Baden-Württemberg: Panik vor dem Untergang: Eine Menschenkette, ein Bahnhof und die Wahl

Nr. 12 –

Lange Zeit sah es so aus, als könnte die baden-württembergische CDU ihre dominante Stellung im deutschen Südwesten behaupten. Seit über 57 Jahren regiert sie das Bundesland, und das schien so zu bleiben. Doch dann knallte es in Fukushima – und seither ist alles anders.


Möglicherweise, sagte Georg Schramm auf der Tribüne vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof, möglicherweise sei der 11. März 2011 «der Beginn des 21. Jahrhunderts». Denn Jahrhunderte beginnen nicht mit einem Datum auf dem Kalender, «sondern, wie der britische Historiker Eric Hobsbawm gesagt hat, mit einem Ereignis, in dem das ganze Jahrhundert bereits angelegt ist». Vielleicht markiere ja der 11. März, der Beginn der Katastrophe in Japan, das Ende «einer technischen Hybris, die nicht im Dienste der Menschheit stand». Und diese Anmassung, so der Kabarettist weiter, dieser «optimierte Betriebskapitalismus, ist der Grund, weshalb Sie hier stehen: Auch Stuttgart 21 steht nicht im Dienst der Menschheit».

Diese Verknüpfung der dramatischen Ereignisse im japanischen AKW Fukushima mit dem regionalen Protest gegen einen Untergrundbahnhof elektrisierte das Publikum. 7000 waren vorletzte Woche zur 67. Montagsdemonstration gegen das Projekt S21 zusammengeströmt – Rentnerinnen und junge Militante, Arbeitslose und Bessergestellte, Künstlerinnen und Strassenarbeiter. Sie bliesen in Vuvuzelas und Trillerpfeifen, hielten selbst gemalte Plakate ins Abendlicht und applaudierten begeistert dem Kabarettisten Schramm, der in wenigen Sätzen das zum Ausdruck brachte, was viele StuttgarterInnen seit Jahren umtreibt.

12. März: Die Menschenkette

Zwei Tage zuvor, am 12. März, hatten sich Zehntausende in 165 Bussen und drei Sonderzügen in einer anderen Sache auf den Weg gemacht: Gegen die Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke, die die schwarz-gelbe Regierungsmehrheit in Berlin Ende Oktober durchs Parlament gepeitscht hatte. Und es ging gegen den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Stefan Mappus (CDU). Der hatte sich in der Debatte um den Ausstieg aus dem von Rot-Grün beschlossenen Atomausstieg besonders hervorgetan und noch viel längere Laufzeiten der Atommeiler gefordert: Deutschland verfüge über die «nachweislich sichersten Atomkraftwerke der Welt». Gegen diesen Haudrauf-Politiker wollte man kurz vor der baden-württembergischen Landtagswahl am 26. März noch ein Zeichen setzen.

Die Menschenkette von Neckarwestheim nach Stuttgart, vom drittältesten Atomreaktor Deutschlands (seit der Inbetriebnahme 1976 gab es dort über 425 Störfälle) bis zum Regierungssitz des Ministerpräsidenten, war längst organisiert, als die Nachrichten aus Japan eintrafen.

So waren die drei Busse aus dem Landkreis Konstanz schon Tage vorher ausgebucht. Erfahrene KämpferInnen gegen die Atomenergie hatten rechtzeitig reserviert. Die meisten kennen sich seit Jahrzehnten, und so gab es viel zu reden auf dem Weg nach Kornwestheim, einer Kleinstadt im Norden von Stuttgart – die KonstanzerInnen waren für diesen Abschnitt eingeteilt. Ab und an drehte der Busfahrer das Radio laut, wenn der Südwestrundfunk Neues von Fukushima vermeldete. Dann herrschte betroffenes Schweigen. Aber ansonsten kreisten die Gespräche der Mitreisenden um das, was engagierte LehrerInnen, Ingenieure und Angestellte aus dem baden-württembergischen Süden sonst so bewegt. Dass die horrenden Kosten für Stuttgart 21 den dringend nötigen Ausbau des Schienennetzes in der Provinz blockieren. Dass der defizitäre Betrieb einer Katamaran-Schiffslinie über den Bodensee durchgesetzt wurde, obwohl sich die KonstanzerInnen dagegen aussprachen. Dass die Konstanzer Stadtverwaltung unter einem grünen Oberbürgermeister ein teures Konzert- und Kongresszentrum (KKH) mit der Behauptung durchboxen wollte, man habe grosse Finanzreserven – und nach einem Bürgerentscheid gegen das Projekt plötzlich ein zweistelliges Millionenloch in der Stadtkasse entdeckte.

