England: Der Aufstand der Teenager

Nr. 49 –

Drei Aktionstage in drei Wochen und zwei Dutzend Besetzungen: Schon lange nicht mehr hat es eine so starke englische Schüler- und Studentinnenbewegung gegeben wie die gegen die Gebührenerhöhung. Und selten zuvor waren ihre Ziele so breit gefächert.


Das hätte man der Facebook-Generation nicht zugetraut. Weder eisige Kälte und Schnee noch die Aussicht, erneut von der Polizei eingekesselt und stundenlang festgehalten zu werden, konnten die StudentInnen abschrecken. Zu Tausenden zogen sie letzte Woche durch London, Manchester, Birmingham und andere Städte – es war die dritte landesweite Kundgebung innerhalb von drei Wochen. Die Pläne der konservativ-liberaldemokratischen Regierung, die Studiengebühren in England massiv zu erhöhen, haben die grösste StudentInnenbewegung seit Jahrzehnten entfacht.

«Wir nutzen die elektronischen Medien zur Organisation der Proteste», erklärte Henry Parkyn-Smith, der am Dienstag vergangener Woche auf dem Londoner Trafalgar Square demonstrierte. «Das hat heute gut funktioniert. Bei der Demo letzte Woche konnte uns die Polizei einkesseln, aber heute haben wir mindestens fünf Absperrungen durchbrechen können. Das zeigt doch, wie stark unsere Bewegung ist.» Der Achtzehnjährige hat eben die Mittelschule abgeschlossen und will in einem Jahr mit dem Studium beginnen. Ein grosser Teil der DemonstrantInnen ist noch ein Stück jünger als er: SchülerInnen im Alter von fünfzehn und sechzehn Jahren, denen die Aussicht auf langjährige Schulden Sorgen bereitet, sind zuvorderst mit dabei.

Ihre Befürchtungen sind berechtigt. So kritisiert der universitäre Thinktank Million+ in einer kürzlich veröffentlichten Studie die Pläne der Regierung. Anders als in Schottland, wo die schottisch-nationale Regionalregierung Studiengebühren ablehnt, sollen die Gebühren an englischen Universitäten von derzeit rund 3300 Pfund – umgerechnet 5100 Franken – auf bis zu 9000 Pfund pro Jahr steigen. Diese Massnahme habe eine abschreckende Wirkung auf StudienanwärterInnen aus ärmeren Verhältnissen, hielt Million+ fest. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ipsos Mori kam zum selben Ergebnis: Schon eine Erhöhung auf jährlich 7000 Pfund hätte zur Folge, dass zwei Drittel aller potenziellen BewerberInnen aus der ärmsten sozialen Schicht auf ein Studium verzichten würden. Damit – so sagen die Protestierenden – würde höhere Bildung wieder zum Privileg der Reichen, wie es vor Jahrzehnten der Fall war.

Vom Widerstand überrascht

Dass die Gebührenerhöhung eine solch starke Reaktion hervorruft, hat viele PolitikerInnen verblüfft – nicht zuletzt die LiberaldemokratInnen, die während des Wahlkampfs noch versprochen hatten, eine Erhöhung abzulehnen. Doch nun wird zumindest ein Teil von ihnen dem Vorhaben zustimmen. Kein Wunder, richtet sich der Zorn der StudentInnen gegen die LiberaldemokratInnen im Kabinett, allen voran gegen den Parteivorsitzenden und Vizepremier Nick Clegg. Aber auch die Konservativen sind Ziel der Proteste, wie sich am ersten Aktionstag Mitte November zeigte, als Jugendliche die Tory-Parteizentrale stürmten.

«Wir werden unsere Kampagne noch verschärfen», verspricht Clare Solomon, Präsidentin der Studierendenvertretung der University of London, «wir werden vermehrt demonstrieren und zu direkten Aktionen greifen.» In den letzten Wochen ist die 37-Jährige, die erst nach Jahren im Beruf ein Studium aufnahm, zur Anführerin des radikaleren Flügels der Protestbewegung aufgestiegen. «Wir haben die National Union of Students NUS [den Dachverband der StudentInnen] links überholt», sagt Solomon, «jetzt bleibt ihr nichts übrig, als nachzuziehen.» So unterstützt die NUS seit ein paar Tagen alle Formen des friedlichen Protests – auch die Besetzungen von zwei Dutzend Universitäten im Land. Seit über zwei Wochen okkupieren Studierende in Newcastle, Leeds, London, Cambridge und anderen Orten ihre Hochschulen. Die BesetzerInnen geniessen dabei breite Unterstützung. Universitätsangestellte und DozentInnen bekunden ihre Sympathie und beteiligen sich zum Teil an dieser Form des Protests, denn parallel zur Gebührenerhöhung kürzt die Regierung die staatlichen Zuschüsse zu den Lehrbudgets um durchschnittlich achtzig Prozent. Renommierte Einrichtungen wie die London School of Economics, die Ende vergangener Woche besetzt wurde, oder die London School of Oriental and African Studies (SOAS) bekommen möglicherweise gar nichts mehr. Die Gebühren werden dort entsprechend stark angehoben.

