Eine Geschichte: Auf der anderen Seite hörte Hiltmann Äste knacken, ganz nahe zuerst, dann weiter weg. Indianer müsste man sein, dachte er, als er sich ächzend erhob und den Blutstreifen auf seinem rechten Handballen sah.

Nr. 25 –

In der demilitarisierten Zone zwischen Nord-und Südkorea vernimmt ein Schweizer Leutnant ein nächtliches Brummen. Als er ihm nachgehen will, wagt er sich vielleicht etwas zu weit vor. Ein Vorabdruck aus Franz Hohlers neuem Erzählband, der im August im Luchterhand-Verlag erscheint.


Es war kurz vor drei Uhr morgens, als er erwachte.

Soeben war er im Traum mit einer schwächelnden Taschenlampe durch eine nächtliche Stadt getappt, die vollkommen im Dunkeln lag, und war vor einem riesigen Generator gestanden, der auf einmal mit einem tiefen Brummen ansprang. Von diesem Brummen war er aufgewacht.

Jetzt stand er im Klo und horchte. Nichts.

Dann schlüpfte er in den Bademantel, öffnete die Tür seiner Baracke und trat hinaus. Die Sterne flackerten betörend am Himmel, und ringsum lauerte eine Stille, an die er sich noch immer nicht ganz gewöhnt hatte. Die Baracke war Teil des kleinen Camps in der demilitarisierten Zone an der Grenze zwischen Nord- und Südkorea, und Leutnant Christian Hiltmann aus Basel gehörte zur neutralen Überwachungskommission, die auf der südkoreanischen Seite dieser Grenze stationiert war.

Es war windstill, nichts rührte sich, der Wald ringsum stand unbewegt. Als er nach ein paar Minuten immer noch nichts hörte, trat er wieder ein und schloss die Tür ab. Die Nachtluft hatte ihm gutgetan, und er freute sich auf die paar Stunden Schlaf, die ihm noch blieben.

Kaum hatte er sich hingelegt und die Augen geschlossen, war das Brummen wieder da, oder das, was er für ein Brummen gehalten hatte, denn nun glich es eher einem tiefen Knarren. Hiltmann machte Licht, sprang aus dem Bett und riss das Fenster auf, doch da war das Knarren schon verstummt. Er ging zum Bett zurück, löschte die Nachttischlampe und trat wieder ans Fenster. Dort blieb er stehen und starrte minutenlang in die Finsternis.

Ein Tier? Und wenn nicht, was sonst?

Vor einigen Jahren waren auf südkoreanischem Boden Tunnels entdeckt worden, die aus Nordkorea vorangetrieben wurden und der nordkoreanischen Armee einen Überraschungsangriff ermöglichen sollten. Man zeigte sie heute den Touristen aus aller Welt als Beweis für die Gefahr, die aus dem Norden drohte, doch die Art, wie die Tunnels präsentiert wurden und wie sie begehbar gemacht worden waren, hatte etwas von einem unterirdischen Disneyland. Das Gelächter der Gruppen, die, mit Stiefeln und Helmen ausgerüstet, in einem eigens angelegten Zugangsstollen siebzig Meter in die Tiefe marschierten, liess nicht vermuten, dass es da unten um Krieg und Frieden ging. Sollten die Nordkoreaner wieder so etwas vorhaben und unvorsichtig genug sein, ihre Baumaschinen so nahe an die Grenze zu fahren?

Der Leutnant holte sich einen Stuhl, setzte sich darauf, legte beide Arme auf den Fenstersims und stützte sein Kinn auf einen Handrücken. Er wollte wach bleiben, falls das Geräusch noch einmal kam. Schliesslich war er der Stellvertreter des Kommandanten und war an diesem Wochenende als Einziger auf dem Posten; wenn da auf der anderen Seite eine unvorhergesehene Aktion unternommen würde, müsste er es sofort der südkoreanischen und der amerikanischen Armeeleitung melden.

Als er auffuhr, zeigten die Leuchtziffern seiner Armbanduhr halb vier. Das Geräusch war wieder da, und diesmal war es ein Knurren, das die Fensterscheiben zum Vibrieren brachte und in einem kurzen Gebrüll endete.

Jetzt gab es keinen Zweifel mehr: Es war ein Tier. Da der Grenzgürtel, der sich auf dem 38. Breitengrad durch die ganze Halbinsel zog, seit dem Waffenstillstand für Zivilpersonen nicht mehr betretbar war, hatte er sich im Lauf von über fünfzig Jahren langsam zu einem Naturreservat entwickelt, zu einem Biotop für die verschiedensten Tierarten, in dem auch viele seltene Pflanzen wuchsen.

