Doku-Soaps: Einübungen in die Kaltherzigkeit

Nr. 10 –

Nachmittägliche Pseudo-Doku-Soaps im Privatfernsehen führen eine verzerrte Realität mit Losertypen vor – und Millionen amüsieren sich. «Scripted Reality» nennt sich das: Wirklichkeit nach Drehbuch. Aber welche Wirklichkeit wird hier gezeigt?


Der stotternde Clemens wird in der Schule ausgelacht, geschnitten und angepöbelt. Da sendet der Himmel zwei Schutzengel: die «Schulermittler». Die titelgebenden SozialarbeiterInnen der RTL-Serie kümmern sich hingebungsvoll um das Mobbingopfer, mischen sich auf dem Schulhof ein, besuchen die überforderte Mutter und machen ihr klar, dass der Sohn Hilfe braucht. Bald finden sie heraus, dass Patrick nur darum halbwegs anständig mit Clemens umgeht, weil der Stotterer ihm die Liebesbriefe an Béatrice schreibt. Dabei ist er doch selbst in das hübsche Mädchen verliebt ...

Moment, diese Geschichte kennt man doch. Genau, das Motiv stammt aus dem Drama «Cyrano de Bergerac». Cyrano stottert zwar nicht, aber er hat eine lange Nase, und darum verzichtet er grossherzig und mit blutender Seele auf seine Angebetete, die sich aufgrund seiner Briefe in den dummen Schönling verliebt. Clemens hat mehr Glück, denn die «Schulermittler» klären alles auf und bringen die Richtigen zusammen.

RTL spielt gerne lieber Gott. In den Werbepausen wird die Botschaft bekräftigt: «Wir schauen nicht einfach nur zu. Wir packen mit an!» (Die RTL-Stiftung Wir helfen Kindern.) In «Supernanny» hilft das Fernsehen beim Erziehen, «Rachs Restaurantschule» gibt Jugendlichen eine letzte Chance auf einen Ausbildungsplatz, Peter Zwegat hilft «Raus aus den Schulden».

Und dann sind da noch die «Schulermittler», die bei Schulproblemen eingreifen. Ist ja eigentlich lobenswert, denkt man. Aber die Geschichten der Doku-Soap sind frei erfunden, die SozialarbeiterInnen sind SchauspielerInnen. «Nach einer wahren Geschichte. Alle handelnden Personen sind frei erfunden», so steht es klein am Ende des Abspanns geschrieben. Nach diesem Prinzip der «Scripted Reality» werden mehrere Serien hergestellt, «Verdachtsfälle», «Familien im Brennpunkt», «Betrugsfälle» oder die Gerichtsshows mit Barbara Salesch und Alexander Hold auf Sat 1. Ob sie alle nach einer wahren Geschichte verfasst sind – das wissen nur die Fernsehgötter.

Spannender als die Wirklichkeit

Die Idee zu den vorgefertigten Doku-Soaps entstand aus Mangel an Geld und an Mitwirkenden, schrieb der «Spiegel». Die Castingagenturen hätten mittlerweile Probleme, Leute zu finden, die sich für diese «Sozialpornos» zur Schau stellen und entblössen wollen. Denn es sind ja vor allem Verliererinnen und Versager, die gezeigt werden, diejenigen, die nicht mit Geld umgehen können, sich nicht zu wehren wissen, die es nicht schaffen, einen Job zu ergattern, diszipliniert zu arbeiten oder mit ihren Kindern nicht zurechtkommen.

Da also nicht mehr genügend echte VersagerInnen zu finden sind, schreibt man Drehbücher und spielt diese mit LaiendarstellerInnen nach. Das ist viel einfacher, als echte Dokumentationen herzustellen. Man muss nicht warten, bis die Leute wirklich zu streiten anfangen, sondern dreht flott die geschriebenen Szenen nach. Ein Setting, ein paar Laien, die für ihr Spiel nur eine «Aufwandsentschädigung» erhalten – kostengünstiger geht Fernsehen kaum. Und weil man die Probleme mit Intrigen aus dem klassischen Fundus aufmöbeln kann, ist «Scripted Reality» spannender als die Wirklichkeit.

