Steueroptimierung: Im Paradies der Briefkästen

Nr. 31 –

Im Jura gibt es eine kleine Gemeinde mit einer rekordverdächtigen Wirtschaftsquote: An einer einzigen Adresse sind hier 164 Briefkastenfirmen angesiedelt, aber vielleicht sind es noch mehr. Ein Besuch bei Cyrille Mertenat.


Soyhières ist eine schmucklose Gemeinde. Der graue Himmel wiegt schwer an diesem Morgen, die Luft ist feucht, der Verkehr rollt auf der Landstrasse vorbei, als nähme er keine Notiz von diesem Ort. Soyhières wirkt verlassen wie ein Geisterdorf, das gegen das Verschwinden kämpft. Einer kämpft an vorderster Front mit: Cyrille Mertenat, 71, ein kurliger Kerl, eher etwas auf der kurzen Seite, silbergraue Haare, spitze Nase, Lachfalten um die Augen.

Mit dem Zug läge Soyhières kaum ein paar Minuten von der jurassischen Hauptstadt Delémont entfernt – wenn er denn dort halten würde: Die SBB haben die Station vor über einem Jahrzehnt aus dem Netzplan gestrichen. Soyhières zählt nur 480 EinwohnerInnen, und wenn das Postauto den Bahnhofplatz in Delémont alle zwei Stunden in Richtung Nachbargemeinde verlässt, bleiben die meisten Sitze leer.

Nur in einem Punkt unterscheidet sich die Gemeinde von vielen anderen kleinen Dörfern in der Schweiz, die ihre volkswirtschaftliche Randexistenz fristen: Die Dichte der hier angesiedelten Unternehmen ist ungewöhnlich hoch. Auf jeden dritten Einwohner kommt eine Firma. Und als Pointe: Über 160 Firmen haben ihren Sitz an ein und derselben Adresse, am Chemin du Château 26A. Einer der Adresseinträge lautet auf Cyrille Mertenat.

Letzten Herbst veröffentlichte der Branchendienst Moneyhouse ein Ranking, auf dem die beliebtesten Schweizer Steuerdomizile für Firmen aufgeführt wurden. Gemeint waren jene Adressen, an denen die meisten Briefkastenfirmen angemeldet sind. Vier der ersten fünf Adressen befanden sich – wenig überraschend – in der Innerschweiz, in Luzern und Zug. Auf den zweiten Platz aber schaffte es der komplette Aussenseiter Soyhières.

Was also ist das Geheimnis von Soyhières? Ist die jurassische Gemeinde ein verkanntes Steuerparadies? Und wartet am Chemin du Château 26A ein riesiger Briefkasten, der in eine Welt von undurchsichtigen Tarnfirmen und Finanzkonstrukten führt?

Der Treuhänder

Das Haus am Chemin du Château 26A gehört Cyrille Mertenat. Er selbst bewohnt ein Stockwerk, in einem weiteren befinden sich die Büroräume seiner Treuhandfirma, der Rest sind Mietwohnungen. Der Eingang zum jurassischen Briefkastenimperium ist ein trister moderner Mehrfamilienblock, der so wenig ins Dorfbild passt wie die Tatsache, dass hier 164 Firmen domiziliert sind. Oder auch mehr. Mertenat, der all diese Firmen verwaltet, hat da ein wenig den Überblick verloren.

Mertenat ist Treuhänder von Beruf – ein Zahlenspieler und Rechner aus dem Bilderbuch, wie er da in seinem Büro sitzt, hinter einem Tisch, auf dem sich Ordner und Akten und Belege stapeln.

Über ihn selbst ist wenig bekannt. In den deutschsprachigen Medien kam er selten vor, zuletzt tauchte sein Name vor zehn Jahren auf. Die «Weltwoche» berichtete 2001 über das damals gerade erschienene Verwaltungsratsverzeichnis. Die knappe, aber bezeichnende Notiz: «So ist Cyrille Mertenat das Kunststück gelungen, die Liste zwischen 1990 und 1998 ununterbrochen anzuführen. Der Treuhänder hat für Vermögensverwalter in Delémont an die 200 Gesellschaften gegründet, um Steuern zu sparen.»