«Ich habe nichts gegen Verbesserungen», sagte eine ungefähr fünfzigjährige Frau auf dem Nebensitz, «aber ich lass mich nicht verseckeln.» Der geplante Stuttgarter Tiefbahnhof werde so schräg gebaut, dass auf den Bahnsteigen Kinderwagen ins Rollen kommen; auch fürs KKH hätte es sinnvolle Alternativen gegeben. «Und jeder Dampfkochtopf in der Küche ist besser gesichert als die AKWs, vom Atommüll ganz zu schweigen.» Ökobewegte, die ihren grünen Oberbürgermeister kritisieren, und BürgerInnen, die sich nichts mehr weismachen lassen und Machtstrukturen hinterfragen: Das ist heutzutage keine Ausnahme mehr in Baden-Württemberg.

Gleichwohl blieben ein paar Zweifel. Denn im Bus sassen vorwiegend VeteranInnen des Widerstands, die Mitte der siebziger Jahre das AKW Wyhl am Kaiserstuhl verhindert und – weniger erfolgreich – gegen das AKW Fessenheim im Elsass demonstriert hatten, die bei den Protesten gegen Kaiseraugst dabei waren, wegen des Baubeginns am norddeutschen AKW Brokdorf das Konstanzer Münster besetzt hielten, die von Tschernobyl geprägt sind und die so lange am Bauzaun der fast fertigen atomaren Wiederaufbereitungsanlage im bayerischen Wackersdorf rüttelten, dass die Regierung nachgab. Fuhr da eine alte Generation ins vorletzte Gefecht?

Doch je näher der Bus dem Einsatzort kam, desto stärker änderte sich das Bild. Es hatten sich auch viele Junge in die 45 Kilometer lange Menschenkette eingereiht, und in Kornwestheim feierten Jugendliche den Protest mit einer Garagenparty, neben der die japanische Sonnenfahne wehte. Aufschrift: Atomkraft, nein danke.

Hatten wir es nicht immer wieder gesagt? Warnten wir nicht stets vor dem Restrisiko, das uns mal den Rest geben könnte? Trotzdem triumphierte niemand. Nicht nach dem Schliessen der Menschenkette (statt der erhofften 40 000 Menschen kamen rund 60 000), nicht auf der Busfahrt nach Stuttgart zur Kundgebung, und auch die RednerInnen auf dem Schlossplatz verzichteten auf den Verweis, dass man es besser wusste als die AtompolitikerInnen. Stattdessen sprachen sie von den Opfern in Japan. Die Parteigrössen, die sich sonst stets in den Vordergrund drängeln, durften nicht ans Mikrofon; dafür hatten die basisorientierten OrganisatorInnen gesorgt.

14. März: Gegen S21 und Atompolitik

Diese Zurückhaltung war am folgenden Montag zu spüren. In ganz Deutschland versammelten sich Zigtausende zu über 450 Spontankundgebungen. Noch war das Ausmass der Katastrophe nicht abschätzbar, aber auch in Stuttgart trafen sich mehrere Hundert Menschen. Sie diskutierten die möglichen Folgen, forderten den sofortigen Ausstieg aus der Atomtechnik, hielten eine Schweigeminute ab – und murrten, als einer der RednerInnen, der Naturwissenschaftler Ernst Ulrich von Weizsäcker, auf das Ausstiegsprogramm der SPD hinwies. Wozu muss der jetzt Wahlkampf machen? Man weiss doch, welches die Atomparteien im Land sind. Und gehörte da bis vor kurzem nicht auch die SPD dazu?

