Löhne und Vermögen: Die Umverteilung nach oben hat System

Nr. 17 –

In der Schweiz findet eine gigantische Umverteilung statt. Eine Studie des Gewerkschaftsbundes belegt: Die breite Bevölkerung finanziert die Begünstigung der Reichen – nur schon, wenn sie raucht.

«Di Arme wärded immer ärmer, und die Riiche wärded immer riicher. Aber susch wird im Allgemeine alles immer gliicher», klagt der Bewohner einer anonymen Wohnsiedlung in einem Song der Band Stahlberger. Das verbreitete Gefühl in der Bevölkerung, dass seit einigen Jahren eine Umverteilung von unten nach oben stattfindet, ist nun in Zahlen gefasst: Diese Woche hat der Schweizerische Gewerkschaftsbund SGB erstmals einen «Verteilungsbericht» veröffentlicht.

Wie sich die Einkommen in den letzten Jahren entwickelt haben, was einer Familie davon fürs tägliche Leben bleibt, und wo sich die Vermögen konzentrieren: Die Umverteilung, die Gewerkschaftsökonom Daniel Lampart und der wissenschaftliche Mitarbeiter David Galluser errechnet haben, kann als gigantisch bezeichnet werden. Und: Sie hat System.

Die Lohnentwicklung: Nach oben!

Bereits ein Blick auf die Gehaltsmillionäre gibt die Richtung vor: Von 1997 bis 2008 hat sich die Zahl der Personen, die mehr als eine Million Franken Jahreseinkommen beziehen, mehr als verfünffacht: von rund 500 auf 2800. Ähnlich verläuft die Entwicklung bei den Personen mit einem Jahresgehalt von 500 000 Franken und mehr: Sie hat sich mehr als vervierfacht, von rund 2900 auf 12 400.

«Beim Abzockerproblem handelt es sich somit nicht nur um prominente Einzelfälle, sondern es gibt mittlerweile Tausende kleine Vasellas, die ihr Gehalt auf Kosten der übrigen Beschäftigten massiv erhöht haben», schreiben die Autoren. Novartis-Präsident Daniel Vasella verdiente 2010 fast zwanzig Millionen Franken.

Besonders stark öffnet sich die Lohnschere seit 2000: Teuerungsbereinigt wuchsen die hohen Löhne deutlich. Der Durchschnittslohn des bestverdienenden 20 000 Personen, stieg um 14,5 Prozent. Der sogenannte Medianlohn – je die Hälfte der LohnempfängerInnen hat mehr beziehungsweise weniger als dieses Niveau erreicht – stieg dagegen bloss um drei Prozent, ebenso die tiefen Löhne. Im gleichen Zeitraum wuchs die durchschnittliche Produktivität der Wirtschaft um 6,6 Prozent. Ein mittlerer Bruttomonatslohn betrug im Jahr 2008 rund 5800 Franken, ein tiefer 3800 Franken.

In weiten Teilen der Bevölkerung ist der Glaube verbreitet, dass sich Leistung lohne und also alle Beschäftigten für ihr Fortkommen selbst verantwortlich seien. Es ist umgekehrt: Die Löhne der meisten Beschäftigten bleiben unter ihrem Beitrag an die Produktivität, derweil die bestverdienenden zehn Prozent überdurchschnittlich profitieren.

Am stärksten geht die Lohnschere bei den Banken und in der Telekommunikationsbranche auseinander. Haupttreiber der Entwicklung dürfte die starke Zunahme von Boni sein. Im Detailhandel und im Gastgewerbe nähern sich die tiefen und die hohen Löhne hingegen an. Wohl nicht zuletzt wegen des gewerkschaftlichen Engagements für Mindestlöhne: Widerstand lohnt sich.

Die doppelten Verliererinnen sind die Frauen. Von den Beschäftigten, die einen Lohn unter der Armutsschwelle von 3800 Franken verdienen, sind rund drei Viertel Frauen. Zu den TopverdienerInnen zählen vor allem Männer. In den Jahren 2006 bis 2008 gab es keinen Abbau der Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern mehr. Auch die soziale Herkunft spielt eine Rolle: je höher der Ausbildungsgrad, desto stärker der Lohnanstieg.

Die Abgabenpolitik: Nach oben!

Die Löhne sind die wichtigste Einkommensquelle der Bevölkerung. Für ein vollständiges Bild müssen aber auch die Einkommen aus Vermögen, Renten und selbstständigem Erwerb berücksichtigt werden. «Nicht nur die Lohnverteilung ist ungleicher geworden, sondern die Einkommensverteilung im Allgemeinen», schreiben die Autoren der Studie: Von 1995 bis 2007 steigerte das oberste Prozent der Steuersubjekte seinen Anteil an allen versteuerten Einkommen massiv.

Die entscheidende Frage ist nun: Was passiert mit den Einkommen? Eine ungleiche Verteilung der Einkommen kann durch die Politik mit Steuern und Abgaben abgeschwächt werden – oder weiter verschärft. Diese Frage untersuchen die Autoren an Musterhaushalten von Familien mit unterschiedlichen Einkommen, im Zeitraum von 1998 bis 2008. Die Antwort ist der brisanteste Teil des Verteilungsberichts.

