Ricardo Piglia: Es gibt kein ganz Woanders

Nr. 3 –

Der neue Roman von Ricardo Piglia spielt 1972 in der argentinischen Provinz. «Ins Weisse zielen» ist trotz Mordfall und Kommissar kein Krimi, sondern ein epischer Gesellschaftsroman.


Im Jahre 2008 erlebte Argentinien die bislang schwerste Krise der Regierung Fernández de Kirchner. Als die Präsidentin die Exportsteuern auf Soja deutlich anheben wollte, gingen kleine, mittlere und grosse Agrarunternehmer im Verbund auf die Barrikaden. Sie erreichten, dass das Gesetz, das eigentlich nur ein präsidentielles Dekret war, dem Kongress vorgelegt werden musste, wo es schliesslich knapp scheiterte.

«Ins Weisse zielen», der neue Roman des 1940 geborenen Ricardo Piglia, spielt auf dem Lande. Es geht darin um Bodenspekulation, Deindustrialisierung, illegale Geldtransfers. Eine lokale Oligarchenfamilie gerät in Verdacht, in einen Mord verwickelt zu sein; ein einflussreicher Staatsanwalt, der früher für diese Familie tätig war, drängt den ermittelnden Kommissar beiseite, zieht den Prozess an sich und sorgt für die Verurteilung eines wohl Unschuldigen. Ein politischer Kommentar in literarischer Form also?

So direkt war das noch nie Ricardo Piglias Sache. Zwar wurde der Roman «Künstliche Atmung», mit dem ihm 1980 der Durchbruch gelang, mitten in der Eiszeit der Militärdiktatur veröffentlicht, der Thriller «Brennender Zaster» erschien 1997 während der neoliberalen Exzesse unter Carlos Menem. Beide Texte aber spielen in unspektakulären, entlegenen Epochen. Die jeweiligen Zeitumstände bei der Lektüre von Piglias Romanen mitzudenken, ist zwar ergiebig, für das Verständnis aber nicht notwendig. Piglias Figuren sind nie einfach nationale Allegorien, und seine Antworten auf aktuelle Fragen gehen ins Grundsätzliche.

Archiv der Boshaftigkeiten

«Ins Weisse zielen» spielt im Jahre 1972, arbeitet sich jedoch an Mythen ab, die bis heute nachwirken. Gegenüber der Tageszeitung «Página/12» hat der Autor von seinen Beobachtungen berichtet, wie im Agrarkonflikt 2008 der alte argentinische Landmythos von den weisen Gauchos und der vermeintlichen Unschuld der Provinz gegenüber der Hauptstadt wieder aufgelebt sei.

Im Roman geht das pointiert los: Es hat schon etwas Komisches an sich, wenn im Einwandererland Argentinien, genauer in einem erst 1905 gegründeten «Dorf voller Basken und piemontesischer Gauchos», jemand Aufsehen erregt, weil er ein Fremder ist. Zwar taucht einer wie Tony Durán, ein reicher, weit herumgekommener Mulato mit karibischem Akzent, hier sicher nicht alle Tage auf. Doch kaum einer im Dorf hat einen Weitblick wie Kommissar Croce, der den schönen Satz von sich gibt: «Er schien von ganz woanders herzukommen, aber es gibt kein ganz Woanders.»

Drei Monate und vier Tage nach seiner Ankunft wird Tony Durán, der einen Koffer voller Dollar bei sich hatte, im Hotelzimmer erstochen aufgefunden. Doch trotz Mordfall und Kommissar ist dieses Buch kein Krimi, sondern ein epischer Gesellschaftsroman mit mehreren Schauplätzen. Viel schmutzige Wäsche wird hier vorgezeigt. Die Lokalpresse torpediert Kommissar Croces störende Ermittlungen, indem sie ihn mit Gerüchten in Verruf bringt. Ein aus der Hauptstadt angereister Journalist wird eingeschüchtert, weil er zu genau nachfragt. Und als dieser Journalist – es ist Emilio Renzi, der in allen Piglia-Romanen auftaucht und eine Art idealisiertes Alter Ego des Autors verkörpert – ins Archiv geht, um den Finanztransaktionen der Oligarchenfamilie Belladona nachzuforschen, zeigt ihm die Archivarin den Ordner mit anonymen Briefen. «Das sei hier die wichtigste Gattung, erklärte sie, die Annalen der Boshaftigkeiten und Verleumdungen in der argentinischen Pampa.»

