Zürich: Der Limmatplatz: Ein immerwährendes Fest der Blicke

Nr. 23 –

Die vor vier Jahren neu gestaltete Tramhaltestelle am Limmatplatz in Zürich ist mehr als eine Verbindung von Form und Funktion. Ihre Architektur ist bewusst gesetzte sozialräumliche Disziplinierung.


Gebäude sind Instrumente der Politik. Das hat niemand so deutlich herausgearbeitet wie Michel Foucault Mitte der siebziger Jahre in «Überwachen und Strafen»: Am historischen Beispiel von Gefängnissen zeigte er auf, wie Mechanismen der sozialräumlichen Disziplinierung auch mit der Architektur verknüpft sind. Die 2007 neu errichtete Tramhaltestelle am Limmatplatz in Zürich ist ein Paradebeispiel eines solch betongewordenen Machtinstruments.

Der Limmatplatz ist das soziale und funktionale Zentrum des ehemaligen ArbeiterInnen- und Industriequartiers, das sich vom Hauptbahnhof zwischen Bahngeleisen und Limmat Richtung Nordwesten erstreckt. Es ist Samstagmittag, rund um den Platz herrscht emsiges Treiben: Hier plaudert man in kleiner Runde, die vollen Einkaufstaschen neben sich. Dort debattiert ein bärtiger Gemeinderat der Alternativen Liste mit einem skeptischen Yuppie. Den Eingang zum Einkaufszentrum im Sockel des Migros-Hochhauses flankiert eine Flügelwache aus Surpriseverkäuferin und freikirchlichem Seelenretter, der mit wenig Erfolg seine kleinformatigen Heftchen an Mann und Frau zu bringen versucht.

Fast 30 000 Fahrgäste frequentieren an jedem Tag die Tramhaltestelle Limmatplatz. Am nördlichen Ende der Langstrasse gelegen, ist der Limmatplatz ein Knotenpunkt des öffentlichen Stadtverkehrs. Konzipiert wurde er im ausgehenden 19. Jahrhundert, als die Tramlinie entlang der Limmatstrasse stadtauswärts gebaut wurde. Noch in den dreissiger Jahren zeigen Fotografien den Platz als nackte, kreisrunde Asphaltscheibe, hälftig von den Tramgeleisen durchschnitten. Ein erstes Wartehäuschen kam erst 1942 dazu. Es versah seinen Dienst über Jahrzehnte hinweg, bis es 2007 ein auffälliger Neubau ersetzte, ein eigentlicher Platz im Platz, eine Traminsel im wahrsten Sinne des Wortes.

In den neunziger Jahren haben die Geschehnisse rund um die offenen Drogenszenen am Platzspitz und am Oberen Letten die Biografie des Industriequartiers nachhaltig geprägt: Noch heute riegeln stachelbewehrte Metallzäune Innenhöfe und Hauseingänge ab und geben darüber Auskunft, wie man der Drogenproblematik mit hilfloser Repression zu begegnen suchte. Auch am Tramhäuschen aus den vierziger Jahren war diese Zeit nicht folgenlos vorbeigezogen. Da der Warteraum zeitweise intensiv von Heroinsüchtigen aufgesucht wurde, sahen sich die städtischen Verkehrsbetriebe 1992 veranlasst, ihn vorübergehend zu schliessen.

Die für die Verwaltung und Teile der Öffentlichkeit traumatischen Erfahrungen jener Jahre sollten Eingang finden in die Planung der neuen Tramhaltestelle: Ihr kam nicht nur die Aufgabe zu, wartenden PassagierInnen Schutz vor Wind und Wetter zu bieten. Sie konsolidierte auch die um die Jahrtausendwende schnell einsetzende «Aufwertung» des Quartiers. Dabei organisierten Zürichs StadtplanerInnen mit bemerkenswerter Sorgfalt, was der französische Soziologe Henri Lefebvre in seiner Untersuchung «Die Revolution der Städte» bereits den StadtplanerInnen der siebziger Jahre angekreidet hatte – den repressiven Raum. In diesem Zug wurde die Strategie der Raumkontrolle ergänzt mit einer Architektur der Transparenz: Diese zeigt sich nicht nur in der Neugestaltung der wieder zugänglich gemachten Innenhöfe, sondern auch bei der Konzeption der neuen Haltestelle.

Ausgestellt im nackten Raum

Die neue Haltstelle besteht aus zwei beidseits der Tramgeleise angeordneten elliptischen Betondeckeln, die von verschieden grossen zylinderförmigen Körpern getragen werden. Die Deckel werden von mehreren rundlichen Öffnungen durchbrochen, durch welche die bereits vor dem Neubau am Platz stehenden Platanen weiterhin dem Himmel zustreben dürfen. Gegenüber seinem Vorgängerbau habe dieser durchlöcherte Betonbaldachin den Vorteil, so liest man in der Publikation des städtischen Hochbaudepartements, dass keine «düsteren Rückseiten» mehr bestünden. Will heissen: Der Platz, seine BenutzerInnen und ihre Tätigkeiten sind mehr oder weniger von allen Seiten her einsehbar.

In der planerischen Abwehr des Rückwärtigen gibt sich eine Denkweise zu erkennen, die Aktivitäten, die der Sichtbarkeit entzogen sind, automatisch in die Nähe des Gefährlichen und Verbotenen rückt. Das Gebot der Öffnung und Durchdringbarkeit zeitigt in den Augen der Verantwortlichen zudem den nützlichen Nebeneffekt, dass die – wie das auf technokratisch so schön heisst – «Verweildauer» unerwünschter NutzerInnen gesenkt wird.

