Flüchtlinge: Glücksritter auf Lampedusa

Nr. 13 –

Junge Tunesier, zornige BürgerInnen, politische AktivistInnen, ein Notstandspräfekt, ein Generalkonsul und die Frage, was genau die Grenzschutzagentur Frontex macht: eine Reise nach Sizilien und Lampedusa, wo die europäische Migrationspolitik ausgehandelt wird.

Will man verstehen, was in Lampedusa vor sich geht, blickt man am besten auf die Schuhe: Auf die blau glänzenden Kappa-Turnschuhe, die sich Walid gleich nach der Ankunft gekauft hat, oder auf die Halbschuhe und Sandalen, die im Museum der Migration von der Decke baumeln: «Askavusa» nennt sich die Kulturvereinigung, die das Museum betreibt. Das Dialektwort heisst «barfuss»: weil die EinwohnerInnen früher barfuss herumliefen. Und weil heute die Bootsflüchtlinge, die sich unterwegs der durchnässten Schuhe entledigt haben, barfuss ankommen.

Lampedusa, 130 Kilometer von Tunesien entfernt, mehr als 200 Kilometer von Sizilien, Insel vulkanischen Ursprungs, geologisch zu Afrika gehörend, zu Beginn des 19. Jahrhunderts dauerhaft besiedelt, nach der italienischen Einigung 1861 Teil des Königreichs, später als Gefängnisinsel benutzt.

«Lampedusa, die Westernstadt! Es gibt nur diese eine Hauptstrasse hinunter zum Hafen, mit Bars und Läden», meint ein kanadischer Globetrotter. «Der Bürgermeister hat ein Alkoholverbot für Tunesier erlassen. Wie für die Indianer! Sag ichs doch: Westernstadt, hahaha!» Der Kanadier ist ein Aktivist mit einer eigenen Mission: Mit dem Kajak hat er Lampedusa umrundet, um für die Einhaltung der Menschenrechte zu protestieren.

Die Insel ist neun Kilometer lang und drei breit. Sie zählt 5500 EinwohnerInnen, die zu vierzig Prozent von der Fischerei leben und zu sechzig Prozent vom Tourismus. «Stündlich kommt eine Barke an», hatte das «Giornale di Sicilia» zu Wochenbeginn getitelt. Am Ende der Woche sollten es 3000 Flüchtlinge sein.

Ich bin Mitte März nach Sizilien und Lampedusa gereist. Weniger um die Geschichte eines Flüchtlings von seiner Landung bis zum Verschwinden zu erzählen. Vielmehr, um die italienische und europäische Migrationspolitik zu verstehen – auch die Schweiz trägt sie mit. Begegnet bin ich dem Zorn einer Bevölkerung und dem Mut, aber auch dem Übermut der jungen Tunesier, die dieser Politik entgegenstehen.

«J’aime la Suisse! J’aime Roger Federer!»

Walid führt mich hinunter zum Schiffsfriedhof am Hafen. Im Osten thront die Zentrale der Küstenwache, im Westen befindet sich die militärische Sperrzone, in der die Boote der Flüchtlinge landen. Dazwischen das smaragdgrüne Meer. Die Holzkähne liegen schräg nebeneinander, sie sind bunt bemalt und einige mit dem Herkunftshafen angeschrieben – zum Beispiel «Sfax». Walid springt auf ein blaues Schiff mit Führerkabine. Mit so einem ist er unterwegs gewesen, bis der Regen einsetzte und der Motor ins Stottern geriet. Die Küstenwache hat sie gerettet.

Walid erzählt seine Geschichte: «Ich bin 24 Jahre alt und komme aus Sidi Bouzid in der Mitte von Tunesien. Es gibt wenig Arbeit, man sitzt rum, trinkt Kaffee, raucht Zigaretten. Ich bin Coiffeur von Beruf, am einen Tag habe ich einen Job erhalten, am anderen nicht. In zwei Jahren ist es mir gelungen, tausend Euro auf die Seite zu legen. Ich rief auf die Geheimnummer an und ging nach Zarzis. Wir waren hundert Personen auf dem Schiff, in der Nacht legten wir los. Die Fahrt dauerte 24 Stunden. Nein, Angst hatte ich keine. Über das Leben und den Tod entscheidet Gott. Das ist nicht meine Sache, ich suche nach der Freiheit.»

