Durch den Monat mit Familie Alfaré (Teil 2): Wie haben Sie das geschafft?

Nr. 28 –

Familie Alfaré-Kuhn pflegt ihre schwerbehinderte Tochter Natalie zu Hause. Seit die IV für einige Stunden Entlastung pro Monat nicht mehr zahlt, hofft die Familie darauf, dass die Krankenkasse einspringt.

Natalie Alfaré lebt mit ihren Eltern zuhause: «All die Jahre über hat unser Sohn gemeinsam mit meinem Mann Natalies Pflege übernommen», erklärt ihre Mutter Susanne Alfaré.

WOZ: Herr Alfaré, vor einigen Wochen hat Ihnen die IV Knall auf Fall die Unterstützung für die Pflege Ihrer Tochter Natalie ­gekündigt. Wird nun in Zukunft die Krankenkasse die Pflegekosten übernehmen?
Linus Alfaré: Das wissen wir noch nicht. Wir stehen schon seit April mit unserer Krankenkasse in Kontakt.

Susanne Alfaré: Die Kasse verlangt das Gutachten eines Psychiaters. Am 19. Juli wird nun einer für zwei Stunden vorbeikommen, um zu beurteilen, ob die Pflege von der Spitex erbracht werden muss. Er entscheidet, ob Natalie für die Krankenkasse ein Epilepsiefall ist. Hat er nach den zwei Stunden den Eindruck, dass sie keine Epileptikerin ist, dann zahlt die Kasse nicht. Dabei ist das alles bereits dokumentiert. Wir haben einen riesigen Stapel an Dokumenten, die belegen, dass Natalie mehrfach behindert ist.

Und doch stützt sich die Krankenkasse bei ihrer Beurteilung auf den kurzen Besuch eines Psychiaters?
Susanne Alfaré: Ja. Und dabei kommt es sehr darauf an, wie es Natalie gerade geht – zwei Stunden reichen für eine solche Abklärung einfach nicht aus. Bereits als die IV zur Abklärung jemanden geschickt hatte, baten wir darum, dass der Besuch einen ganzen Tag lang dauert, doch die IV winkte ab. Statt­dessen kam eine Frau für eine Stunde vorbei. Sie meinte: «Ah, Natalie kann selber sitzen, ah, sie hat keine epileptischen Anfälle mehr.» Natalie hatte in dieser Stunde mal gerade keinen Epilepsie­anfall. Die Frau sass mit ihrem Laptop da, machte sich Notizen und meinte schliesslich: «Wir schauen dann mal.» Wir fragten uns: Was wollen «wir» da schauen?

Das diagnostizierte Krankheitsbild von Natalie – Epilepsie, Autismus, zerebrale Hirnschäden – reicht nicht aus, um eine Deckung zu rechtfertigen?
Linus Alfaré: Es geht wahrscheinlich darum, festzulegen, wie viele Stunden Pflege übernommen werden. Momentan beziehen wir pro Monat 56 Stunden Spitex-Leistungen. Die Krankenkasse überprüft jetzt, ob das gerechtfertigt ist.

Seit ihrer Geburt vor sechzehn Jahren lebt Natalie zu Hause. Sie braucht rund um die Uhr Aufsicht und Pflege. Wie haben Sie das geschafft?
Susanne Alfaré: Wir waren ja lange zu dritt. Joël, unser zwanzigjähriger Sohn, ist erst vor einem Jahr ausgezogen.

All die Jahre über hat er gemeinsam mit meinem Mann Linus Natalies Pflege übernommen. Deshalb hatte die IV den Eindruck, wir kämen alleine klar. Was aber bei einem solch anstrengenden Alltag alles kaputtgeht und was man alles aufgeben muss, das interessiert die IV nicht. Joël ist nie ausgegangen und hat sich immerzu um seine Schwester gekümmert. Letztes Jahr hat er sich entschlossen, im Ausland zu studieren. Da konnten wir doch nicht Nein sagen. Erst dachten wir: Joël, das kannst du nicht machen! Er hat aber gesagt: «Papa, Mama, ihr müsst alleine zurechtkommen. Ihr müsst die Spitex organisieren, ihr müsst die IV kontaktieren.» Es war unser Fehler, ihn so lange in die Pflege einzuspannen.

Und heute?
Linus Alfaré: Er hat seinen Weg gefunden, für sich allein. Wäre er hiergeblieben, bin ich nicht sicher, ob er die gleiche Richtung eingeschlagen hätte. Nun ist sein Umfeld komplett anders, und das hat ihm geholfen.

Susanne Alfaré: Es hat ihn früher immer ganz schwer getroffen, wenn man von seiner Schwester schlecht geredet hat. Joël hat einiges aushalten müssen. Es gab auch Übergriffe. So hatte eine der Pflegerinnen grosse Mühe mit Natalie. Die Frau war körperlich und psychisch überfordert und hat Natalie geschlagen. Man hat dann Joël unterstellt, er sei dafür verantwortlich.

Wie ging es weiter?
Susanne Alfaré: Wir mussten ärztlich beweisen, dass es die Krankenschwester war, die Natalie geschlagen hatte. Joël hat die Geschichte fast nicht verkraftet. Er wollte nur noch für Natalie da sein. Aber wir haben ihm gesagt: «Nein, du musst deinen eigenen Weg gehen.» Mit Natalie hat er noch immer Kontakt, er mailt ihr, sie kann es ja lesen, und wir schreiben dann zurück. Oder er ruft sie an, und sie hört ihm zu. Es ist wichtig für sie, dass es ihn gibt.

Wer bezahlt nun die Spitex-Rechnungen, seit die IV das nicht mehr macht?
Susanne Alfaré: Seit April hat uns die Spitex alle Ausgaben vorgeschossen. Doch das will sie nicht mehr. Am 25. Juli wird die Spitex entscheiden, wie es weitergeht.

Und wenn die Spitex nichts mehr vorschiesst und die Krankenkasse auch nicht zahlt, was dann?
Susanne Alfaré: Dann wissen wir auch nicht mehr weiter.

Linus Alfaré (atmet tief aus): Die Anwälte der Procap, der Selbsthilfeorganisation für Menschen mit Behinderung, sind an Natalies Fall dran.

Susanne Alfaré: Sie haben uns gesagt, dass das Gerichtsverfahren bereits angelaufen ist. Wir gehen also in Richtung Gericht.

Wer soll die Grundpflege von schwerbehinderten Kindern zahlen, die zu Hause betreut werden? Nicht mehr die IV, entschied das Bundesgericht vor einem Jahr (die Neuerung wird momentan umgesetzt). Letzte Woche fällte das Bundesgericht einen weiteren Entscheid: Neu sollen die Krankenkassen die Kosten übernehmen.