Durch den Monat mit Guy Krneta (3): Fliegt Ihnen der Stoff für ein Stück zu?

Nr. 50 –

Der Dramatiker und Spoken-Word-Autor Guy Krneta lässt sich schon mal von Wein trinkenden Politikern im Speisewagen inspirieren und findet viel Wahrhaftiges in Erzählungen,
die es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen.

Guy Krneta: «Ich kann nicht irgendwelche Figuren erfinden und denen Sprache in den Mund legen. Ich schreibe Sprachmasken, hinter denen Menschen sichtbar werden.»

WOZ: Herr Krneta, von Ihrem Schreibatelier aus haben Sie einen wunderbaren Blick auf den Rhein. Inspiriert Sie dieser grosse Fluss beim Schreiben?
Guy Krneta: Ich stehe ja nicht oft am Fenster. Wenn ich im Atelier bin, sitze ich am Laptop, die Finger auf der Tastatur, und rede vor mich hin. Meine Inspirationsquelle ist die gesprochene Sprache, es sind einzelne Wörter oder Sätze, die mir einfallen, an die ich mich erinnere, die ich irgendwo notiert habe. Damit arbeite ich. Mit Sprachmaterial, das ich anhäufe, schichte, montiere und das sich im besten Fall beim Arbeiten verselbständigt. Ich bin kein Romancier, sondern Dramatiker und Spoken-Word-Autor.

Wo schnappen Sie solche Wörter und Sätze auf?
Das ist ganz unterschiedlich. Der Auslöser für mein Stück «Das Leben ist viel zu kurz, um offene Weine zu trinken», in dem sich ein SP- und ein SVP-Politiker gemeinsam betrinken und dabei erstaunlich nahe kommen, war beispielsweise eine spätabendliche Zugfahrt von Zürich nach Bern. Zufällig begegneten sich ein SP-Nationalrat und ein SVP-Gemeinderat, die sich nicht kannten, im Speisewagen. Der eine setzte sich zum anderen an den Tisch, sie bestellten Wein. Ich sass daneben und hörte zu. Eigentlich sollte ich in Aarau, wo ich damals gewohnt habe, aussteigen, aber ich bin bis Bern weitergefahren und habe mitgeschrieben. Die­se Notizen bildeten später die Grundlage für das Stück.

Wissen die beiden real existierenden Politiker, dass sie als Vorlage für Ihr Theaterstück dienten?
Ich denke nicht, dass sie sich wiedererkennen würden. Es ist die Situation, die mich angeregt hatte, das Verhältnis zwischen den beiden, ihre Formulierungen, ihre sprachlichen Unfälle, auch ihre halbphilosophischen Ergüsse.

Die Figuren sind also aus der Sprache heraus entstanden? Ich dachte immer, das funktioniere umgekehrt. Man hat eine konkrete Figur und legt ihr dann Sätze in den Mund.
Ich kann nicht irgendwelche Figuren erfinden und denen Sprache in den Mund legen. Da wäre die Gefahr gross, platt zu werden, Funktionsdialoge zu schreiben, die nur einen ausgedachten Plot vorantreiben. Ich schreibe Sprachmasken, oberflächliches Reden, hinter dem Menschen sichtbar werden.

Fliegt Ihnen der Stoff für ein neues Stück immer so zufällig und spontan zu wie auf dieser Zugfahrt?
Manchmal bekommt man solche Begegnungen tatsächlich geschenkt. Meistens aber muss man sie suchen gehen, zum Beispiel durch Recherche. Der Ausgangspunkt meines vorletzten Stücks «Aktion Duback» von 2009 war Ernst Cincera, der in den siebziger Jahren mit sei­ner «Informationsgruppe Schweiz» ein privates Fichenarchiv aufgebaut hatte. Dieser realen ­Figur habe ich mich durch zahlreiche Gespräche – etwa mit seinem Sohn – angenähert. Die Recherche ist dann ziemlich ausgeufert, und das Stück handelte schliesslich von einem verstorbenen Bundesanwalt. Ich hätte eigentlich drei Stücke schreiben können aus dem damals recherchierten Material.

Können real einmal gesprochene Sätze denn einfach so auf die Bühne übertragen werden?
Es geht eben nicht um die naturalistische Wiedergabe des Gesagten, sondern darum, das Spezifische der gesprochenen Sprache auszustellen. Ich denke dabei oft an Peter Weiss, der als Zuschauer am Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main teilgenommen hatte. Er liess nicht das Tonband laufen, was er wohl gar nicht gedurft hätte, er hörte zu, notierte und schrieb dann hinterher Monologe für sein Stück «Die Ermittlung» von 1965. Alle Texte gingen durch ihn hindurch, er gestaltete sie, sortierte sie, rhythmisierte sie. Das ist das Wesentliche dar­an.

Das bedeutet aber doch auch eine Entfernung von dem, was wirklich einmal gesagt wurde. Damit geschieht ja eigentlich eine Fiktionalisierung.
Ja, auch das Dokumentarische ist in der Kunst eine Fiktion. Seit einiger Zeit versuche ich, Geschichten, die mir privat erzählt wurden, nachzuerzählen. Interessant daran ist, dass sich der Fokus der Geschichten verändert, weil eine Geschichte im Alltag immer eine soziale Funktion erfüllt und sich das Erzählen daran orientiert. Wenn ich die Geschichte nacherzähle, stelle ich sie in einen neuen Kontext, ich muss mir die Frage stellen, wer die Geschichte weshalb erzählt.
Interessant ist auch, wie sich mündliche Geschichten aus ihrem konkreten Umfeld lösen. Ich kenne viele Geschichten meines Grossvaters. Eine Weile habe ich diese Geschichten auf ihren historischen Wirklichkeitsgehalt hin zu überprüfen versucht und festgestellt, dass sie einer genaueren Betrachtung nicht standhielten.
Dabei haben die Geschichten aber viel von ihrer ursprünglichen Poesie verloren und liessen sich kaum mehr nacherzählen. Wenn ich heute gehörte Geschichten nacherzähle, schreibe ich eine erste Version auf, ehe ich im Netz überprüfe, wie plausibel sie überhaupt ist. Manchmal lasse ich die Geschichte dann genau so stehen, obwohl ich weiss, wie faktisch fragwürdig sie ist.