Integrationsprojekt Sahara: Wieder lernen, sich etwas zuzutrauen

Nr. 6 –

Eine Krankheit, ein Burn-out oder eine Entlassung – und schon ist man draussen. Andere scheitern wegen schlechter Noten oder Sprachschwierigkeiten bereits beim Einstieg ins Berufsleben. Das Basler Projekt Sahara hilft Frauen, zurück in die Arbeitswelt zu finden.


«Und Sie? Haben Sie Ihren Traumjob schon gefunden?» Plötzlich dreht Tina Gorana (Namen der Teilnehmerinnen geändert) den Spiess um und beginnt die Interviewerin zu befragen: «Braucht es dafür ein Studium? Können Sie selber entscheiden, worüber Sie schreiben? Haben Sie Aufstiegsmöglichkeiten?» Gorana weiss genau, was sie wissen will. Und was ihr eigener Traum ist, weiss sie auch: selber eine Boutique führen mit Kleidern für die ganze Familie, «da ist das Beraten interessanter, als wenn nur Damen kommen». Sie ist so motiviert, dass sie sich am Anfang ihrer Lehre ins Lernen stürzte und alles andere vernachlässigte: die Erholung, ihre FreundInnen, den Basketball. Mit ihrer Lernbegleiterin hat sie inzwischen das richtige Mass gefunden: Lieber etwas weniger lange üben, dafür konzentrierter.

Ab in die IV

Dabei sah es vor zwei Jahren nicht gut aus für Tina Gorana. Im Werkjahr in Liestal, das sie nach der Oberstufe besuchte, schnitt sie in den IQ-Tests schlecht ab. Sie hatte kaum Chancen, eine Lehrstelle zu finden. Der Kanton Baselland verweist Jugendliche mit so schlechten Aussichten an die IV. Das war Goranas Glück: Im Sommer 2009 konnte sie eine zweijährige Attestlehre als Detailhandelsassistentin beginnen. Und inzwischen hat die Achtzehnjährige Grösseres vor: Wenn sie im Sommer einen Notenschnitt von 4,8 erreicht, kann sie noch zwei Jahre anhängen und Verkäuferin mit Fähigkeitsausweis, dem «richtigen» Lehrabschluss, werden. Das Gleiche hat auch ihre Kollegin Emine Demir vor, die gerne in einem edlen Geschäft arbeiten würde: «zum Beispiel bei Louis Vuitton». Die beiden motivieren sich gegenseitig.

Sahara ist der Name des Basler Projekts, das Gorana und Demir die Attestlehre ermöglicht. Da verkaufen sie zwar nichts von Louis Vuitton. Dafür können sie aber gleich in drei Geschäften Erfahrungen sammeln: im Secondhandshop an der Gerbergasse, im Claro-Fair-Trade-Laden im Schmiedenhof und im Greenshop in der Aeschenvorstadt, dem ehemaligen WWF-Laden.

Eine Balletttänzerin verunfallt und muss sich einen neuen Beruf suchen. Eine medizinische Praxisassistentin verliert wegen ihrer Angststörung die Stelle. Eine Kauffrau möchte nach einem Burn-out gerne wieder arbeiten: Es gibt viele Gründe, warum Frauen bei Sahara landen. Manche werden über die Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) zugewiesen, einige über die Sozialhilfe, mehr als die Hälfte über die IV. «Am häufigsten», sagt die Ko-Geschäftsleiterin Franziska Schweizer, «sind bei ihnen Depressionen, Burn-out, Rückenprobleme und? Schmerzerkrankungen.» Viele Frauen ertrügen einfach den steigenden Druck auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr. «Andere haben körperliche Probleme, weil sie jahrzehntelang anstrengende Jobs hatten, etwa in der Pflege.» Die meisten bleiben drei bis sechs Monate bei Sahara, manche auch länger. «Etwa die Hälfte der Teilnehmerinnen findet anschliessend eine Stelle oder eine andere Anschlusslösung.»

Franziska Schweizer coacht die Teilnehmerinnen, unterhält den Kontakt mit den zuweisenden Stellen und kümmert sich um die Finanzen. Die Sozialarbeiterin schätzt es, dass bei Sahara nur Frauen im Einsatz sind. «Die Atmosphäre ist ruhiger – natürlich nicht immer.» Sie lacht. «Es gibt auch bei uns Konflikte, etwa wenn eine Frau, die selber hart arbeitet, nicht versteht, warum andere das nicht können. Aber ich spüre viel Respekt und gegenseitige Wertschätzung.»

Es geht um Grundlegendes

Mit einem kleinen Secondhandladen fing vor fünfzehn Jahren alles an. Inzwischen hat Sahara um die vierzig Teilnehmerinnen und sieben Ausbildungsplätze, neben den drei Läden gehören auch ein Näh- und Bügelatelier und die eigene Administration dazu.

Bügeln, Nähen, Verkaufen: lauter schlecht bezahlte Frauenarbeiten! Wäre es nicht sinnvoller, Tätigkeiten anzubieten, für die es bessere Löhne gibt? Sie hätten nicht die Absicht, Frauen in diese Berufe zu drängen, sagt Schweizer: «Es geht um viel grundlegendere Dinge: sich überhaupt wieder etwas zuzutrauen. Im Atelier können die Frauen ihre handwerklichen Fähigkeiten trainieren, Deutsch üben, in einem geschützten Rahmen Selbstsicherheit gewinnen.» Der Anfang soll behutsam sein: Manche Frauen beginnen in den Ateliers mit zwei Stunden im Tag an vier Tagen pro Woche. Die Arbeit soll Erfolgserlebnisse bringen, nicht Überforderung.