Dabei war die Nordseite des Grenzzauns nicht nur für Menschen, sondern auch für Tiere gefährlicher, denn sie war vermint. Ab und zu drang ein dumpfer Knall herüber, und man wusste dann, dass eine Tretmine explodiert war. Ob das Opfer ein Mensch war, der die Flucht versucht hatte, oder ein Tier, etwa ein Reh oder eine Gazelle, konnten sie jeweils nicht feststellen, der Wald war zu dicht.

Das nächste Geräusch war schon etwas weiter weg. Es waren kurze tiefe Stösse, fast klangen sie wie Hammerschläge einer Maschine, aber das Aufheulen am Schluss machte klar, dass da kein Bautrupp unterwegs war, sondern ein Tier. Ein grosses Tier. Ein Raubtier.

Hiltmann erinnerte sich an die Behauptung von Wildbiologen, auf der nordkoreanischen Seite habe man schon den sibirischen Tiger gesehen. Diese Behauptung war wohl eher eine Vermutung, wenn nicht ein Gerücht, um die Wichtigkeit des Naturreservats herauszustreichen. Es gab mehrere Gruppen, die sich schon jetzt dafür stark machten, die ganze demilitarisierte Zone nach dem Friedensschluss, der ja irgendwann einmal kommen musste, offiziell zu dem zu erklären, was er jetzt schon war, zu einem Nationalpark.

Was immer es jedoch für ein Tier war, es schien sich etwas in östlicher Richtung entfernt zu haben. Das war durchaus logisch, denn westlich des Camps befand sich der offizielle Grenzübergang mit den entsprechenden Gebäuden auf beiden Seiten. Der wurde zwar kaum benutzt, aber er war ständig besetzt und nachts beleuchtet, kein Aufenthaltsort also für wilde Tiere.

Ohne sich viel zu überlegen, zog Leutnant Hiltmann seinen Pyjama aus und seine Uniform an. Er füllte eine PET-Flasche mit Wasser, steckte ein halbes Brot, eine Packung Schinken und einen Apfel in einen kleinen Rucksack, nahm die Stablampe in die Hand, schaltete sie ein und verliess seine Baracke. Er ging zum Platz neben dem Hauptquartier hinüber, auf dem sie jeweils die Besuchergruppen empfingen und bei schönem Wetter auch bewirteten und Fragen beantworteten, die häufig mit «What would Switzerland do, if –» begannen. Als ob Switzerland could do anything ausser zuschauen. Im Norden stand eine Armee von mehr als einer Million Soldaten, im Süden waren es etwa 800 000, zusammen mit über 30 000 hightechbewaffneten Amerikanern, und dazwischen fünf Schweizer als neutraler Puffer, zusammen mit fünf ebenso neutralen Schweden. Und einer der Schweizer war er, Leutnant Christian Hiltmann aus Basel, der nun den Platz verliess und sich auf den Fusspfad begab, der am Grenzzaun entlang verlief.

Von Zeit zu Zeit blieb er stehen und lauschte in die Dunkelheit. Seit dem letzten Gebrüll des Tigers, und was konnte es anderes sein als ein Tiger, war fast eine halbe Stunde verstrichen, und Hiltmann hatte das Gefühl, in die Nähe von dessen letztem Standort gekommen zu sein. Oder war er bereits zu weit gegangen?

Eine Tafel auf einem asphaltierten Kehrplatz zeigte das Ende des Camp-Geländes an. Ab hier durfte der Pfad nur noch von Soldaten der südkoreanischen oder amerikanischen Truppen begangen werden. Hiltmann beschloss, auf ein nächstes Geräusch des Tigers zu warten, und setzte sich auf den Boden. Sollte er nichts mehr hören, würde er wieder umkehren.

Er lehnte sich mit dem Rücken an die Stange der Tafel und schoss sogleich wieder auf. Das Brüllen, das jetzt ertönte, kam von ganz nah, da konnten höchstens zwei- oder dreihundert Meter dazwischen liegen, und es kam, da war er sicher, von der andern Seite des Zaunes, ihm konnte also nichts passieren.

Vorsichtig betrat er den Pfad hinter der Tafel, der enger war als derjenige im Camp, die Gräser wuchsen hier bis in Kniehöhe, es war offensichtlich, dass er seltener benutzt wurde. Er ging nun auf die Morgendämmerung zu, die sich im Osten ankündigte, trotzdem musste er den Boden vor seinen Füssen ausleuchten, der uneben und zum Teil von Wurzeln überzogen war. Als er die Höhe erreichte, auf welcher er den Tiger vermutete, blieb er stehen und leuchtete mit der Lampe durch den Zaun hindurch. Das Gebüsch dahinter war undurchdringlich. Es waren auch keine Geräusche wie brechende Zweige zu vernehmen, die den Gang eines grossen Tieres verraten hätten.

