Personenrätsel: Die Eigensinnige

Nr. 6 –

Die «sehr sehr radikale Feministin», wie sie sich selbst nannte, galt als kompromisslos und liess andere Meinungen oft nur ungern gelten. Als die 1877 geborene Tochter eines Agrarwissenschaftlers eine Buchhalterinnenstelle annahm, begann sie ihre Kolleginnen gewerkschaftlich zu organisieren. Mit zwanzig war sie Präsidentin des Nationalen Verbands der Büroarbeiterinnen, sie gründete die Ungarische Arbeiterin­nen-Assoziation und riss mit 26 Jahren die Teilnehmerinnen des Internationalen Frauenkongresses in Berlin von den Sitzen. Sie verurteilte Kinderarbeit, propagierte Verhütung, forderte eine Eherechtsreform und erregte mit ihrem Eintreten für ökonomische und soziale Gleichheit und das Frauenwahlrecht international ­Aufsehen.

In London musste sie als Sekretärin der Internationalen Allianz für Frauenwahlrecht erleben, wie zu Beginn des Ersten Weltkriegs so manche ihrer britischen Mitstreiterinnen ins Lager der KriegsbefürworterInnen wechselte. Für sie, die neun Sprachen beherrschte, gehörten Kampf für Frauenrechte und Opposition gegen den Krieg zusammen: «Unsere Söhne werden millionenfach getötet, also müssen wir Mütter bei den Königen und Kaisern vorstellig werden!» Sie reiste in die USA, wo sie Präsident Woodrow Wilson für eine Weltfriedensinitiative gewinnen wollte, vergebens. Mehr Glück hatte sie beim Autofabrikanten Henry Ford, der 1916 eine Friedensschiffsreise nach Europa finanzierte – die zum Desaster geriet. Die antisemitische und kriegsbefürwortende Presse nahm die Agitatorin jüdischer Herkunft auseinander. Als sie Ende 1918 nach Ungarn zurückkehrte, ernannte sie die Übergangsregierung von Mihály Károlyi zur Botschafterin in der Schweiz, doch die nachfolgende Räteregierung berief die «Bürgerliche» wieder ab. Nach dem Sieg der Konterrevolution 1920 drohte ihr das antisemitische Horthy-Regime mit «Auslöschung», sodass sie in die USA flüchtete.

Wie hiess die Frauen- und Friedenskämpferin, die kurz vor ihrem Tod 1948 für den Friedensnobelpreis nominiert wurde?

Wir fragten nach Rosika Schwimmer (1877–1948), die sich oft zwischen allen Fronten bewegte. Ihr entschiedenes, oft eigensinniges Engagement für die ­internationale Frauen- und die Antikriegsbewegung brachte sie immer wieder in Schwierigkeiten. Vor dem Ersten Weltkrieg wurde die Journalistin (sie arbeitete für viele europäische Blätter) und Organisatorin vieler Kongresse und Initiativen allseits gefeiert; nach Kriegsausbruch galt die ­österreichisch-ungarische Staatsangehörige hingegen als «Spionin» der Mittelmächte – und nach ihrer Flucht vor dem ungarischen Horthy-Regime 1920 wurde die nunmehr Staatenlose in den USA als bolschewistische Agentin denunziert. Die US-Behörden verweigerten ihr eine Arbeitserlaubnis und lehnten ihren Einbürgerungsantrag ab, weil Schwimmer (im Alter von fünfzig Jahren) den Eid nicht ablegen wollte, «das Land mit Waffengewalt zu verteidigen». Dennoch gründete sie 1937 – das Scheitern des Völkerbunds war bereits absehbar – die «Kampagne für eine Weltregierung». Ihre Idee einer zivilgesellschaftlichen Weltverwaltung gewann zwar gegen Ende des Zweiten Weltkriegs immer mehr AnhängerInnen – schlug aber fehl, wie so viele ihrer Initiativen.