Griechenland: Risse wie nach einem Beben

Nr. 18 –

Die griechische Krise nimmt kein Ende. Die harten Auflagen von Zentralbank und Währungsfonds und die ständig neuen Sparmassnahmen der Regierung führen das Land an den Rand des Abgrunds. Die Folgen spürt nicht nur die Wirtschaft.


Fukushima hat gezeigt, wie klein und unwichtig Griechenland ist. Es kann weder eine gigantische Umweltkatastrophe verursachen noch die Eurozone in den Abgrund ziehen – es sei denn mithilfe von Irland, Portugal und vor allem Spanien. Griechenland kann nur sich selbst schaden, und das tut es konsequent seit dreissig Jahren. Nun sind wir in der letzten Etappe dieser Selbstzerstörung angelangt, das Land ist tief gespalten. Es gehen Risse durch die Gesellschaft, die sich – wie nach einem grossen Erdbeben – durch alle Bereiche ziehen.

Bei den Kleinunternehmen herrscht Endzeitstimmung. Die Krise hat sie am härtesten getroffen. Das trostlose Bild leerer Läden und Geschäfte sieht man nicht nur in den Stadtteilen der KleinbürgerInnen und des Mittelstands, sondern auch in den eleganten Einkaufsvierteln im Zentrum Athens. Diesen kleinen und mittelgrossen Betrieben steht ein immer noch riesiger, maroder Staatsapparat gegenüber, der zwar lahmgelegt ist, aber nach wie vor enorme Ressourcen verschlingt.

Ein weiterer Riss durchzieht die grosse Schar der Lohnabhängigen. Während die Angestellten im Privatsektor um ihre Arbeitsplätze bangen, verteidigen die Beschäftigten im öffentlichen Dienst verbissen ihre Vorteile. Mit einigem Erfolg: Sie mussten zwar Lohnkürzungen hinnehmen, aber bis jetzt wurde kaum jemand aus dem öffentlichen Dienst entlassen. Die vielen Arbeitslosen – die Quote beträgt offiziell sechzehn Prozent – kommen vor allem aus der Privatwirtschaft.

Kleine Proteste statt grosser Streiks

Zu Beginn der Krise hatten sich alle im In- und Ausland gespannt die Frage gestellt, ob Griechenland die Krise meistern und ob die Regierung die vielen Streiks und Demonstrationen überstehen kann. Die Antwort auf die erste Frage ist offen, allerdings sind die Aussichten schlecht (vgl unten: «Konstante Abwärtsspirale»). Arbeitsniederlegungen und Manifestationen gehören jedoch nicht mehr zum Alltag der GriechInnen. Auch wenn es immer wieder zu Ausständen wie dem der JournalistInnen vor vier Wochen kommt: Die Bevölkerungsmehrheit akzeptiert die harten Reformen und versucht, sich mit der neuen, schmerzhaften Realität zu arrangieren.

Das heisst aber nicht, dass es keinen Protest mehr gibt. Anstelle der grossen, meist von Gewerkschaften und linken Parteien ausgerufenen Streiks und Kundgebungen treten zunehmend kleine Aktionen, die von Minderheiten organisiert werden. Sie richten sich besonders gegen PolitikerInnen der beiden grossen Parteien – der sozialdemokratischen Regierungspartei Pasok und der konservativen Oppositionspartei Nea Dimokratia, die bis Oktober 2009 an der Regierung war. Deren VertreterInnen werden überall attackiert: auf der Strasse, in Restaurants und Cafés, vor allem aber an politischen Veranstaltungen im Inland wie im Ausland.

Ministerpräsident Georgios Papandreou wurde während einer Rede in Paris von StudentInnen angepöbelt. Vizepremier Theodoros Pangalos machte gleich zweimal eine ähnliche Erfahrung – einmal in Paris, als er einen Film des französisch-griechischen Regisseurs Constantin Costa-Gavras vorstellen wollte, und einmal in seinem eigenen Wahlkreis, wo er mit Jogurt beworfen wurde (das passierte übrigens auch Gesundheitsminister Andreas Loverdos bei einem Besuch der Universität Patras). Abgeordnete der Nea Dimokratia sind ebenfalls Ziel von Gewaltausbrüchen. So wurde der frühere Verkehrsminister Kostis Hatzidakis, ein liberaler Zentrumspolitiker, auf offener Strasse attackiert; er landete im Krankenhaus.