Walid spricht weiter: «Für die jungen Europäer ist es einfach zu reisen. Wir aber haben kein Recht zu reisen, ich habe noch nicht einmal einen Pass.» So hat er sich das Recht eben genommen. Von Lampedusa will er weiter nach Italien oder Frankreich, um zu arbeiten. Wobei auch die Schweiz nicht schlecht wäre. «J’aime la Suisse! J’aime Roger Federer!» Dessen Tennis sei wirklich «incroyable».

Die Cafés in der Hauptstrasse sind voller Tunesier. Bilal zeigt ein Handyvideo, das er auf der Überfahrt gemacht hat. Man mag diese wackligen Bilder schon gesehen haben – doch sie sind besonders eindrücklich, wenn der, der sie gemacht hat, neben einem steht. In dicken Jacken kauern die Flüchtlinge eng beieinander im Boot. Plötzlich balanciert einer auf der Bordkante. Ist das nicht gefährlich? «Das Meer war ruhig», beschwichtigt Bilal.

In der Stadt sind auch Technikstudenten aus Tunis, dreissig Kollegen: Die haben gar nicht erst einen Schlepper in Anspruch genommen, sondern sich gleich selbst ein Schiff beschafft. «Und zwei Navigationssysteme», erzählt Elektromechaniker Mehdi. Sein Handyvideo zeigt den Sonnenaufgang über dem Mittelmeer.

Vielleicht ist die Gelassenheit der Männer auch Selbstschutz: Von den zwanzig Booten, die zu Wochenbeginn aufgebrochen sind, hat es eines nicht geschafft: Vierzig Menschen haben vor der Küste Tunesiens ihr Leben verloren.

In der Schweiz debattiert man, ob es sich bei den Tunesiern um politische Flüchtlinge oder um Wirtschaftsflüchtlinge handelt. Hier in Lampedusa erscheint diese Unterscheidung lächerlich: Glücksritter, das ist das treffende Wort. Die meisten Tunesier sind zwischen achtzehn und dreissig Jahre alt und nach Lampedusa aufgebrochen, wie es ihre Schweizer AlterskollegInnen nach Berlin oder New York zieht. Europa ist kein fernes Paradies, sie sehen sich als Teil einer globalisierten Gegenwart. «Ist das ein iPhone 3 oder ein iPhone 4?», will einer wissen.

Die Stimmung ist überschwänglich, ruhiger wird es bloss, wenn man fragt, weshalb sie denn das Land nach der Revolution verlassen haben. Vielleicht wird es auch ruhiger, weil man über Politik spricht. «Ben Ali, ich sage das jetzt, war ein Dracula. Er ist weg, aber seine Familie ist noch da.» – «Zu Beginn des Jahres stand alles auf Play, jetzt schon wieder auf Pause.» – «Mit Tunesien hatte ich nie etwas zu tun.» International gilt die Lage in Tunesien weiterhin als äusserst instabil.

Lampedusa, Ort der permanenten Grenzziehung: 500 Polizisten sind hier im Einsatz: Die Guardia di Finanza und die Guardia Costeria bewachen die Küste. Carabinieri fahren in Jeeps mit Blaulicht und in Reisecars durch die Stadt, sammeln die Flüchtlinge ein und schaffen sie ins Lager zurück. Die Grenzen verlaufen aber auch in den Gesprächen: Einige Tunesier warnen noch, dass es unter ihnen auch Filous hätte. Und wenn erst die Libyer kämen! Die würden zwar auch unterdrückt, aber wirtschaftlich gehe es denen doch bestens: Die Anderen sind überall.

Die Politik der «Emergenza»

In der Wohnung der Flüchtlingshelferin Judith Gleitze am Hafen von Palermo treffen sich drei Aktivistinnen, um aus ihrer Sicht über die Migrationspolitik zu berichten.