In Christian Hiltmann war der Jagdinstinkt erwacht. Es war nicht der Instinkt eines Jägers, der ein Tier erlegen wollte, sondern es war die Jagd nach einem Anblick. Er war nie auf einer Safari gewesen und hatte auch mit einer gewissen Belustigung zugehört, als ihm sein Bruder und dessen Frau erzählten, wie sie in Südafrika mit einem Kleinbus ins Löwengebiet gefahren waren, und wie seine Schwägerin die Löwenmutter mit ihren Jungen erst dann gesehen hatte, als sie ihre Hosen hinter einem Baum heruntergelassen hatte, um zu pinkeln, und dann voller Panik zum Bus mit der Reisegruppe zurückgerannt war.

Hier gab es keine Reisegruppe, hier war nichts organisiert, hier war nur er allein, und irgendwo auf der andern Seite der Grenze eine Raubkatze, und diese Raubkatze wollte er sehen, denn sie musste ganz nahe sein.

Er überlegte sich, wie er am besten vorgehen sollte und ob er sich dabei in irgendeine Gefahr begab. Der Zaun war gute drei Meter hoch, war oben mit gerolltem Stacheldraht gekrönt und galt als unüberwindbar. Hiltmann wusste Bescheid, denn es gehörte zu den Aufgaben der Überwachungskommission, bei den Befragungen der Flüchtlinge aus Nordkorea dabei zu sein. Die wenigen Menschen, denen die Flucht gelang, kamen auf dem Seeweg oder über andere Länder, aber durch die Grenzsperre hatte es, seit er hier war, nur ein einziger militärischer Überläufer geschafft. Zu gut war das nördliche Gebiet abgeriegelt und bewacht, und zu stark war das Gelände unmittelbar vor dem Zaun mit Minen verseucht. Ein grösseres Loch im Maschendraht, durch das ein Tier wie ein Tiger schlüpfen könnte, war also auszuschliessen, und dass dieser ein stachelbewehrtes Hindernis von derartiger Höhe überspringen konnte, schien ihm unwahrscheinlich.

Und wenn er von einer südkoreanischen oder amerikanischen Patrouille aufgegriffen würde, würde es wohl einen Verweis geben, aber kaum mehr. So hoffte er jedenfalls, denn ihm war kein solcher Vorfall bekannt. Er war nun fast ein Jahr hier und hatte sich für zwei Jahre verpflichtet. Als er sich zu diesem Dienst gemeldet hatte, dachte er an so etwas wie den Eintritt in die Fremdenlegion, doch mit so viel Eintönigkeit hatte er nicht gerechnet. Nun witterte er ein Abenteuer. Es war Sonntag, und die Kollegen würden erst am Montagmorgen ihren Dienst wieder aufnehmen, der Kommandant eingeschlossen. Streng genommen müssten sie nicht einmal unbedingt auf dem Posten sein, die Schweden verbrachten die Wochenenden meistens in der amerikanischen Basis in Seoul, wo auch alle Schweizer wohnten, und dass von ihnen ständig jemand da sein sollte, war eher eine Marotte ihres Chefs.

Nachdem er sich das alles durch den Kopf hatte gehen lassen, beschloss er, dem Tier auf der Spur zu bleiben, solange es ging, und am günstigsten schien ihm dafür, da stehen zu bleiben, wo er war, und auf das nächste Lebenszeichen von jenseits des Zaunes zu warten.

Nach und nach begannen die Vögel zu singen und teilten sich das Anbrechen des Tages mit. Die Schönheit des morgendlichen Konzerts stand in eigenartigem Widerspruch zur martialischen Situation im Grenzgürtel. Fremdartig quirlende Tonfolgen mischten sich mit Schalmeientönen, die aus den Baumwipfeln erklangen, und Hiltmann kam es vor, als sei er in einem ver- zauberten Wald. Für die Vögel gab es keine Grenze, ihre kehligen Rufe verteilten sich gleichmässig über die Nord- und Südseite der Demarkationslinie, die mit einem Bannfluch belegt war, dessen Macht niemand zu brechen vermochte.