Daneben gibt es Protestaktionen unter dem Motto «Wir zahlen nicht». Organisiert werden sie von Gruppen, die die Bus- und Metrofahrgäste zum Billettboykott aufrufen und Fahrkartenautomaten zerstören. Auch AutofahrerInnen greifen zu ähnlichen Massnahmen: Sie besetzen Mautstationen und lassen andere ohne Wegzoll passieren. Ganz unrecht haben diese Gruppen nicht. Denn die Fahrpreise im öffentlichen Nahverkehr wurden um vierzig Prozent erhöht. Und das griechische Mautsystem ist ohnehin ein Skandal – es wird von privaten Bauherren betrieben, die im Einvernehmen mit dem Staat die AutofahrerInnen schröpfen.

Früher haben die linken Parteien solche Aktionen als «kleinbürgerlichen Anarchismus» abgetan. Heute hingegen gelten sie als Widerstand – vor allem weil die herkömmlichen Protestformen der Linken das grosse Publikum nicht mehr mobilisieren können.

Die Krise und die Linke

In den Augen der Regierung ist Syrisa für die Kampagne verantwortlich, ein Bündnis radikaler Organisationen, dem neben maoistischen, trotzkistischen und autonomen Gruppierungen auch die linksökologische Partei Synaspismos angehört. Die Dachorganisation – die mit dreizehn Abgeordneten im Parlament vertreten ist – bestreitet zwar, dass Syrisa-Leute an den Aktionen beteiligt sind, distanziert sich aber auch nicht von ihnen: Sie seien Ausdruck des spontanen Protests eines grossen Teils der Bevölkerung. Syrisa versucht, die militanten Gruppen im Zaum zu halten, gewährt aber ihren Protesten politische Deckung, weil sonst die Einheit des Bündnisses gefährdet wäre. Dabei durchzieht bereits ein tiefer Riss auch diese Allianz.

Noch ist nicht absehbar, wie sich die Krise auf die Linke auswirkt. Sicher aber ist, dass die Kluft zwischen der Bevölkerung und den massgebenden Parteien grösser kaum sein könnte. Laut jüngsten Umfragen sind 71 Prozent der GriechInnen mit der Politik der Pasok-Regierung unzufrieden. Interessanterweise lehnen aber noch mehr BürgerInnen – nämlich 74 Prozent – die Politik der Nea Dimokratia ab, obwohl die Konservativen derzeit recht populistisch auftreten. Die einzigen Parteien, die gemäss Umfragen momentan zulegen, sind die Kommunistische Partei KKE (die drittgrösste Partei des Landes) und Laos, eine Partei am rechten Rand des politischen Systems. Die «Völkisch-orthodoxe Sammlung» ist zwar nicht euroskeptisch, sie befürwortet ausdrücklich die EU-Mitgliedschaft Griechenlands, aber sie profitiert – wie viele andere rechtsextreme Parteien in Europa – von einer täglich zunehmenden Fremdenfeindlichkeit in der Gesellschaft.

Was die BürgerInnen besonders empört, sind weniger die schmerzhaften Massnahmen wie Lohnkürzungen und Steuererhöhungen. Es ist die allgemeine Verunsicherung. Die Schuld daran trägt die Regierung. Seit 2009 versucht sie, die Bevölkerung zu beruhigen – mit irreführenden Aussagen. Sie beteuert immer wieder, dass es keine weiteren Kürzungen geben werde, doch kommen wöchentlich neue, härtere Einschnitte dazu. Sie verkündet ständig neue Abgaben und ist zugleich unfähig, die Steuern einzutreiben; sie wettert gegen Steuerhinterziehung und zeigt sich doch machtlos, wenn sie gegen die grossen SteuerschwindlerInnen vorgehen müsste; sie verspricht radikale Sanierung des Staatsapparats und hat doch nicht den Mut, mächtigen Lobbygruppen Paroli zu bieten.

Das hat zu weiteren Spaltungen geführt, diesmal im Parteiensystem. Die Wahl 2009 hat fünf Parteien ins Parlament gebracht: Pasok, Nea Dimokratia, KKE, Laos und die Linksallianz Syrisa. Inzwischen sitzen dort aber zwei weitere Parteien: Die liberal-konservative Demokratische Allianz, eine Abspaltung von Nea Dimokratia, angeführt von der früheren Aussenministerin Dora Bakojanni. Und die Demokratische Linke, die aus Mitgliedern der ehemaligen eurokommunistischen Partei besteht, die sich von Syrisa trennten, weil sie mit dem programmlosen und oft gewalttätigen Kurs des Bündnisses nicht einverstanden sind.

Kommt die Umschuldung?

Diese neuen parlamentarischen Verhältnisse werfen zwei Fragen auf. Die erste ist, ob die heutige Pasok-Regierung noch bis zum Ende der Legislaturperiode 2013 überleben kann. Die Partei verfügt zwar weiterhin über eine solide parlamentarische Mehrheit, ist aber bis in die Regierung hinein tief zerstritten und scheint ihre Dynamik verloren zu haben.