Innerhalb kürzester Zeit hatte sich die politische Stimmung gedreht. Lange waren die mehrheitlich bieder-konservativen baden-württembergischen Grünen einer schwarz-grünen Koalition nicht abgeneigt. Doch die Eskalation des Konflikts um S21 und das rabiate Vorgehen der Landesregierung gegen die DemonstrantInnen machten diese Option zunichte. Und so hielten manche Grüne wie etwa der Konstanzer Stadtrat Till Seiler einen Erfolg der Mappus-CDU für durchaus denkbar. «Seit die AKW-Laufzeitverlängerung und S21 aus den Medien verschwunden sind», sagte er, «dominiert die Wirtschaftslage den Wahlkampf.» Deshalb hätten die Grünen – die zuweilen bei 27 Prozent lagen – laut Umfragen deutlich an Zuspruch verloren hätten. Eine Fortsetzung der Koalition von CDU und der im Südwesten traditionell starken FDP schien denkbar. Und sollte es für Schwarz-Gelb nicht reichen, wäre da noch die SPD, die in Sachen S21, einem zentralen politischen Knackpunkt, der CDU recht nahe steht. Jedenfalls, so Seiler, sei es undenkbar, dass die SPD in einem ökosozialen Bündnis die Juniorrolle akzeptiert. «Wenn sie schon die kleinere Partnerin wäre, dann zieht sie eine grosse Koalition vor.» Ein plausibles Szenario.

Doch das ist vorbei. «Die SPD ist immer etwas suizidgefährdet, doch eine schwarz-rote Koalition kann ich mir nach Fukushima nicht mehr vorstellen», sagte Gangolf Stocker am Montag letzter Woche. Stocker, für das parteifreie Bündnis Stuttgart Ökologisch Sozial (SÖS) im Stuttgarter Gemeinderat, kann Stimmungen gut einschätzen. Er gehört zu den treibenden Kräften der Bewegung gegen das Bahnhofsprojekt S21. Seit fünfzehn Jahren streitet er für den Erhalt und den Ausbau des bestehenden Kopfbahnhofs und wider die kostspielige, gefährliche, städtebaulich verheerende und verkehrstechnisch rückschrittliche Tieferlegung des Stuttgarter Hauptbahnhofs in den Untergrund.

Der Protest habe die Stadt verändert, sagte Stocker. «Der Umgang der Menschen untereinander ist nun freundlicher, offener. Die Leute gehen anders aufeinander zu, und das merkt man der Stadt an.» Die montäglichen Demonstrationen, an denen allerlei Kulturschaffende auftreten, die vielen Diskussions- und Informationsveranstaltungen, die Lesungen, Konzerte und die regelmässigen Grosskundgebungen – all das gehört mittlerweile zum Alltag vieler StuttgarterInnen. Der «friedliche, fröhliche und kulturvolle Charakter der Bewegung», so Stocker, hat dazu geführt, «dass viele Menschen mitdemonstrieren, die zuvor nie an einer Demo waren».

Die Bewegung ist so stabil, dass sie der Schlichterspruch des CDU-Altpolitikers Heiner Geissler nicht umwerfen konnte, nach dem der neue Bahnhof gebaut wird – mit leichten Nachbesserungen. Auch ein ungünstiges Wahlresultat wird sie nicht entgleisen lassen. «Selbst wenn Schwarz-Gelb gewinnt, was ich nicht glaube», so Stocker, «machen wir weiter. Denn mit der Wahl ist der Bahnhof ja noch nicht gebaut.» Noch sind viele Bauabschnitte nicht genehmigt, noch ist der Stresstest nicht gelaufen, mit dem Verkehrstüchtigkeit und Sicherheit des geplanten Kellerbahnhofs überprüft werden sollen, und wenn dann weitere Bäume fallen, erwartet Stocker ohnehin «einen Aufstand». Jedenfalls hat er schon mal ein Dutzend weitere Demonstrationen angemeldet.

