn sie die Kostenexplosion im Gesundheitswesen beklagen. Denn diese ist nicht auf eine Verteuerung der Leistungen zurückzuführen, sondern lediglich darauf, dass die Kosten dieser Leistungen nicht gleich stark gesunken sind wie die Kosten der Güterproduktion. Verschärfend kommt hinzu, dass mit der erhöhten Erwerbstätigkeit von Frauen die Nachfrage nach Care-Dienstleistungen laufend steigt.

Doch sogar Gewerkschaften erliegen dem Mythos, dass sich die Effizienz im Gesundheitswesen massiv steigern lasse. Wenn der Schweizerische Gewerkschaftsbund Managed-Care-Modelle propagiert, führt er die steigenden Kosten auf teure Arztkonsultationen und medizinische Untersuchungen zurück. Dabei ist es primär die Pflege, die zur Kostensteigerung im Gesundheitswesen beiträgt. Und diesen Sachverhalt kann man ohne massiven Lohndruck nicht ändern.

Berufssparten, die kaum wertschöpfend sind, weil darin die Produktivität nicht im gleichen Mass gesteigert werden kann wie in der Güterproduktion, weisen in der Regel auch ein geringeres Lohnniveau auf. Solange sich die Lohnhöhe an der monetären Wertschöpfung, also der Kapitalakkumulationsquote, orientiert, wird das auch so bleiben. Wo sich kein Kapital akkumulieren lässt, braucht es andere gesellschaftliche Lösungen.

Seit der Zeit des Fordismus hat sich die Gesamtarbeitszeit pro Haushalt erhöht: Zusätzlich zu den fast gleich gebliebenen Hausarbeitsstunden leisten heute die meisten Frauen viele Erwerbsarbeitsstunden. Die Unvereinbarkeit von Beruf und Familie ist eine Folge ökonomischer Dynamiken. Doch diese Tatsache wird in schönen Begriffen wie «Work-Life-Balance» verschleiert und ans Individuum delegiert: Mit effizienter Organisation soll frau ihren Alltag durchstrukturieren, ja selbst in der Freizeit ihre Produktivität «freiwillig steigern». Dies wirkt sich fatal auf politische Mobilisierungsmöglichkeiten aus.

Eine gewisse Umverteilung der unbezahlten Arbeit findet zwar statt, jedoch nicht von Frau zu Mann, sondern von Frau zu Frau: Immer öfter übernehmen Migrantinnen Haus-, Pflege- und Betreuungsarbeiten.

Andere Verteilungskämpfe

Die traditionelle Gewerkschaftspolitik war auf die Verteilung von Gütern konzentriert. Umkämpft sind heute in industrialisierten Ländern aber weniger materielle Güter als personenbezogene, bezahlte wie unbezahlte Dienstleistungen, eben die Care-Arbeit. Besonders ungleich verteilt sind dabei die Arbeitsbelastung und deren Entlöhnung. Den meisten Beteiligten ist jedoch nicht klar, was ihre permanente Zeitnot mit den Akkumulationsbedürfnissen des Kapitals zu tun haben soll. Es wäre eigentlich Aufgabe der Gewerkschaften, genau dies verständlich zu machen. Sie konzentrieren sich jedoch meist auf die Erwerbsarbeit.

Heute sind in zentraleuropäischen Ländern etwa ein Viertel aller in Lohnarbeit erstellten «Produkte» personenbezogene Dienstleistungen. Und dieser Anteil steigt laufend. Diese Dienste lassen sich nicht innerhalb der kapitalistischen Logik erbringen – oder nur um den Preis eines massiven Lohndumpings oder einer ebenso massiven Verteuerung dieser Leistungen. Doch das würde sie für die Mehrheit der Bevölkerung unerschwinglich machen. Von diesem Problem sind nicht bloss ärmere Bevölkerungsschichten, sondern die grosse Mehrheit der Bevölkerung betroffen.

Aus einer links-feministischen Perspektive braucht es deshalb grundsätzliche Veränderungen: Das Verhältnis zwischen kapitalistischer Güterproduktion und den personenbezogenen Dienstleistungen muss neu organisiert werden. Denn wenn für das Spannungsverhältnis zwischen diesen beiden Bereichen keine befriedigende Lösung gefunden wird, führt dies zu verschärften Formen der Ausbeutung.