Demgegenüber boten die Sitzbänke entlang der überdachten Vorderwand des Wartehäuschens der alten Haltestelle noch einen geschützten Raum. Dort bildete ein Freiluftstamm von AlkoholikerInnen das unverrückbare – durch knallrote Denner-Tragtaschen subtil als Privatsphäre abgegrenzte – Zentrum stetig sich ablösender Grüppchen.

Auf den bunten Visualisierungen hingegen, die während der Bauphase rund um den Platz von Plakaten prangten, hatte sich diese temporäre Bewohnerschaft des öffentlichen Stadtraumes in Luft aufgelöst. Auch heute Mittag bleiben die Bänke oft leer. Nur gelegentlich setzt sich jemand für ein paar Minuten, andere deponieren kurz ihre Einkäufe darauf. Wer hat schon Lust, länger auf den mitten im nackten Raum platzierten Bänken zu verweilen, dem Durchzug ebenso ausgesetzt wie den Blicken der Leute im Rücken?

An einem Ort, der ein Sichabwenden nicht zulässt, muss man sich immer zu erkennen geben, sein Gesicht zeigen. Diesem Transparenzimperativ wird am Limmatplatz auch durch technische Mittel gehuldigt: Als ob man ihrer offenen Architektur nicht gänzlich trauen würde, ist die Haltestelle zusätzlich mit sechzehn dezent platzierten Überwachungskameras ausgestattet. Sie sind so angeordnet, dass kaum eine Handbreit des Raumes sich dem starren Blick der Sicherheitselektronik entziehen kann. Rund um die Uhr zerlegen sie das Leben, wie es sich eine Woche später an einem Freitagabend auf dem Platz abspielt, in handhabbare Videosequenzen: das weinende Kind, das an seiner Mutter zerrt, das Pärchen, das einen flüchtigen Abschiedskuss tauscht. Wer immer in der vergangenen Nacht neben der Sitzbank sein Abendessen erbrochen hat – auch er ist auf Band gespeichert.

Still und unbemerkt wird in diesem betonüberdachten Raum der Haltstelle ein immerwährendes Fest der Blicke gefeiert, das Sehen des unablässig beobachteten Beobachters angezogen von subtilen architektonischen Elementen: Leuchtwerbeflächen, die an den zylindrischen Tragelementen angebracht sind. Von den Passagieren weitgehend unbeachtet wandern Bilder einer künstlerischen Videoinstallationen über einen an der Säule montierten Bildschirm.

Vandalensicherer heller Schein

Ironie des Schicksals beziehungsweise der städtischen Kunsthochschule, die als Initiantin dieses «Kunst im öffentlichen Raum»-Projektes zeichnet: Die Videokunst stammt vom deutschen Filmemacher Harun Farocki, der in seinem filmischen Œuvre immer wieder auf intelligente Weise die machtvolle Rolle von Sichtbarmachung und Bildproduktion – beispielsweise im Zusammenhang mit der Kontrolle des öffentlichen Raumes – thematisiert.

In seiner Installation am Limmatplatz montiert Farocki Aufnahmen von BesucherInnen verschiedenster Gedenkstätten. «Es geht um die Gesten derer, die eine Stätte aufsuchen oder passieren», schreibt er dazu: «Das Berühren ist der Versuch, etwas ‹greifbar› zu machen, das nicht direkt erfahrbar ist, etwas körperlich anzueignen, das ausserhalb liegt.»

Dass die Geste des Berührens zum blossen Bild verkommt, passt in wunderbarer Weise zur Raumkonzeption des Limmatplatzes. Es handelt sich hier im wortwörtlichen Sinne um «lichte» Architektur: Die Stofflichkeit tritt zurück zugunsten von Aussparungen und hellem Schein. An jenen Stellen hingegen, wo der Einsatz von greifbarem Material unumgänglich war, bevorzugte man Baustoffe, die sich durch die Eigenschaft der «Vandalensicherheit» auszeichnen, wie man der einschlägigen Broschüre des Hochbaudepartements entnehmen kann.

Sowohl die abweisende Eigenheit des Materials als auch seine forcierte Abwesenheit verunmöglichen eine Beschreibbarkeit des Raumes – und das im doppelten Wortsinn: Weder Tags und Kritzeleien noch Erleben und Zeitlichkeit vermögen sich an dieser Leerstelle im Gefüge des städtischen Raumes festzumachen. Die abgekratzten Überreste von FCZ-Aufklebern nehmen sich zwischen den Stahlstreben und Glasscheiben verloren aus.

In unsichtbaren Lettern prangen über diesen sich entziehenden Räumen die Worte Adolf Muschgs: «Mehr als andere Schweizer Städte erkennt man Zürich sofort daran, dass die Oberflächen nicht altern dürfen. Auf nichts reagiert Zürich so empfindlich, ja gereizt wie auf Anzeichen von Verfall.» Spuren des Alterns perlen an der zeit- und makellosen Botoxarchitektur der allgegenwärtigen Glasflächen buchstäblich ab: Sie sind die Kulisse einer flüchtigen Öffentlichkeit. Erlaubt ist, was nicht bleibt.