Das Fünftel der Familien mit den tiefsten Einkommen verdiente 2008 übers ganze Jahr durchschnittlich 4000 Franken mehr als 1998. Das mittlere Fünftel steigerte sein Einkommen um 5300 Franken, und die obersten zwanzig Prozent aller Familien verdienten 14 900 Franken mehr. Dies nach Abzug jener Abgaben, die in diesem Zeitraum gleich blieben. Nun werden mit diesen Lohnerhöhungen alle Abgaben verrechnet, die sich veränderten. Beispielsweise Einkommenssteuern, Krankenkassenprämien oder Wohnkosten. Das Resultat: Den Familien mit tiefen Einkommen bleiben von den 4000 Franken Lohnzuwachs pro Jahr noch 400, also ein Zehntel. Den Familien mit mittleren Einkommen von den 5300 noch 2700, also etwas mehr als die Hälfte. Den Familien mit hohen Einkommen von den 14 900 noch 14 800, also praktisch alles.

Wie entstand dieser Effekt? In den zehn Jahren wurden die direkten Steuern, die progressiv ausgestaltet sind, gesenkt. Die indirekten Steuern und Gebühren, die proportional wirken, wurden im Gegenzug erhöht. Von dieser Entwicklung profitierten die hohen Einkommen, wie ein Blick auf die Einkommenssteuer und die Krankenkassenprämien zeigt: Die Steuern wurden gesenkt, die hohen Einkommen profitierten dabei viermal mehr als die tiefen. Die Prämien wurden von 1998 bis 2008 verdoppelt – weil sie pro Kopf erhoben werden, bezahlten die unterschiedlichen Einkommenskategorien dafür gleich viel. Die Autoren des Verteilungsberichts sprechen von einer «Abgabenpolitik für die Oberschicht».

Es heisst, dass sich Steuersenkungen für Reiche auch auf die breite Bevölkerung auswirken. Es ist andersrum: Sie kommt für die fehlenden Einnahmen des Staates über indirekte Steuern und Abgaben auf, bezahlt also die Begünstigung der Reichen.

Der Vermögenszuwachs: Nach oben!

Die ungleiche Entwicklung der Löhne und der Abgaben schlägt letztlich auch aufs Sparen durch, sprich auf die Anhäufung der Vermögen. Von 1997 bis 2007 steigerte das reichste Prozent der Bevölkerung seinen Anteil am Gesamtvermögen um 6,1 Prozentpunkte. Alle übrigen Vermögensklassen haben an Anteilen eingebüsst. 2007 besass das reichste Prozent der Bevölkerung 40,9 Prozent der Vermögen, weitere 9 Prozent 34,4 Prozent. Ein Zehntel verfügte also über drei Viertel der Vermögen.

In seinem Blog hat Daniel Lampart einen Beitrag zur Tabaksteuer veröffentlicht. Er klingt wie ein Treppenwitz zum Verteilungsbericht. Die Tabaksteuer wurde in den letzten Jahren regelmässig erhöht – vor allem bei Sparprogrammen. Der Bund nimmt damit heute rund 800 Millionen Franken mehr ein als vor zehn Jahren. Die Einnahmen müssten laut Gesetz direkt in die AHV fliessen. Tatsächlich werden sie dem Gesamtbetrag verrechnet, den der Bund an die Altersversicherung überweisen muss. Wenn die Tabaksteuer steigt, muss der Bund weniger Einahmen aus der progressiven direkten Bundessteuer an die AHV überweisen. «Oder etwas zugespitzt», schreibt Lampart: «Die Raucher aller Einkommensklassen haben am Schluss die Steuersenkungen für die hohen Einkommen und Grossverdiener finanziert.»

Man mag sich jetzt denken: Selber schuld, die RaucherInnen. Doch es gibt keine Sündenböcke, letztlich sind auch die Reichen keine. Vielmehr herrscht derzeit eine Politik, die bewusst und erfolgreich darauf abzielt, dass mit jedem Franken, den die Bevölkerung verdient, steuert oder spart, eine Umverteilung von unten nach oben stattfindet.

Die Studien zur Lohnpolitik der Grossunternehmen von Travail Suisse und die Schrift «Reichtum ohne Leistung» zur Vermögensverteilung von Statistiker Hans Kissling haben den Blick auf die feudalistischen Verhältnisse in der Schweiz geöffnet. Der Verteilungsbericht schliesst dazwischen eine wichtige Lücke, indem er die alltägliche finanzielle Situation eines Grossteils der Bevölkerung darstellt.

Dass die verwendeten Zahlen nur bis 2008 reichen, ist ein Problem. Allerdings nicht wegen der Aussagekraft, sondern politisch. Trotz der Finanzkrise läuft es weiter wie gehabt: 2010 verdienten die Verwaltungsräte ein Drittel mehr als vor der Krise.

Ergänzen könnte man zum Verteilungsbericht bloss: Der Wohlstand der SchweizerInnen ist in den letzten Jahren gestiegen. Die Bewohner dieses Finanzplatzes sind alle Profiteure – im globalen Massstab gesehen.