Stocker, der frühere Betriebsratsvorsitzende und Kunstmaler, ist optimistisch. Er ist auch eigensinnig, kompetent und mit allen Wassern gewaschen. Wie Egon Hopfenzitz, der ehemalige Chef des Stuttgarter Hauptbahnhofs, der am Sonntag zum ersten Mal seit sechzig Jahren nicht mehr CDU wählen wird. Und wie viele andere, die sich in ihrer Freizeit enormes Wissen angeeignet haben, die Fahrplankapazitäten überprüften, geologische Gegebenheiten studierten, Fluchtwege berechneten und bei der Kostenkalkulation zu ganz anderen Zahlen kamen. Ihnen können die Fachleute von Bund, Land, Bahn und Stadt nichts mehr vormachen. Vor allem dieses Selbstbewusstsein ist charakteristisch für ihren Widerstand, und auch den der deutschen Anti-AKW-Bewegung, die im Südwesten ihre ersten Erfolge erzielt hatte.

Vielleicht ist es kein Zufall, dass ausgerechnet im Bundesland mit der höchsten Dichte an Technikern, Tüftlerinnen und ErfinderInnen der Glaube an das technisch Machbare, das Vertrauen in Grossprojekte und das Ansehen der PolitikerInnen in letzter Zeit so sehr abgenommen haben. Denn es gibt ja Alternativen, wie gerade in Baden-Württemberg immer wieder demonstriert wird: In Schönau im Schwarzwald etwa gründeten MittelständlerInnen ein eigenes Elektrizitätswerk, das seit zwölf Jahren bundesweit atomfreien Strom anbietet. In der Bodenseeregion entstanden die ersten Bioenergiedörfer (siehe WOZ Nr. 46/09). Und selbst im stockkonservativen Oberschwaben bauen CDU-Gemeinden an einem eigenen Stromnetz, weil sie das Diktat der Energiemonopolisten EnBW satthaben.

15. März: Fallout in Konstanz

Akzeptiert dieses informierte Bürgertum die 180-Grad-Wende der bundesdeutschen Atompolitik, die die Kanzlerin Angela Merkel am vorletzten Dienstag in grosser Hast einleitete? Die Wahl in Baden-Württemberg sei auch ein Volksentscheid über ihre Politik, hatte sie nach dem S21-Polizeieinsatz gegen Schülerinnen und Rentner Ende September gesagt. Glaubt diese Bevölkerung einem Moratorium, das vielleicht keines ist? Vergessen die Menschen, dass PolitikerInnen jetzt Sicherheitslücken bei AKWs einräumen, die zuvor als risikolos eingestuft worden waren? Und dass das Argument von den Stromausfällen bei AKW-Abschaltungen bloss eine Drohung war?

Die Stimmung hat sich geändert, selbst in der Provinz, wo so manche die Sprüche der PolitikerInnen noch immer für bare Münze nehmen. Richtig begriffen hat das die CDU aber noch nicht. Sie glaubt, es mit einem momentan emotional geladenen Publikum zu tun zu haben, dessen Ärger wieder verraucht. Doch nicht Wut treibt die Leute um, sondern der nachhaltige Zorn über die Art und Weise, wie die da oben sie behandeln. Japan sei eine Zäsur und «Neckarwestheim geht auf Dauer vom Netz», versuchte der Konstanzer CDU-Abgeordnete Andreas Hoffmann bei einem Auftritt am vorletzten Dienstag die Gemüter zu beruhigen. Abgenommen haben ihm diesen raschen Schwenk nur wenige. Schliesslich hatte Ministerpräsident Mappus erst im Februar ein Abschalten von Neckarwestheim für «inakzeptabel» erklärt. Und dann, auch das sprach sich herum, liess Mappus, der einst beim AKW-Hersteller Siemens angestellt war, monatelang eine Studie des Freiburger Fraunhofer-Instituts in der Schublade liegen, die belegt, dass Baden-Württemberg innerhalb von zehn Jahren problemlos auf erneuerbare Energien umsteigen könnte.

Dass seine Argumente nicht ankamen, machte Hoffmann doch ein wenig nervös. Jedenfalls blaffte er einen Zuhörer an, der ihm zum Projekt S21 – das der Abgeordnete heftig befürwortet – eine simple Fachfrage gestellt hatte. Man könne schliesslich nicht alles wissen.