Rauf mit der Staatsquote

• Grundsätzlich ist die Annahme falsch, dass Wirtschaftswachstum allen zugutekomme und zu mehr Geschlechter- und sozialer Gerechtigkeit führe. Höhere Produktivität, die für die Kapitalrenditen interessant ist, hat historisch gesehen oft zu mehr Armut geführt und nicht wie behauptet zu Wohlstand.

• Die Wirtschaftszweige, die personenbezogene Dienstleistungen anbieten, haben heute das grösste Wachstumspotenzial. Gleichzeitig sind dies jene Branchen, in denen keine Profite für die Privatwirtschaft zu erzielen sind. Für eine links-feministische Wirtschaftspolitik heisst das: Eine massive Erhöhung der Staatsquote ist notwendig. In der Regel führt eine hohe Staatsquote zu mehr Geschlechtergerechtigkeit in der Erwerbsarbeit, weil eine Umverteilung von wertschöpfungsstarken zu wertschöpfungsschwachen Berufssegmenten stattfindet – was gleichzeitig Frauen von Gratisarbeit entlastet. So kann verhindert werden, dass sich ein neuer Niedriglohnsektor festigt.

• Um die Kaufkraft und damit die Binnennachfrage zu heben, schafft der Staat traditionellerweise mittels eigener Investitionen Arbeitsplätze in der Konsum- und Güterindustrie oder der Bauwirtschaft. Der Ökonom John Maynard Keynes ging in den dreissiger Jahren von einer Binnennachfrage aus. Sie ist heute für globalisierte Länder wie die Schweiz nicht mehr gegeben: Die Güterindustrie in der Schweiz produziert mehrheitlich fürs Ausland, gleichzeitig werden viele Güter importiert. Die einzige nach wie vor steigende Nachfrage im Inland ist jene nach Care-Dienstleistungen, die lokal erbracht werden müssen. Deshalb haben staatliche Konjunkturprogramme hier anzusetzen: Es müssen Arbeitsplätze in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Soziales geschaffen werden statt in der Konsum- und Güterindustrie.

• Die Kaufkraft kann jedoch nicht nur über Arbeitsplatzbeschaffung, sondern auch über die staatlich geförderte Vergünstigung von Care-Dienstleistungen gesteigert werden. Wer viel Geld für teure Care-Dienstleistungen ausgeben muss, hat weniger für Güter- und Freizeitkonsum zur Verfügung.

• Ein Teil der Care-Arbeit wird unbezahlt bleiben. Dieser muss gerecht verteilt werden. Deshalb ist eine massive Erwerbsarbeitszeitverkürzung für alle angezeigt.


* Dieser Text ist im Rahmen des Seminars «Geschlechterverhältnisse im Neoliberalismus» entstanden, das von der Gewerkschaft VPOD Zürich unter der Leitung von Tove Soiland angeboten wurde. Zur Autorinnengruppe gehören Silvia Amsler, Iris Bischel, Diana Hornung, Bea Rüegg, Katja Schurter, Tove Soiland und Magda Vogel. Der Text wurde gekürzt und überarbeitet von Bettina Dyttrich.

Der Originaltext ist erschienen im Denknetz-Jahrbuch 2010 und lässt sich herunterladen: www.tinyurl.com/denknetz-care.

Die Konferenz

Care-Arbeit stand im Zentrum der Frauenkonferenz der Gewerkschaft VPOD, die am 12. und 13. November in Lausanne stattfand: einerseits die Vereinbarkeit von Erwerbs- und unbezahlter Care-Arbeit, anderseits die bezahlte Pflegearbeit, in der Migrantinnen eine grosse Rolle spielen. Ihre Arbeit müsse anerkannt und anständig bezahlt werden, fordern die VPOD-Frauen.

Ausserdem verabschiedete die VPOD-Frauenkonferenz einen Antrag für eine «Wende zur Care-Gesellschaft» an die VPOD-Frauenkommission. Grundlage des Antrags ist der Text auf dieser Seite. Die Frauenkommission wird beauftragt, am VPOD-Kongress 2011 konkrete Forderungen an den Gesamtverband zu stellen.