Arabischer Aufbruch: Sprengstoff auf der Halbinsel

Nr. 27 –

Sechs Monate nach Beginn des demokratischen Aufbruchs im Nahen Osten lässt sich noch kaum beurteilen, wie erfolgreich dieser letztlich sein wird. Doch schon jetzt ist klar, dass sich die regionalen Machtverhältnisse zwischen den verschiedenen Staaten stark verschoben haben.


Gegenwärtig kann wohl kaum jemand abschätzen, wie die Lage in vielen Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens in einem Jahr sein wird. Selbst in Tunesien und Ägypten nicht, wo die Unruhen ihren Anfang nahmen und inzwischen die beiden Herrscher Zine al-Abidine Ben Ali und Hosni Mubarak abtreten mussten.

In Tunesien droht eine Machtübernahme der IslamistInnen oder möglicherweise auch ein Staatsstreich des Militärs (siehe WOZ Nr. 26/11). Und in Ägypten steigt der Unmut in der Bevölkerung über die harzigen Fortschritte hin zu einer Demokratisierung. Nur eines ist sicher: Die regionalen Macht- und Bündniskonstellationen zwischen den verschiedenen Staaten haben sich in den letzten sechs Monaten bereits markant verschoben.

Am deutlichsten wird dies mit Blick auf den israelisch-palästinensischen Konflikt. Israels Regierung unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat mit dem Sturz Hosni Mubaraks ihren wichtigsten regionalen Verbündeten verloren. Zwar wird eine neue, demokratisch gewählte Regierung in Kairo – selbst wenn die Muslimbrüder daran beteiligt sein sollten – das Friedensabkommen mit Israel von 1979 nicht aufkündigen. Doch die jahrelang im Einvernehmen mit Israel betriebene Kontrolle der Südgrenze des palästinensischen Gazastreifens hat Ägypten seit Mubaraks Sturz bereits aufgegeben. Ohne diese Kontrolle funktioniert jedoch auch Israels Gazastrategie nicht mehr: den Landstreifen abzuriegeln und die dortige islamistische Hamas-Regierung wirtschaftlich zu boykottieren.

Gebannte Blicke nach Damaskus

Noch wichtiger aber war die Anfang Mai durch ägyptische Vermittlung herbeigeführte Einigung zwischen der Hamas und der von der Fatah-Partei geführten Palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland. Das hat zu einer neuen palästinensischen Dynamik geführt. Ziel der beiden Parteien ist es, Wahlen abzuhalten und danach eine gemeinsame Regierung zu bilden. Kairo unterstützt auch den Plan der Autonomiebehörde, im Herbst einen Antrag in die Uno-Generalversammlung einzubringen. Eine Resolution soll Palästina offiziell als Staat innerhalb der Vorkriegsgrenzen von 1967 anerkennen. Ein solches Vorhaben hätte das Mubarak-Regime niemals unterstützt. Es stösst nicht nur auf erbitterten Widerstand der Regierung Netanjahu, sondern auch auf Ablehnung der USA, Deutschlands und anderer westlicher Staaten.

Zur Einigung zwischen Hamas und Fatah hat möglicherweise auch der Aufstand in Syrien beigetragen. Die Hamas muss befürchten, dass sie sich bei einem Sturz des Regimes von Präsident Baschar al-Assad nicht mehr auf die Unterstützung aus Damaskus verlassen kann. Das hat für sie den Anreiz zur Versöhnung mit der Fatah erhöht.

Israel kann nicht darauf hoffen, dass eine möglicherweise demokratische Regierung in Damaskus die Rückgabe der besetzten Golanhöhen nicht mehr verlangen würde. Syriens bislang gutes Verhältnis zum israelischen Erzfeind Iran könnte sich jedoch abkühlen. Und ein Sturz des Assad-Regimes würde die Oppositionskräfte im Iran neu beflügeln.

Türkische Einflüsse

Die Entwicklungen der letzten Wochen in Syrien haben den begrenzten Einfluss der Regionalmacht Türkei deutlich gemacht. Nachdem sich die Regierung von Recep Erdogan mit ihren Lösungsvorschlägen und Vermittlungsangeboten beim Assad-Regime eine Abfuhr holte, sind die ehemals sehr guten Beziehungen zwischen Ankara und Damaskus derzeit auf einem historischen Tiefpunkt. Und auch das Verhältnis zu Israel bleibt gespannt, nachdem letztes Jahr die israelische Marine ein türkisches Schiff mit Hilfsgütern für den Gazastreifen enterte und dabei neun Türken tötete. Ihre einst sehr aktive Vermittlerrolle zwischen Damaskus und Tel Aviv kann die Regierung in Ankara derzeit nicht wahrnehmen.

Mit ihren umfangreichen Investitionen in Syrien, im Nordirak und auch im Iran hat die Türkei allerdings weitreichende wirtschaftliche Einflussmöglichkeiten. Und mit ihrer laizistischen Verfassung und einer gemässigt-islamischen Partei an der Macht ist die Türkei ein mögliches Vorbild für die künftige Entwicklung in Ägypten und in anderen arabischen Staaten. Allerdings würden ein Sturz des Assad-Regimes und wachsende Spannungen im Irak auch das für Ankara höchst sensible KurdInnenproblem wieder stärker auf die Tagesordnung rücken. Die KurdInnen in der Türkei, im Irak, in Iran und Syrien könnten einen gemeinsamen Staat anstreben.

Innerislamischer Konflikt

Den für die gesamte Region stärksten Sprengstoff bergen allerdings die Umwälzungen in den Ländern der Arabischen Halbinsel. Die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen sunnitischen und schiitischen Gruppierungen im Irak nach der US-Invasion von 2003 haben die Gefahren eines innerislamischen Konflikts aufgezeigt. Das saudische Vorgehen in Bahrain hat die Lage weiter eskalieren lassen: Die Armee des sunnitisch beherrschten Saudi-Arabiens überschritt am 14. März dieses Jahres die Staatsgrenze, um die Proteste der schiitischen Mehrheit in Bahrain niederzuschlagen. Dies erfolgte mit stillschweigender Billigung der USA, deren Kriegsmarine in Bahrain ihren wichtigsten Stützpunkt im Persischen Golf hat. Es gibt jedoch auch zahlreiche Indizien dafür, dass die oppositionellen Kräfte in Bahrain durch das schiitische Regime im Iran unterstützt werden.

Auch in anderen Golfemiraten könnten Saudi-Arabien und Iran indirekt aneinandergeraten. Es ist jedoch nur eine Frage der Zeit, bis die Regimes in Riad und Teheran selbst durch eine Protest- und Demokratiebewegung unter Druck geraten. Beide Regierungen könnten dann versuchen, den schiitisch-sunnitischen Konflikt zu intensivieren, um sich so an der Macht zu halten. Ein innerislamischer Krieg im Nahen Osten würde die Entwicklung von Marokko bis Iran negativ beeinflussen und die hoffnungsvollen Aufbrüche der letzten Monate für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte ersticken.