Calexico: «Tucson ist ein wundervoller Ort»

Nr. 5 –

Nach dem Attentat auf die Kongressabgeordnete Gabrielle Giffords am 8. Januar in Tucson war vom Wilden Westen und von Waffennarren die Rede. Arizona sei das «Epizentrum des Hasses», stand in der WOZ. Joey Burns, Sänger und Gitarrist der Americana-Band Calexico, zeichnet ein anderes Bild seiner Heimat, weiss aber auch, dass es viel zu tun gibt.


Joey Burns: Ich führe das Interview nur unter einer Bedingung: Sie schicken mir ein Paket mit Schweizer Schokolade und Appenzeller Käse.

WOZ: Der Käse wird ganz schön stinken, bis er bei Ihnen in Arizona ist.

Das macht nichts. Hier stinkt ohnehin gerade einiges.

Besitzen Sie eine Schusswaffe?

Nein, ich besitze keine Schusswaffe, aber ich habe Freunde, die jagen. Denen empfehle ich, dies gefälligst mit Pfeil und Bogen zu tun. Das wäre nobel.

Sind Sie eine Ausnahme? In den Medien wird Arizona als waffenverrückter Wilder Westen dargestellt, in dem jeder Waffen verdeckt auf sich tragen darf.

Ich empfinde mich nicht als Ausnahme, aber ich mag hier jetzt nicht über Schusswaffen reden. Ich bin Musiker. Es ist die Aufgabe von Politik und Gesetzgebung, den Umgang mit Schusswaffen zu regeln und zu ändern.

Viele Menschen in meiner Heimatstadt Tucson und im ganzen Süden Arizonas sind sehr liberal eingestellt. Gerade im Stadtzentrum sind die Leute aufgeschlossen und kulturbewusst.

Von aussen gesehen wird Tucson noch lange die Stadt mit der tödlichen Schiesserei bleiben. Wie gehen Sie mit der Tragödie um?

Ich bin einerseits traurig und am Boden zerstört. Die Schiesserei war ein schockierendes Ereignis für uns alle. Aber gleichzeitig bin ich beeindruckt und berührt vom Mitgefühl und der Anteilnahme, die nach dem Amoklauf überall zu spüren ist. Vor Gabrielle Giffords Büro, beim Spital, wo die Verwundeten gepflegt wurden, beim Supermarkt, wo die Tragödie passierte – überall legen die Leute Blumen und Briefe nieder. Das schreckliche Ereignis hat uns näher zusammengebracht. Für mich zeigt das den wahren Geist von Tucson. Geholfen hat uns auch, dass Barack und Michelle Obama hier waren, um ihre Trauer zu bekunden.

Sie kennen Gabrielle Giffords, der das Attentat galt, persönlich. Ihre Band Calexico hat die demokratische Kongressabgeordnete mehrfach bei Wahlkämpfen unterstützt. Und als Giffords für ihren Ehemann Mark Kelly, einen Astronauten, einen Song auswählen durfte, mit dem die Besatzung des Raumschiffs geweckt wird, entschied sie sich für den Calexico-Song «Crystal Frontier». Wie haben Sie Gabrielle Giffords erlebt?

Gabrielle ist eine echte, aufrichtige Freundin. Auch als Kongressabgeordnete ist sie auf dem Boden geblieben, sehr intelligent, eloquent und leidenschaftlich. Man trifft sie oft im Ausgang, zum Beispiel an Konzerten im Publikum. Der Umgang mit ihr ist sehr persönlich. Sie nimmt sich Zeit für dich, ruft zurück, trotz des zeitintensiven Mandats in Washington. Die Menschen in Tucson mögen Gabrielle, ganz egal, auf welcher Seite sie politisch stehen. Das macht es für alle noch schmerzhafter und schwieriger, die Tragödie zu verarbeiten. Gabrielle brauchen wir hier, und ich bin sicher, dass sie zurückkommen und ihre Arbeit weiterführen wird.

Über die Aussenwahrnehmung haben wir gesprochen. Wie nehmen Sie Ihre Heimatstadt wahr?

Wenn die Medien das Bild vom Wilden Westen heraufbeschwören, rückt das Tucson und Arizona in ein schiefes Licht. Viele alte Westernfilme spielen hier, und diese Bilder bleiben offenbar haften. Besonders jene Leute, die noch nie hier waren, stülpen uns dieses Image über. Es ist ähnlich wie bei Karl May, der seine Winnetou-Romane geschrieben hat, ohne jemals in den Vereinigten Staaten gewesen zu sein. Er hat sich allein auf Klischees und seine Vorstellungskraft gestützt.

Tucson ist ein wundervoller Ort. Ein abwechslungsreicher Ort voller Gegensätze. Die Wüste vor der Stadt kann von einer bezaubernden Schönheit sein, aber im Sommer sorgt sie auch für eine unerträgliche Hitze. Die Region war schon immer ein Grenzgebiet der Migrationsströme von Süd nach Nord wie auch von Ost nach West. Entsprechend vielgestaltig sind die unterschiedlichen kulturellen Einflüsse, indianische und mexikanische etwa. All das sorgt für eine gewisse Offenheit und Achtung vor dem Fremden. Für mich als Musiker und Songschreiber ist es inspirierend, hier zu leben.