Da, da war er wieder! Hiltmann hörte ein tiefes, krachendes Husten, und zu seiner Enttäuschung war es weit weg, nachdem er doch vorhin so nahe gewesen war. Er steckte seine Lampe in den Rucksack und ging nun im frühen Tageslicht auf dem Pfad weiter. Ab und zu musste er einen Dornenzweig niedertreten, es sah nicht so aus, als ob hier täglich Kontrollgänge gemacht würden. Das Jubilieren der Vögel schwoll an. Jorinde ruft Joringel, dachte er plötzlich, das Lieblingsmärchen seiner Kindheit. Näherte er sich dem Schloss der Erzzauberin, in dem Jorinde und all die andern gefangenen Jungfrauen in ihren Käfigen sassen?

Vor einer durch und durch verrosteten Tafel, die von der Nordseite des Zauns herüberwarnte, hielt er an. Drei oder vier koreanische Schriftzeichen und die Buchstaben «ITAR» hatten dem Zerfall standgehalten. Ob er sich hier in der Nähe eines nordkoreanischen Postens befand? Doch gleich hinter der Tafel wucherte das Dickicht, das Dickicht, in dem sich irgendwo auch der Tiger aufhielt, oder aufgehalten hatte, als er zum letzten Mal hustete.

Nun überlegte er sich doch noch einmal, ob ihm etwa Gefahr von der nordkoreanischen Seite drohte. Was, wenn hinter dem Zaun eine Patrouille aufkreuzte? Was würde sie hindern, hinüberzuschiessen? Es gab in der Nähe des Campgeländes einen Gedenkstein für zwei amerikanische Soldaten, die den Ast eines Baumes abgesägt hatten, weil dieser die Sicht auf ein Stück des Grenzstreifens verdeckt hatte. Sie waren von den Nordkoreanern während dieser Arbeit erschossen worden.

Das erneute Brüllen des Tigers fegte seine Bedenken hinweg. Es war so nahe, dass Hiltmann bis ins Mark erschrak, und gleichzeitig stachelte es seine Neugier aufs Äusserste an. Er begann zu rennen, stolperte über eine Wurzel und fiel mit einem unterdrückten Aufschrei in einen Busch. Auf der anderen Seite hörte er Äste knacken, ganz nahe zuerst, dann weiter weg, und ärgerte sich, dass er sich zu dieser Unachtsamkeit hatte hinreissen lassen. Indianer müsste man sein, dachte er, als er sich ächzend erhob und den Blutstreifen auf seinem rechten Handballen sah. Er holte die Flasche aus seinem Rucksack, goss sich etwas Wasser über die Hand und wischte sich dann mit dem Taschentuch die Erdkrümel aus dem Kratzer, der immer noch blutete. Seine Apotheke, er erinnerte sich deutlich, lag im Duschraum seiner Baracke, und so ballte er die rechte Hand um das Taschentuch zur Faust.

Aber die Richtung, in der er den Tiger vermutete, war dieselbe geblieben, ostwärts, also setzte sich auch Hiltmann wieder in Bewegung, so vorsichtig und geräuscharm wie möglich. Nach einer Viertelstunde hielt er an, um auf ein nächstes Zeichen zu warten. Vielleicht hatte er seinen unsichtbaren Gegner schon überholt. Obwohl sich bei ihm langsam der Hunger meldete, behielt er seinen Rucksack an, das Aufreissen der Schinkenpackung hätte ihn schon verraten können. So behutsam wie möglich liess er sich im Gras nieder, betrachtete kurz seine Wunde und sah mit Befriedigung, dass sie aufgehört hatte zu bluten. Er wartete.

Warten war ihm vertraut, es war eine der Hauptbeschäftigungen auf diesem seltsamen Aussenposten. Man wartete ständig darauf, dass etwas geschah. Und wenn wirklich etwas geschah, wie letzthin die Bombardierung einer vorgelagerten südkoreanischen Insel, dann mussten sie hingehen, zu zweit oder zu dritt, und sich über das Ausmass des Schadens kundig machen, mussten es als Verletzung des Waffenstillstands deklarieren und den Protest bei den Nordkoreanern deponieren. Einmal in der Woche fand eine Sitzung in einer der Baracken statt, deren eine Hälfte nördlich der Demarkationslinie lag, deren andere südlich, und dazu waren ausser den Schweizern und den Schweden die Amerikaner, die Südkoreaner und die Nordkoreaner geladen. Für die Möblierung der Baracken hatte die Schweiz gesorgt, indem sie aus dem Bundeshaus in Bern die alten Stühle und Tische des Ständeratssaales eingeflogen hatte, deren Festlichkeit nicht ganz dem Provisorium einer Baracke entsprach. Bei diesen Sitzungen wartete man jeweils vergeblich auf die Nordkoreaner und fing dann ohne sie an. Sie blieben bis zuletzt fern; es wurden die hängigen Fragen und eben auch die festgestellten Verletzungen des Abkommens besprochen, mit dem Protokoll der Sitzung ging man in den Windfang vor der nordkoreanischen Tür und steckte es dort in einen Briefkasten. Eine Woche später war das Protokoll nicht mehr da, aber die Nordkoreaner liessen sich wieder nicht blicken. Sie spielten mit ihnen Katz und Maus.