Die StudentInnenvereinigung der SOAS zählt zu den politisch aktivsten. Sie engagiert sich seit langem in der Umwelt- und der Antikriegsbewegung und lancierte 2007 eine Kampagne mit dem Ziel, eine angemessene Bezahlung für das Putzpersonal durchzusetzen. Sie war genauso erfolgreich damit wie die Studierenden des University College London, die zu Beginn ihrer Besetzung einen höheren Mindestlohn für die schlecht bezahlten Hilfskräfte verlangten. Die Forderungen, die die SOAS-BesetzerInnen jetzt an die Universitätsleitung richten, zeigen, dass es den Studierenden um weit mehr geht als nur die Gebühren: «Wir sind gegen alle Ausgabenkürzungen im öffentlichen Dienst und bei den Sozialstaatseinrichtungen», heisst es in ihrer Stellungnahme. Stattdessen solle sich die Regierung gefälligst «mit Steuerhinterziehung und Bankerboni befassen».

«Die Regierung darf sich fürchten»

Da die Regierung die höheren Studiengebühren und die Demontage des Wohlfahrtsstaats mit der Notwendigkeit des Defizitabbaus begründet, suchen die StudentInnen den Schulterschluss mit anderen Gruppierungen. Denn nach einem zögerlichen Start kommt nun eine breite Widerstandsbewegung ins Rollen: Ende November fand die Gründungskonferenz der sogenannten Coalition of Resistance statt, die die diversen Kampagnen gegen Ausgabenkürzungen in allen Sektoren koordiniert. Initiiert hat die Koalition der grosse alte Mann der britischen Linken, der mittlerweile 85 Jahre alte frühere Technologie-, Industrie- und Energieminister Tony Benn. Die Konferenz erhielt grossen Zuspruch: 1300 Gewerkschaftsmitglieder aus allen Branchen, Akademiker und Schülerinnen, VertreterInnen der Rentnerverbände und Labour-Abgeordnete, AntikriegsaktivistInnen und Kulturschaffende trafen sich in London, um dem Widerstand gegen das Kürzungsprogramm einen ersten Schub zu verpassen.

An einem Erfolg zweifeln weder die Konferenzteilnehmer noch die Studentinnen. Ihre bisher grösste Demonstration ist für diesen Donnerstag geplant – dann stimmen die Unterhausabgeordneten über die Studiengebühren ab. Die Coalition of Resistance erwartet, dass zahlreiche Gewerkschaften die SchülerInnen und Studierenden unterstützen. So haben Londoner StudentInnenvertretungen und die gewerkschaftlich organisierten Londoner U-Bahn-ArbeiterInnen eine Erklärung verfasst: Sie werden künftig gemeinsam zu den Protesten gegen Gebührenerhöhungen und den Stellenabbau in der Londoner Underground mobilisieren. «Die Regierung hat allen Grund, sich zu fürchten», hofft Henry Parkyn-Smith. «In der Vergangenheit standen Studentenbewegungen oft am Anfang von grösseren gesellschaftlichen Umwälzungen. Das wird auch diesmal so sein.»


Flashmobs in Britannien : Gegen Steuerbetrug

Letzten Samstag waren sie wieder unterwegs: In mehreren Städten marschierten jeweils ein Dutzend AktivistInnen in 22 Filialen der Modekette Topshop. Sie verteilten Flugblätter, pappten sich mit Spezialkleber an Fenster und Türen fest oder zogen den Schaufensterpuppen «Steuerschwindler»-T-Shirts über. Topshop ist Teil der Arcadia-Handelsgruppe des Milliardärs und Regierungsberaters Philip Green, der den Konzern seiner Frau überschrieben hat. Und die hat ihren Wohnsitz in der Steueroase Monaco.

Vor ein paar Wochen hatten die Flashmobs der Initiative UK Uncut, die sich dem Kürzungsprogramm der Regierung und den von ihr akzeptierten Steuerschlupflöchern widersetzt, Vodafone-Shops besucht. Der Mobilfunkkonzern spart dank eines Deals mit den Finanzämtern umgerechnet 9,3 Milliarden Franken an Steuergeldern. Insgesamt entgehen dem britischen Fiskus schätzungsweise jährlich 109 Milliarden Franken durch illegale Steuerhinterziehung und 39 Milliarden durch legale Steuervermeidung wie die Verlagerung von Konzernzentralen. Vergangene Woche hat der US-Konzern Kraft bekannt gegeben, dass er den Sitz seiner britischen Tochtergesellschaft Cadbury’s aus Steuergründen in die Schweiz verlegt – und das mit Zustimmung einer Regierung, die vor allem die Armen für die Bankenrettung bluten lässt. Doch mittlerweile spüren die Unternehmen den überaus populären Protest: Die UK-Uncut-Aktion hat Vodafones Image, so ergaben Umfragen, ziemlich lädiert.

www.ukuncut.org.uk