Gleitze zog vor zwei Jahren nach Sizilien, wo sie für die Menschenrechtsorganisation Borderline Europe Informationen sammelt. Sie war in Deutschland in der Flüchtlingsarbeit engagiert, Ende der neunziger Jahre begann sie mit ersten Recherchen zur Migration über das Mittelmeer: «Das Europathema wurde immer wichtiger.» 2003 trat die Dublin-Verordnung in Kraft: Für das Asylverfahren ist jenes Land zuständig, in dem ein Flüchtling zuerst ankommt. Die Folge war eine Militarisierung der Südgrenze Europas: Von der Strasse von Gibraltar verlagerten sich die Routen Mitte des Jahrzehnts in die Strasse von Sizilien. 2008 erreichte die Flucht über Lampedusa einen Höhepunkt, über 30 000 Flüchtlinge passierten die Insel. Sie kamen aus Somalia, Eritrea oder der Subsahara. Im Sommer darauf schloss der italienische Premier Silvio Berlusconi einen «Friedensvertrag» mit Muammar al-Gaddafi: Er versprach im Zeitraum von zwanzig Jahren Investitionen von fünf Milliarden Dollar, vordergründig zur Wiedergutmachung der kolonialen Vergangenheit.

«Da war der Schalter umgelegt», sagt Gleitze. Libyen als wichtigstes Transitland machte die Grenzen dicht, die Flüchtlingsbewegung verlagerte sich nach Griechenland. Bis die Revolutionen in Nordafrika losbrachen.

Die sizilianische Anwältin Germana Graceffo bezeichnet sich selbst als «Zuständige für die Hoffnungslosen». Sie berät Flüchtlinge aus der halben Welt. Der rote Faden durch die italienische Politik sei die «Emergenza», der vermeintliche Notstand: 2009 wurde ein «Sicherheitspaket» erlassen, das die illegale Einreise zum Straftatbestand machte. Die Verwaltungshaft wurde von zwei auf sechs Monate verlängert. Diesen Februar wurde per Dekret der Notstand ausgerufen. Ein Notstandspräfekt kann das geltende Recht ausser Kraft setzen, um bei der Unterbringung der Flüchtlinge seine Politik durchzusetzen: öffentliche Ausschreibungen, Umweltbauvorgaben, hygienische Standards – alles aufgehoben.

Gleitze und Graceffo betonen beide: «Das Asylrecht in Italien ist nur noch auf dem Papier garantiert.» Eine soziale Unterstützung während des Verfahrens gibt es nicht, häufig kommt es nicht zur individuellen Prüfung der Asylgesuche, die Rekursmöglichkeiten sind stark eingeschränkt.

Graceffo weist auf ein Paradox hin: «Migration war schon immer ein gutes Geschäft.» Die Schwarzarbeit, welche viele Abgetauchte leisten, und die Gebühren, die sie bei einer Legalisierung zahlen: einträgliche Einnahmen für die Unternehmen und den Staat.

Laura Verduci berichtet von der lokalen Situation in Palermo: Im Februar hat sich hier der marokkanische Strassenhändler Nouredin, 27 Jahre alt, mit Benzin übergossen und angezündet, weil er die täglichen Repressionen durch die Polizei nicht mehr ertragen hat. Wenige Tage nach der Verzweiflungstat starb er im Spital.

Verduci ist eine der BetreiberInnen des Laboratorio Zeta, eines sozialen Zentrums für MigrantInnen mit Beratungsstelle, Sprach- und Computerkursen. Das Gebäude für den Treffpunkt musste wiederholt besetzt werden. «Auch weil es darum geht, der Mafia die Räume streitig zu machen», sagt Verduci. Mit ihrem politischen Einfluss habe die Cosa Nostra bisher den Aufbau eines öffentlichen Migrationszentrums verhindert. «So können sie die Migranten bei der Job- und Wohnungssuche besser ausnehmen.» Anwältin Graceffo: «Wer per Notstand regiert, fördert intransparente, mafiöse Strukturen.»

Nationalfahne auf Halbmast

Das Lager liegt in einem Talkessel hinter der Stadt Lampedusa. Nach der Landung werden die Flüchtlinge dorthin geschafft. Verlassen können sie es nur, indem sie über den Zaun klettern. Für JournalistInnen ist es unmöglich geworden, ins Lager zu gelangen. Die Präfektur lehnt auch das zweite Gesuch ab. Selbst wenn man sich in der Nachmittagshitze von einem der umliegenden Hügel einen Blick verschaffen will, kehrt man lieber wieder um: Auf den Hügelzügen tauchen die Silhouetten der bewaffneten Carabinieri auf, die das Lager umstellt halten.