Die Bösen sind meist schnell ausgemacht. Dabei fällt auf, dass die Frauen schlecht wegkommen. In einer Folge von «Familie im Brennpunkt» konnte man eine junge Russin sehen, die einem Metzgerssohn ans Geld ging. In einer anderen Folge muss ein Lagerarbeiter erfahren, dass seine Frau im Internet nicht einen Job sucht, sondern Lover, und dass sie nur bei ihm bleibt, weil er so brav bezahlt, was sie ihm direkt ins Gesicht sagt. Zur Erholung gibt es die Werbepausen, in denen für Kaffee und Waschmittel mit glücklichen Familien geworben wird. Da fällt der Satz: «In den eigenen vier Wänden ist das Glück zu Hause!» Vermutlich ist das nicht mal zynisch gemeint, denn die ZuschauerInnen geniessen das Gefühl, dass es bei ihnen zu Hause nicht so arg zugeht wie bei den «Familien im Brennpunkt».

Es wird gestritten und herumgebrüllt an diesen Fernsehnachmittagen, dass die Fetzen fliegen. Allzu vulgäre Wörter werden mit einem «Piep» überblendet. Die Sätze stammen wohl nicht von DialogschreiberInnen, sondern aus dem improvisatorischen Fundus der Mitwirkenden. Da diese keine BerufsschauspielerInnen sind – die SozialarbeiterInnen in «Die Schulermittler» sind eine Ausnahme –, stehen ihnen nicht viele Ausdrucksmittel zur Verfügung. Also sind sie im Wesentlichen: erschrocken, erfreut, stocksauer oder verzweifelt; da können sie entsetzt gucken, strahlen, brüllen oder weinen.

Prinzip Aschenputtel

Es wird nicht viel verlangt von den DarstellerInnen, ebenso wenig von den ZuschauerInnen. Vor jeder Werbepause wird das Kommende kurz angedeutet, danach das Geschehen zusammengefasst. Man scheint von einem Publikum auszugehen, das eine verminderte Auffassungsgabe hat – oder den Fernseher nebenbei laufen lässt und nur ab und zu einen Blick hineinwirft.

Dabei könnte es etwas dazulernen. Denn das ist die überraschende Erkenntnis einiger Fernsehnachmittage: In vielen Folgen werden nicht nur Probleme angesprochen, sondern auch Lösungen aufgezeigt. Ein Siebzehnjähriger etwa hat mit zwei Frauen je ein Kind. Deren Mütter liefern sich einen wahren Zickenkrieg, aber der junge Mann wird über seine Rechte und Pflichten aufgeklärt, und am Ende ist die Situation einigermassen befriedet. Oder: Eine junge Arzthelferin bemerkt, dass sie von ihrem Mann ausgeplündert wird. Nach etlichen dramatischen Höhepunkten hat sie nicht nur ihr Geld gerettet, sondern auch gelernt, wie sie mit ihrem Angetrauten umgehen muss.

Die kommerziellen Sender betonen gern, dass sie sich um die Realität kümmern und um die Probleme der kleinen Leute. Dabei inszenieren sie vor allem ihre Macht: Sie bieten Lösungen an, sind die Erzieher der Nation, machen Superstars, verschönern und helfen – einigen Auserwählten! Das Selektionsprinzip zieht sich durch die Programme, es ist der rote Faden aller Castingshows und vieler Doku-Soaps, auch von «Bauer sucht Frau» oder «Extrem schön!».

Damit dieses «Aschenputtel-Prinzip» zur Geltung kommt, werden gern skurrile Talente und hässliche LaiendarstellerInnen ausgesucht. So steht es natürlich nicht in der Ausschreibung der Firma Filmpool, die unter anderem «Verdachtsfälle», «Familien im Brennpunkt» und «Richterin Barbara Salesch» produziert. Sondern: «Sie haben auch Lust auf eine Rolle als Angeklagter, Zeuge oder Täter? Sie sind selbstbewusst, schlagfertig, attraktiv – oder ein ganz schräger Typ?»

Im Menschenzoo

Die «schrägen Typen» haben einfach mehr Unterhaltungswert. Da amüsieren sich die ZuschauerInnen, die von Mutter Natur besser ausgestattet worden sind. Das ist vermutlich das Erfolgsgeheimnis: Man amüsiert sich über die Loser. Die oft gelieferte Erklärung, dass wir in einer Castinggesellschaft leben, in der jeder davon träumt, berühmt zu werden, und sei es nur für eine Viertelstunde, greift zu kurz. Sicher: Viele bewerben sich für einen Auftritt im Fernsehen, gross ist die Sehnsucht nach dem «Auserwähltsein». Aber noch viel mehr sehen zu. In der «werberelevanten» Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen haben sich die Sender, gerade auch an den Nachmittagen, die meisten ZuschauerInnen erobert. Sie sehen zu, wie andere sich zum Affen machen. Damit trägt aber diese Fernsehreality weniger zu Problemlösungen bei. Was sie forciert, ist die Einübung in die Kaltherzigkeit.