Verlogen und boshaft geht es zu in der Familie Belladona, die immer mehr ins Zentrum des Erzählens rückt und deren vornehmes Auftreten mit der alltäglich praktizierten Gaunerei nicht zusammenzupassen scheint. Der Störenfried ist Luca, der die alte, überschuldete Autofabrik geerbt hat. Nach dem Willen der anderen soll sie abgerissen und durch ein Einkaufszentrum ersetzt werden. Luca aber hat die Fabrik zu einer Festung umgebaut und will sie auf keinen Fall hergeben. Am Ende setzt er sich durch – doch nur um den hohen Preis, die moralische Integrität verloren zu haben. Das Geld, das ihn rettet, ist übrigens jenes, das Tony Durán bei sich trug. Aber das spielt keine Rolle mehr. Am Ende wird die schmutzige Wäsche nur anders zusammengelegt und verschwindet wieder im Schrank.

Anders als gedacht

Der Roman wäre nicht so aufregend, wenn er sich auf die Demontage argentinischer Provinzklischees beschränken würde. Es geht um weitaus mehr. Piglia demontiert uns, das Publikum, und unsere Vorstellungen von einem normalen Roman gleich mit. Das haben die Avantgarden vom Barock über die Romantik bis zur Moderne zwar schon oft gemacht, aber unsere Erwartungen an einen «gut geschriebenen» Roman sind immer noch intakt, das beweist Ricardo Piglia mühelos.

Der Beginn klingt nach einem intelligent geschriebenen Provinzkrimi. Dann hoffen wir vergeblich auf Spannung und Auflösung. Croces Vermutungen im Mordfall für glaubwürdig zu halten, ist problematisch, denn Croce kann bis zum Schluss keinen einzigen Beweis vorlegen. Oder meinen wir wirklich, dass einer nur deswegen recht hat, weil er von einem Rivalen verdrängt wird? Oder weil ein Schriftsteller wie Piglia ihn uns als netten Menschen zeigt?

In der Mitte des Buches gibt es eine Zeichnung, die eine Ente mit geöffnetem Schnabel zeigt. Dreht man das Buch auf die Seite, sieht man einen Hasen. Nimmt man diesen Gedanken ernst, dann sieht man plötzlich überall im Buch Dinge, die anders sind als gedacht. Das Dorfarchiv ist bestens bestückt – aber niemand liest darin. Die DorfbewohnerInnen kommen beinahe um vor Langeweile – halten ihr Leben aber für interessant. Und es muss einmal erst Nacht werden, bis jemand Licht in die Familiengeschichte bringen kann.

Müssig zu sagen, dass die Ungewissheit auch für den Mordfall selbst gilt. «Es gibt mehr ungelöste Fragen als brauchbare Spuren», fasst Croce am Ende seine Erkenntnisse zusammen. Nur eines ist sicher: Die Geschichte verlief wahrscheinlich nicht so, wie die Mächtigen uns weismachen wollten. Das wäre ein brauchbarer Kommentar zur argentinischen Agrarkrise von 2008, aber auch weit darüber hinaus. Wenn man zu dieser skeptischen Einsicht in einem so geistreich-humorvollen, zugleich streng durchdachten wie lebendigen Roman gelangt wie diesem, dann glaubt man dem Autor sogar, dass das stimmt.

Ricardo Piglia: Ins Weisse zielen. Aus dem Spanischen von Carsten Regling. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2010. 253 Seiten. Fr. 31.90