«Ssst», pfeift der Tunesier durch die Zähne. Da ist er wieder, in seinem Kapuzenpulli. Er hatte angeboten, eine Einwegkamera ins Lager zu schmuggeln. Den ersten Termin verpasste er – während des Eindunkelns hat er es nochmals in die Stadt geschafft. «Wir mussten beim Fotografieren aufpassen wegen der Polizei. Aber alles ist drauf, das ganze Bordell!» Er macht das Victory-Zeichen und verschwindet entlang der Hauptstrasse.

Die entwickelten Fotos zeigen das Lager detailliert: Auf den ersten Blick wirken sie wie auf einem Open Air aufgenommen, beim genauen Hinsehen zeigen sie das Fiasko der Politik: Die Wohncontainer sind völlig überfüllt. Schaumgummimatratzen liegen im Flur, sind selbst unter den eigentlichen Betten ausgebreitet. Draussen auf dem Gelände sind improvisierte Zelte aufgespannt, mit Wolldecken und Plastikplanen schützen sich die Flüchtlinge vor der nächtlichen Kälte. Die Temperatur liegt bei acht Grad.

Ein Mitarbeiter eines Hilfswerks informiert über die Situation im Lager – er möchte anonym bleiben: «Das Lager bietet Platz für 850 Personen. Im Moment sind 2600 Personen untergebracht. Dreimal so viel! 200 Personen nächtigen zudem in einem Haus der Kirche. Unter den Flüchtlingen sind 15 Frauen und 120 Minderjährige. Zu trinken gibt es genug, das Essen ist knapp, die Zigaretten sind rationiert auf fünf pro Person und Tag. Duschen sind keine vorhanden, die Flüchtlinge müssen sich mit Wasser aus Tanklastwagen waschen. Einige sind psychisch angeschlagen, weil sie eine schwierige Überfahrt hatten: Die Hälfte der Boote ist in dieser Woche von der Route abgekommen. Das Warten führt zu einer depressiven Stimmung. Die Carabinieri nehmen den Flüchtlingen zur Identifizierung die Fingerabdrücke, die Hilfswerke erteilen Auskünfte über das Asylverfahren.»

Und was macht eigentlich die europäische Grenzschutzagentur Frontex? Der Hilfswerksmitarbeiter: «Ich habe bisher nur die Pressesprecherin gesehen.»

Bis spät in die Nacht kurvt ein Auto mit Lautsprechern auf dem Dach durch die Stadt. Eine krächzende Frauenstimme ruft die Bevölkerung von Lampedusa auf, sich am nächsten Tag auf der Piazza della Libertà zu versammeln.

Es ist Donnerstag, der 17. März: Mit einem Extrafeiertag gedenkt Italien der Ausrufung des Königreichs im 19. Jahrhundert. Die nationale Einigung war die Folge von Giuseppe Garibaldis «Zug der Tausend», der in Sizilien begonnen hatte. 150 Jahre später herrscht ganz im Süden Italiens keine Festlaune: Auf dem Platz in der Mitte der Stadt weht die italienische Fahne auf Halbmast, in den Sternenkranz der EU-Flagge hat jemand ein Fragezeichen gemalt.

Um den Platz sind Transparente aufgehängt: «Die Lampedusaner sind Bürger der Kategorie B!» – «Wir zahlen keine Steuern mehr!» Antonio Papalardo, der Präsident der örtlichen Fischervereinigung, liest einen offenen Brief an Berlusconi vor: «Heute wird die nationale Einheit gefeiert, aber wir werden dabei vergessen. Ein Problem, das alle angeht, haben wir alleine zu schultern. Wir sind nicht rassistisch, aber gerade geht die Tourismussaison baden.» Man werde sich mit allen Mitteln gegen ein «Tendopoli» wehren: Ein Zeltdorf, welches das überfüllte Lager entlasten soll.

Lampedusa, Ort der bizarren Bilder. An der Peripherie Europas, mitten im Scheinwerferlicht. Am Nachmittag fährt der Fernsehsender Rai Due mit vier Lastwagen vor und baut auf dem Freiheitsplatz ein Freiluftstudio auf. In der Abendshow reden die PolitikerInnen in Rom, auf Lampedusa wartet die Bevölkerung stundenlang auf ihren Einsatz. Dann endlich die Einschaltung, zwei Minuten. Die Stimmung auf dem Platz ist explosiv. In Rom reibt man sich die Augen. Nachdem die Kameras ausgeschaltet sind, fluchen sich die Lampedusaner frustriert an, weil sie kaum Gehör gefunden haben: Auf Lampedusa will jeder Teil eines Staates sein, Teil des grossen Ganzen.