Die zweite Frage ist: Was wird, wenn alle sieben Parteien bei der nächsten Wahl den Sprung ins Parlament schaffen? In diesem Falle wäre es höchst unwahrscheinlich, dass eine Partei die absolute Mehrheit erreicht, obwohl das Wahlsystem die stärkste Partei privilegiert. Das würde den Weg für eine Koalitionsregierung öffnen. Viele begrüssen dies, andere aber haben grosse Bedenken. Das politische System Griechenlands hat mit Koalitionen keine Erfahrung – und es fragt sich, ob ausgerechnet die Krise der geeignete Zeitpunkt für ein solches Experiment ist. Die einzige Koalitionsregierung der Nachkriegszeit wurde im Jahre 1989 gebildet, überlebte knapp vier Monate und hatte für das Land verheerende Folgen.

Diese Spekulationen interessiert jedoch die Mehrheit der GriechInnen kaum. Ihre grösste Sorge gilt der Umschuldung. Wird sie kommen? Und was passiert dann? Wen trifft ein Schuldenschnitt? Oder geht es am Ende doch nur um eine Fristverlängerung zur Tilgung der 350 Milliarden Euro Schulden, die das Land hat?

Die griechische Regierung, EU-Kommissar Olli Rehn, Währungsfonds-Direktor Dominique Strauss-Kahn sowie Jean-Claude Trichet, Präsident der Europäischen Zentralbank, schliessen eine Umschuldung kategorisch aus. Viele angesehene ÖkonomInnen und Finanzblätter wie der «Economist» und die «Financial Times» sind dagegen der Meinung, dass eine Umschuldung unumgänglich sei. Sie haben nun von unerwarteter Seite Rückhalt bekommen. Der ehemalige Ministerpräsident Kostas Simitis hat sich jüngst in einem Interview für eine Umschuldung ausgesprochen, die sofort stattzufinden habe. Er wurde dafür von der Regierung und seiner Partei, der Pasok, heftig kritisiert. Simitis geniesst aber immer noch grossen Respekt in breiten Teilen der Bevölkerung. Immerhin war er es, der während der Haushaltsdebatte im Jahr 2008 vorausgesagt hatte, dass Griechenland mit der Finanzpolitik der damaligen Regierung von Nea Dimokratia beim IWF landen würde. Seine Meinung wurde damals belächelt, sogar von seiner eigenen Partei.

Griechenland vollzieht einen heiklen Balanceakt zwischen harten Massnahmen, Arbeitslosigkeit, Rezession und Umschuldung. Es ist zwar keine Tragödie wie Fukushima. Aber leicht ist es trotzdem nicht.


Griechenland unter Sparzwang : Konstante Abwärtsspirale

So gründlich kann man sich irren. Nur wenn Griechenland rigoros spare, könne dem Land mit dem Rettungspaket der Eurozone geholfen werden, hiess es Anfang 2010. Seither sind die Sparappelle nicht mehr verstummt. Für die Europäische Zentralbank (EZB), den Internationalen Währungsfonds (IWF) und die meisten EU-Regierungen – insbesondere die deutsche – steht bis heute ausser Frage, dass sich Griechenland gesundschrumpfen muss.

Die Auswirkungen dieses rigiden Sparkonzepts sind mittlerweile nicht zu übersehen. Auf Druck von IWF und EZB kürzte die griechische Regierung die Löhne und Renten, verhängte einen Einstellungsstopp und erhöhte die Verbrauchssteuern. Das würgte den einheimischen Konsum ab. 2010 sank das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 4,5 Prozent, für 2011 wird ein weiterer Rückgang um mindestens drei Prozent prognostiziert. Ausserdem lag das Steueraufkommen im ersten Quartal 2011 um acht Prozent unter dem von Anfang 2010. Dafür steigen die Schulden. Ende 2010 betrug das Haushaltsdefizit 10,5 Prozent des BIP (9,6 waren erwartet worden); die Gesamtschuld erhöhte sich auf über 140 Prozent. Ein weiterer Anstieg ist absehbar, denn die Abwärtsspirale aus Sparmassnahmen, geringerer Wirtschaftsleistung und Verfehlen der Defizitziele setzt sich fort. Mitte April kündigte die Regierung zusätzliche Einsparungen in Höhe von 23 Milliarden Euro an. Dass sie daneben den Verkauf von öffentlichem Eigentum im Gesamtwert von fünfzig Milliarden Euro plant (laut Medienberichten sollen unter anderem Elektrizitätswerke, Telekomfirmen, die Athener Wasserbetriebe, die Bahngesellschaft OSE und Gasunternehmen teilprivatisiert werden), hat die internationalen SpekulantInnen nicht beruhigt: Vergangene Woche schnellte die Rendite für zweijährige griechische Staatsanleihen auf über 25 Prozent.