Daniela Tinner hat so angefangen: mit zwei Stunden Arbeit pro Tag. Nach einem Burnout und mehreren Jahren Teilrente möchte sie zurück ins Erwerbsleben. Dass sie in der Sahara-Administration mit ihrem Uniabschluss überqualifiziert ist, stört sie überhaupt nicht. «Ich wollte mich sowieso im kaufmännischen Bereich weiterbilden.» Die «Möglichkeit, langsam zurück in den Alltag zu kommen», schätzt sie sehr an Sahara. Und die internationale Atmosphäre: «Ich frage andere Frauen oft: Wie macht ihr es bei euch?»

Eine ihrer Aufgaben ist die Suche nach freien Stellen, für die sich die Teilnehmerinnen bewerben können. Dadurch entstehen intensive Kontakte: «Ich frage die Frauen, in welche Richtung ich suchen soll. Manche haben Hemmungen, deutsch zu sprechen. Wenn ich auf sie zugehe, geht es besser.»

Von Anfang an war der faire Handel zentral für Sahara: Schon im ersten Laden stand ein Regal mit Fair-Trade-Produkten. Soziale Verantwortung vom Rohstoff bis zum Verkauf, das ist die Idee dahinter. Leiterin des Claro Fair Trade ist Anna Schneider. Seit dreissig Jahren hat sie mit fairem Handel zu tun: «Man darf nicht vergessen, dass das eine Bewegung war. Und sie begann fast nirgends so früh wie in der Schweiz.»

Jahrelang kaufte Schneider keine Ananas mehr, weil sie erfahren hatte, dass nicht nur die Plantagen, sondern auch die Hütten der LandarbeiterInnen mit Pestiziden geduscht werden. Es kommt drauf an, was man konsumiert – diese Erfahrung versucht sie weiterzugeben. Doch die wenigsten Sahara-Teilnehmerinnen gehen von sich aus in den Claro-Laden und zahlen drei Franken fünfzig für eine Schokolade. Das sei nicht ihre Welt, meinen auch die jungen Frauen in der Lehre. Aber die Teigwaren seien fein.

«Wir versuchen den Teilnehmerinnen Zusammenhänge aufzuzeigen», sagt Franziska Schweizer. «Es hat einen Einfluss auf die eigenen Arbeitsbedingungen, wenn man nach Deutschland billig einkaufen geht.» Manchmal wird etwas daraus: Eine ehemalige Teilnehmerin ist so begeistert von der Fair-Trade-Philosophie, dass sie Anna Schneiders Nachfolgerin werden wird.

Höhepunkt Modeschau

Lebhafter geht es im Sahara-Secondhand zu: Kundinnen posieren mit ihren Neuerwerbungen, andere stehen am Ladentisch, trinken Kaffee und plaudern. Neben Kleidern gibts hier auch Taschen, Sitzkissen und Necessaires aus den Sahara-Ateliers. Höhepunkt des Jahres ist eine Modenschau, bei der KundInnen als Models auftreten. Die Kleiderspenden für den Secondhandladen leisten einen wichtigen Beitrag für die sechzig Prozent Ertrag, die Sahara selbst erwirtschaftet. Der Rest des Budgets stammt von den zuweisenden Stellen.

Franziska Schweizer macht sich Sorgen. Schweizer arbeitet jetzt seit sechs Jahren bei Sahara und hat den Eindruck, dass sich die Gesundheit der Teilnehmerinnen verschlechtert. «Ich hatte gerade ein Gespräch mit einer Frau in einer IV-Integrationsmassnahme. Sie hat mit zwei Stunden Arbeit am Tag angefangen, und jetzt, nach drei Monaten, sollte sie vier Stunden im Tag schaffen. Aber sie schafft es nicht; sie ist krank geworden. Dabei würde sie so gern wieder Vollzeit arbeiten ...»

Mit der sechsten IV-Revision wird es wohl noch schlimmer werden. 16000 IV-RentnerInnen sollen zurück ins Erwerbsleben, obwohl es die Stellen für sie gar nicht gibt. Menschen, die der Druck an der Arbeit krank macht, mit Druck zurück in die Arbeit zu bringen: Das muss scheitern. «Heute soll man überall 150 Prozent leistungsfähig und flexibel sein – und Vögele entlässt ältere Verkäuferinnen, weil sie nicht zum Penélope-Cruz-Image passen.»

Sabrina Meier, Kauffrau in Ausbildung in der Sahara-Administration, sagt: «Wir kommen alle von irgendwoher, wo wir nicht wussten, wie es weitergeht. Sahara ist nicht perfekt, aber es gibt hier so viel Unterstützung, Vertrauen und Schutz.» Die Atmosphäre der gegenseitigen Hilfe ist überall spürbar, selbst bei einem kurzen Besuch. Hier wird engagiert gearbeitet – aber ohne Verbissenheit und Angst. So wie es eigentlich überall sein sollte, auch auf dem sogenannten ersten Arbeitsmarkt.


Umstrittene Programme

«Es gibt Programme, die sich klar an einem Disziplinierungsansatz orientieren»: Der Soziologe Peter Schallberger hat Integrationsprogramme für Arbeitslose und IV-RentnerInnen in der WOZ Nr. 36/10 scharf kritisiert. Doch es gebe grosse Unterschiede. Schallberger fordert, dass sich die AnbieterInnen solcher Programme «als Dienstleistende gegenüber den einzelnen Beschäftigten verstehen» – ein Anspruch, dem Sahara sicher sehr nahekommt.