Der Präfekt und das Grosslager

Das Büro von Giuseppe Caruso in Palermo ist riesig, aber seine Macht angeblich gering: Der Notstandspräfekt betont, dass er nur für die Unterbringung der Flüchtlinge zuständig ist.

Seit Jahresbeginn sind 18 000 Tunesier und achtzig Ägypter in Lampedusa angekommen. Die Ägypter hat man gleich wieder zurückgeschafft, weil es ein Rückübernahmeabkommen gibt. Die Tunesier wurden bisher per Schiff oder Flugzeug in Aufnahmezentren, sogenannte Cara, in Italien verteilt. «Von ihnen wollen die wenigsten in Italien ein Asylgesuch stellen, sondern in andere europäische Länder weiterreisen», sagt Caruso. Die Cara sind mittlerweile alle besetzt. Die Lage auf Lampedusa beurteilt er als «kritisch».

Abhilfe schaffen soll ein Grosslager in Mineo im sizilianischen Hinterland: 2000 Flüchtlinge sollen dort auf einer ehemaligen US-Militärbasis untergebracht werden, abgeschottet von der Öffentlichkeit, bewacht von Soldaten. Nicht nur Nichtregierungsorganisationen, auch die Bürgermeister der umliegenden Gemeinden protestierten gegen das Lager. «Es ist nicht möglich, immer alle zufriedenzustellen», sagt Notstandspräfekt Caruso. Profitieren wird auf jeden Fall die US-italienische Baufirma Pizzarotti, die das Areal vermietet.

Hört man Caruso zu, erhält man den Eindruck, das Lager in Mineo löse alle Infrastrukturprobleme, welche die italienische Regierung mit ihrer Notstandspolitik erst produziert hat: «Mineo wird ein Vorzeigelager, mit Grünflächen und kleinen Häusern.» Caruso zeichnet ein Dreieck in die Luft: «In Mineo werden Migranten untergebracht, die aus anderen italienischen Cara kommen. Dort wird Platz frei für die Neuankömmlinge von Lampedusa. Wer sicher in Italien bleiben darf, soll auch das beste Lager haben.»

Zum Schluss, Dottore Caruso, was macht eigentlich Frontex? Caruso geheimnisvoll: «Ich bin über ihre Aktionen informiert.»

Was bekannt ist zu Frontex: Dass die Grenzschutzagentur mit einem Flugzeug bei der Überwachung der Strasse von Sizilien hilft. Ausserdem lässt sie in den Cara die Tunesier nach den Fluchtrouten befragen. Beteiligt daran sind auch zwei Mitarbeiter des Schweizer Grenzwachtkorps, einer davon in Caltanissetta auf Sizilien. Diesen Grenzwächter zu treffen, ist ungefähr so einfach, wie auf das Schloss aus Franz Kafkas Roman zu gelangen. Eine entsprechende Anfrage wandert tagelang zwischen den Schweizer und den italienischen Behörden sowie der Grenzschutzagentur Frontex in Warschau hin und her. Dann meldet sich telefonisch eine anonyme Stimme aus Caltanissetta, mit abschlägigem Bescheid.

Wie wichtig ist Frontex tatsächlich? Oder macht sich die Grenzschutzagentur nur wichtig? Eine mögliche Antwort liefert der deutsche Generalkonsul, in diesen Tagen in Süditalien unterwegs, um für seine Regierung die Lage zu analysieren: «Mir ist die Rolle von Frontex selbst nicht klar. Aber wenn die Italiener um Unterstützung bitten, ist es für uns halt am einfachsten, Frontex weitere Mittel zuzusichern.»

Die vereinigte Migrationspolitik, nach all den Gesprächen zusammengefasst: Europa schiebt ein «Problem» nach Italien, Italien schiebt es auf Lampedusa, und dort erscheint es riesengross – und ist durchaus eines, weil Lampedusa im Gegensatz zur Schweiz tatsächlich eine Insel ist.

