AKW Beznau: Keiner sagt: «Abschalten!»

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Beznau I und II sind die ältesten Schweizer Reaktoren. Obwohl sie gravierende Sicherheitsmängel aufweisen, müssen sie nicht vom Netz. Atomexperte Leo Scherer sagt, wer das verhindert.


Leo Scherer weiss, wo man den besten Blick auf Beznau hat. Bei Eien, einem Weiler am linken Aareufer, hat der Fluss während Jahrtausenden den Hügel abgetragen, die Böschung fällt steil ab. Von hier oben sieht man auf die grüne Aareinsel mit den zylinderförmigen Reaktorgebäuden: vorne Beznau II, dahinter gleich Beznau I. Reben gedeihen am Abhang, in der Aare schwimmt ein Dutzend Schwäne. Leo Scherer ist in Wettingen aufgewachsen, wo er heute noch lebt und im Einwohnerrat sitzt. Seit einem Vierteljahrhundert beschäftigt sich Scherer nun schon mit Beznau, das wenige Kilometer nördlich seines Wohnorts liegt.

Notstromgeneratoren fehlen

Eigentlich ist er Jurist, doch der 57-Jährige scheint jedes Ventil, jede Röhre, jede Schraube dieser betagten Meiler zu kennen. Einige Jahre war er Atomcampaigner bei Greenpeace. Vor einem Jahr hat Scherer die Organisation verlassen, manchmal arbeitet er aber noch im Auftragsverhältnis für sie. In den letzten Wochen war er vor allem damit beschäftigt, die Grossdemonstration «Menschenstrom gegen Atom» mitzuorganisieren. Sie wird an Beznau und den Reben von Eien vorbeiführen.

Hunderte von Seiten von Sicherheitsberichten hat Scherer in all den Jahren über Beznau gelesen. Wirklich intensiv begann er sich mit der Anlage zu beschäftigen, als das AKW in den späten achtziger und den neunziger Jahren nachgerüstet wurde. Die AKW-Betreiberin, das Nordostschweizer Energieunternehmen NOK (das heute Axpo heisst), musste zusätzliche Notfallsysteme einbauen. Scherer erinnert sich, wie sie ursprünglich die Notstromgeneratoren je doppelt einbauen wollte, wie das eigentlich richtig wäre, weil ja immer ein Generator ausfallen kann. Doch schliesslich habe man – wohl aus Kostengründen – darauf verzichtet und pro Reaktor nur einen Notstromgenerator installiert.

Die Organisation «Fokus Anti-Atom» deckte dann auf, dass 2007 passiert war, was eigentlich nie passieren dürfte: Die Notstromgeneratoren waren nicht einsatzbereit – ein Zwischenfall, «der eindringlich demonstrierte, dass im Fall eines Erdbebens eine Katastrophe nicht mehr aufzuhalten gewesen wäre», wie die Organisation schreibt.

Die Atomaufsichtsbehörde Ensi hatte damals das Problem auch erkannt und die Axpo aufgefordert, die Anlage mit zusätzlichen Generatoren auszurüsten. Doch diese Nachrüstung muss erst bis 2014 realisiert sein. Als Umweltorganisationen und linke Parteien davon erfuhren, verlangten sie, Beznau müsse umgehend vom Netz, bis die Mängel behoben seien. Doch sie blitzten mit ihrer Forderung ab.

Alle schieben die Verantwortung herum

Leo Scherer ortet ein grundsätzliches Problem, als Beispiel erwähnt er eine Geschichte, die etwas kompliziert tönt, aber präzise illustriert, worum es geht: In Beznau könnte es zum Beispiel zum Bruch eines Heizrohrs im sogenannten Dampferzeuger kommen – worauf radioaktives Wasser in den Sekundärteil austreten würde. Einen solchen Unfall hat es vor einigen Jahren in einem japanischen AKW gegeben. Nun besagen die Auslegungsvorschriften, dass ein solcher Zwischenfall automatisch beherrscht werden muss, ohne dass vor Ablauf von dreissig Minuten jemand manuell einzugreifen braucht. In Beznau geht das aber nicht: Ein Operateur muss innerhalb dieser Frist einige Handgriffe machen, sonst würde die Umgebung zu stark verseucht.

In der Sicherheitsdiskussion spielt der Begriff «Auslegung» eine zentrale Rolle: Ein AKW muss gegen diverse, konkret beschriebene mögliche Störfälle gerüstet sein. Im Fachjargon heisst es dann, es sei dafür «ausgelegt», diese Störfälle zu beherrschen, ohne dass Radioaktivität in die Umgebung entweicht. «Wenn ein AKW einen Auslegungsfehler hat, muss es laut Gesetz und Verordnung vom Netz genommen werden», sagt Jurist Scherer. Nun rechne das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi) aber, wie hoch die Wahrscheinlichkeit sei, dass dieser konkrete Störfall überhaupt eintreten würde. Gemäss dieser Wahrscheinlichkeitsrechnung passiert es höchst selten, dass ein Dampferzeugerheizrohr bricht – was dem Ensi erlaube, zu sagen, Beznau sei genügend sicher, um es weiter in Betrieb zu lassen.

Leo Scherer kritisiert: «Wenn man bei einem Auslegungsfehler zusätzlich probabilistisch rechnet, gibt es am Ende praktisch gar keine Abschaltkriterien mehr. Weil man nicht mehr festmachen kann, wo die Grenze ist.» Weichen die Behörden ihr eigenes Regelwerk auf, dann geben sie das einzige Instrument preis, das ihnen überhaupt erlaubt, aus Sicherheitsgründen ein AKW stillzulegen. «Niemand will den unangenehmen Job übernehmen, zu bestimmen, dass ein AKW abgeschaltet werden muss – bis zum Beispiel die notwendigen Nachrüstungen getätigt sind», sagt Scherer. Das Departement für Verkehr, Energie und Kommunikation schiebt die Verantwortung der Atomaufsichtsbehörde zu. Und die wird nicht müde zu sagen, es bestehe «keine akute Gefahr für die Bevölkerung». Sie habe deshalb keine Handhabe, ein Werk abzustellen, das Kernenergiegesetz lasse es nicht zu. «Man kann nach Fukushima die Frage stellen, ob der Gesetzgeber zu wenig streng war», bemerkte denn auch Georg Schwarz, Stellvertretender Ensi-Direktor, jüngst an einer Pressekonferenz.

Leo Scherer sagt indes, die Aufsichtsbehörden hätten sich in den vergangenen Jahren stets die Optik der Betreiber zu eigen gemacht: «Sie haben immer zugunsten der Betreiber und nie zugunsten der Sicherheit entschieden, wenn dies zusätzliche Kosten verursacht hätte. Nach Fukushima müssten sie doch den Mut aufbringen, zu sagen: ‹Wir nehmen all diese Entscheide nochmals hervor und überprüfen sie erneut.› Aber das tun sie nicht!»