Der Leutnant hob den Kopf. Ein tiefes, leises Knurren drang aus dem Wald hinter den Büschen. Erst jetzt merkte er, dass keine Vögel mehr sangen, der Tag hatte begonnen. Der Tiger, so es denn einer war, musste etwa auf derselben Höhe sein wie er. Sinnlos also, sich weiter zu bewegen, aber wohl ebenso sinnlos, so sagte er sich jetzt, zu erwarten, der Tiger käme irgendwann so nahe zum Zaun, dass man ihn sehen könnte. Trotzdem mochte er nicht aufgeben.

Da kam ihm eine Idee. Er öffnete seinen Rucksack, schnitt sich mit der einzigen Waffe, die ihnen gestattet war, mit seinem Offiziersmesser, eine Scheibe Brot ab, fuhr dann mit der Klinge in die vakuumierte Packung und legte sich ein Stück Schinken darauf. In Ruhe ass er das Schinkenbrot, trank dazu etwas Wasser aus seiner Flasche und machte sich dann ein zweites Brot. Nachdem er auch dieses verzehrt hatte, nahm er die geöffnete Schinkenpackung in die Hand und trug sie, langsam weitergehend, vor sich her, schwenkte sie dabei ein bisschen, damit sich der Geruch besser entfalten konnte. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen und horchte hinüber. Einmal schien ihm, er habe einen knackenden Zweig gehört, doch um den Tiger bis zum Zaun zu locken, brauchte es offensicht-lich mehr.

Er schaute den Kratzer auf seinem Handballen an und trieb dann die Haut so auseinander, dass er wieder zu bluten begann. Mit der linken Hand die Schinkenpackung schwenkend, die rechte, aus der das Blut tropfte, ausgestreckt vor sich haltend, setzte er sich langsam wieder in Bewegung.

Der Ruf von hinter dem Zaun überraschte ihn. Unvermutet hatte sich eine schmale Lichtung geöffnet, darin stand ein kleines Wachhaus, und vor dem Wachhaus ein nordkoreanischer Soldat mit einem umgehängten Gewehr.

Erneut rief ihm der Soldat in scharfem Ton etwas zu, und Leutnant Christian Hiltmann rief zurück «Neutral Nations Supervisory Commission! Switzerland!» Als der Wachmann seine Waffe in Anschlag brachte und auf ihn richtete, hob Hiltmann seine Hände in die Höhe, die linke mit der Schinkenpackung, die rechte mit dem Blut am Handballen. Eine Sekunde überlegte er sich, ob er sich umdrehen und fliehen sollte, merkte aber, dass seine einzige Chance war, sich nicht zu rühren. Nein, dachte er, der wird nicht schiessen, der darf nicht schiessen, auf einen neutralen Schweizer auf der anderen Seite der Grenze, das ist gegen die internationalen Abkommen, das käme ins Protokoll der Verletzungen, er setzte nochmals zu «Neutral Nations!» an, aber die Wörter blieben ihm im Hals stecken, als er sah, wie ihn der andere durch sein Zielfernrohr ins Visier nahm.

Da liess das Gebrüll des Tigers den Wald erzittern, der Soldat liess das Gewehr fallen, drehte sich um und sprang mit einem Satz in sein Wachhaus zurück.

Den Anblick, wie der sibirische Tiger gelassen und geschmeidig die Lichtung überquerte, kurz am Gewehr des Soldaten schnupperte und dann lautlos im Gebüsch verschwand, würde Leutnant Christian Hiltmann nie mehr vergessen.

Schnell rannte er in Deckung, trat dann so rasch wie möglich den Rückweg an, indem er sich immer wieder versicherte, dass nördlich des Zauns nur Büsche und Bäume waren, und wunderte sich, wie weit er auf dem verbotenen Pfad gegangen war.

Am Abend schrieb er auf dem Formular des Tagesrapports unter «Besondere Vorkommnisse»: «Keine.»

Franz Hohler: «Der Stein». Luchterhand. München 2011 (erscheint im August). 144 Seiten. Fr. 29.90.