Arizona stand jüngst nicht nur wegen der Schiesserei in Tucson im Fokus des Interesses, sondern auch wegen SB 1070, Arizona Senate Bill 70. So heisst das bisher schärfste Einwanderungsgesetz der USA, das vergangenes Jahr in Kraft trat. Es erlaubt der Polizei, willkürlich Personenkontrollen vorzunehmen, um die Aufenthaltsberechtigung zu prüfen. Kann sich eine kontrollierte Person nicht ausweisen, macht sie sich bereits strafbar.

Ich bin bestürzt über dieses Gesetz. Ein Gesetz notabene, über das wir nicht abstimmen durften. SB 1070, das massgebend von Kris Kobach, einem Rechtsprofessor und republikanischen Politiker, vorangetrieben wurde, trägt eindeutig rassistische Züge. Denn worauf schaut die Polizei bei den Kontrollen? Natürlich auf die Hautfarbe, auf die Kleidung, auf den Akzent. Es ist sehr alarmierend, dass ein solches Gesetz, das auf der Angst vor einer multiethnischen und multikulturellen Gesellschaft basiert, in Kraft treten konnte.

Mit Ihrer Band Calexico engagieren Sie sich gegen SB 1070. Die Bewegung Viva Arizona – Artists for Action haben Sie gemeinsam mit anderen Künstlern ins Leben gerufen. Ist das nicht ein hoffnungsloses Unterfangen?

Es geht uns nicht nur um SB 1070. Die USA brauchen eine umfassende Reform der Einwanderungspolitik. Migranten, viele davon ohne Papiere und Rechte, sind ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Sie führen notwendige Arbeiten aus und bereichern unser Leben kulturell. Das muss anerkannt und unterstützt werden. Leider läuft es wie immer in wirtschaftlich schwierigen Zeiten: Zuerst wird die Schuld den Armen und Wehrlosen zugewiesen.

Mir ist klar, dass wir für unsere Ziele Hürden zu überwinden haben. Das braucht Geduld, vor allem aber Mut und Engagement. Es beginnt im Kleinen, bei einem selbst. Welche Nahrungsmittel und welche Kleider kaufe ich? Woher kommt unser Essen? Es ist wichtig, ein Bewusstsein für sein Handeln zu entwickeln, sich solche Fragen zu stellen. Als Band können wir unser Publikum nur auffordern, wählen zu gehen und sich aufzulehnen. Wir geben zum Beispiel Benefizkonzerte für die lokale Radiostation oder spenden einen Teil der Einnahmen für öffentliche Schulen, damit sie Instrumente anschaffen können. Das direkte, persönliche Engagement für die Gemeinschaft ist zentral für mich.

Unzählige Bands wie Rage Against the Machine, Cypress Hill oder Bright Eyes boykottieren Arizona wegen SB 1070. Ist das der richtige Weg?

Es war ein wichtiger, erster Schritt, weil der Boykott für grosse Aufmerksamkeit gesorgt hat. Viele Menschen wissen nur deshalb von SB 1070 und den hässlichen Absichten dahinter. Zudem hat der Boykott, der weit über die Musikszene hinausgeht, wirtschaftliche Folgen für Arizona. Allein die Tourismusbranche verzeichnet Millioneneinbussen, und das erzeugt Druck.

Als Bürger von Arizona finde ich es sehr wichtig, die Menschen hier aufzurütteln. Wir in Arizona und die Artists for Action haben ja die gleiche Botschaft und das gleiche Ziel: SB 1070 muss vom Tisch. In den USA stehen weitere siebzehn Bundesstaaten kurz davor, ähnliche Einwanderungsgesetze zu verabschieden. Es ist nötiger denn je, die Menschen zu inspirieren und zusammenzuführen.


«Viva Arizona – Artists for Action»: www.vivaarizona.org

Möchten Sie Joey Burns Schokolade und Appenzeller Käse schicken? Die WOZ-Kulturredaktion leitet Ihre Präsente gerne weiter.

Calexico : Neues Album geplant

Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, den Stil von Calexico zu beschreiben. Ihr Sound vereint seit nunmehr fünfzehn Jahren Americana, Countryrock, Folk, Mariachi, Latin Jazz und Fado auf unnachahmliche Weise. Das liege wesentlich an John Convertinos brillantem Schlagzeugspiel, sagt Sänger Joey Burns. Sechs Alben haben Calexico, die nach einer Grenzstadt in Kalifornien benannt sind, bisher veröffentlicht, darunter ihr Meisterwerk «Feast of Wire» (2003). Die Band arbeitet auch immer wieder mit anderen KünstlerInnen zusammen, etwa mit Iron and Wine oder der Mariachi-Gruppe Luz de Luna.

Im Frühjahr will die Band ins Studio gehen und ein neues Album aufnehmen. «Ich möchte die musikalische Welt von Calexico, die schon immer sehr offen war, noch weiter ausdehnen», sagt Burns. «Kürzlich arrangierte das Kentucky Symphony Orchestra ältere Songs von uns. Es war grossartig. Wenn möglich möchte ich für einige weitere neue Songs mit einem grossen Orchester zusammenarbeiten.»