Im Museum der Migration

Kleider, Rettungsringe, Töpfe, Schwimmwesten, Ruder, Strohhüte, Schiffsmotoren – und die Schuhe an der Decke: Giacomo Sferlazzo, der bärtige Cantautore und Maler, hat die Fundgegenstände vom Strand zu einem Museum der Migration zusammengetragen. Die Fundstücke erzählen vom zeitlichen Ablauf der Flucht: Auf die Heiligenbilder aus Äthiopien folgen Koranausgaben aus Nordafrika. Sferlazzo zeigt eine Flaschenpost: Wer sie findet, darf die junge Frau heiraten, die sie ins Meer geworfen hat – mit ihrer Handynummer versehen. Dann wird Sferlazzo andächtig still: Er hat die Briefe hervorgeholt, die er in den Kleidern gefunden hat, meist eingenäht in den Hosenbund. Er kann sie nicht übersetzen, aber es ist zu erahnen, wovon sie handeln: von den letzten Dingen, von Leben und Tod.

«Wir haben leider zu wenig Platz», sagt Sferlazzo. Das Museum besteht aus nur einem Raum und bildet das Entrée zum Kulturlokal von Askavusa. Sferlazzo träumt von einem grösseren Museum mit einem angeschlossenen Forschungszentrum zum Thema «Migration». «Das wäre auch etwas für die Touristen!»

Bereits gibt es das Lampedusa-In-Festival, einen Filmwettbewerb zur Migration, den Askavusa im Sommer zum dritten Mal veranstaltet. Beiträge können in verschiedenen Kategorien eingereicht werden, zum Beispiel «Landung und Hoffnung».

Askavusa ist quasi die Opposition in der Stadt: Nicht dass die AktivistInnen die übrigen BewohnerInnen nicht verstehen. Aber sie möchten nicht nur am Nationalfeiertag lamentieren, sondern haben auch zu Wochenbeginn Marine Le Pen vom französischen Front National bei ihrem populistischen Besuch auf Lampedusa ausgepfiffen. Wichtig sei die Solidarität mit den Flüchtlingen, schliesslich sei man Teil derselben ökonomischen Logik. «Was wäre nicht alles möglich, wenn das ganze Geld, das in die Militarisierung fliesst, in eine sinnvolle Migrationspolitik gesteckt würde!», sagt Sferlazzo.

Lampedusa, Ort der nächtlichen Auflösung: Leute von Askavusa, AktivistInnen aus Rom und London sowie einige Tunesier haben sich im Kulturlokal versammelt. Eine italienische Mamma kocht Couscous, es gibt billigen Rotwein. Auf der Gitarre werden Freiheitslieder angestimmt, aus der Küche scheppert arabischer Handytechno. Lampedusa, Ort des Schuhwechsels.

Nachtrag: Bis Ende März befanden sich zeitweise 6000 Tunesier auf Lampedusa. 2000 mussten draussen auf der Hafenmole übernachten. Der Zorn der Bevölkerung hat sich gegen die Flüchtlinge gewendet: Ein Boot wurde an der Landung gehindert. Die Migranten demonstrierten ebenfalls gegen ihre Unterbringung. Tausende versammelten sich am Hafen und skandierten: «Freiheit! Freiheit!»

Mit Schiffen der Marine werden die Tunesier nach Sizilien oder aufs Festland gebracht. Unter dem Protest der Bürgermeister kommen sie auch ins «Vorzeigelager» Mineo. Den Plan für ein «Tendopoli» auf Lampedusa hat die italienische Regierung aufgegeben. Zeltlager sind nun in Apulien geplant und auf der sizilianischen Militärbasis Trapani. Von Trapani aus starten auch Kampfjets Richtung Libyen.

Von einer humanitären Aufnahme, die juristisch möglich wäre, will Italien nichts wissen. Innenminister Roberto Maroni reiste stattdessen nach Tunesien und forderte die neue Regierung auf, die Grenze dicht zu machen. Er sicherte ihr dafür 200 Millionen Euro zu. Der Politiker der Lega Nord will auch vor Zwangsausschaffungen nicht zurückschrecken.

Am 26. März landeten erstmals Boote aus Libyen auf Lampedusa, vornehmlich mit Eritreern und Somaliern, die dort festsassen. Die Schweiz hat derweil ihre Beteiligung am Frontex-Einsatz verlängert.

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