Auf die spärliche Medienpräsenz angesprochen, lächelt Mertenat. «La modestie ne tue pas», sagt er – Bescheidenheit schade nicht. «Ich habe es immer vorgezogen, im Hintergrund zu bleiben. Verstehen Sie mich nicht falsch: Diskretion ist wichtig. Aber es gibt hier keine Geheimnisse. Die Behörden wissen, was ich mache.»

Der jurassische Finanzminister, CVP-Mann Charles Juillard, bezeichnet Mertenat als «sympathischen Kerl», der «sehr gut vernetzt» sei und über einen «grossen Kundenkreis» verfüge. «Er kennt die Industrie in der Gegend sehr gut, er hat auch viele Leute in die Region gezogen. Er ist sicher jemand, der in der Region eine gewisse Bedeutung hat.»

Der Hase

Mertenat erzählt drauflos, bevor ihm überhaupt eine Frage gestellt wird. Er nimmt einiges vorweg, skizziert, wie er beschrieben werden will, zehn, fünfzehn Minuten lang, und dann schliesst er, als sei alles Wichtige gesagt, mit der Selbstverständlichkeit eines Patrons, der soeben eine Ansprache vor seinen Angestellten gehalten hat.

Der simple Grund, warum all diese Firmen ausgerechnet in Soyhières domiziliert sind: Cyrille Mertenat wollte Gutes tun. «Wir sagen hier: Les oiseaux se cachent pour mourir», sagt er – die Vögel ziehen sich zum Sterben zurück. «Ich bin in Soyhières geboren und aufgewachsen. Später zog ich weg. Aber ich hatte immer vor, im Alter in mein Dorf zurückzukehren. Ich wollte etwas für Soyhières leisten.»

Mertenat sitzt in seinem Büro und zeigt auf einen ausgestopften Hasen, das Tier, das auch das Wappen von Soyhières ziert. «Wissen Sie, warum ein Hase schneller läuft als ein Jagdhund?», fragt er. «Als kleiner Bub habe ich manchmal die Jäger bei der Hasenjagd beobachtet. Und da habe ich mich das immer wieder gefragt. Die Antwort ist einfach: Der Hund arbeitet für einen Herrn, der Hase nur für sich selbst.»

Der Optimierer

Mertenat wurde 1940 in Soyhières geboren. Als Jugendlicher arbeitete er neben der Schule in einer Fabrik im fünfzehn Kilometer entfernten Bassecourt, wo er Gussformen polierte – ein typischer Jura-Job, der einem angehenden Finanzmann nicht gefallen konnte. Mertenat fasste den Entschluss, nie in einer Fabrik zu arbeiten.

Er begann eine Ausbildung zum Treuhänder in Delémont, studierte später in Lausanne und machte den Abschluss als Wirtschaftsprüfer, ehe er dort bei einer Treuhandfirma angestellt wurde und sich zum Vizepräsidenten hocharbeitete.

Als sein Chef 1987 starb, erinnerte sich Mertenat an die Hasenjagd. «Ich war lange genug ein Jagdhund, sagte ich mir. Ich habe dabei genug Geld verdient. Jetzt will ich ein Hase sein.» Der 47-Jährige nahm viele seiner Kunden mit und machte sich im waadtländischen Pully selbstständig. Die meisten Firmen domizilierte er schon damals in Delémont. «So konnte man Steuern sparen: Wenn man für zwei Millionen Franken Nestlé-Aktien kaufen wollte, lohnte es sich, dafür eine Finanzholding zu gründen.» Als dann Ende der neunziger Jahre ein Bundesgerichtsentscheid gefällt wurde, wonach Domizilgesellschaften nicht mehr am Domizil, sondern am Ort des Verwalters versteuert werden müssen, verlegte Mertenat seine Büros nach Delémont. Und nach ein paar Jahren nochmals näher zu seinen Wurzeln, noch ein wenig weiter ins Hinterland.

Schöne Geschichte, die Verbundenheit zur Heimatgemeinde. Aber nochmals gefragt: warum ausgerechnet Soyhières im Jura, das steuerlich nicht gerade günstig ist? Nun bekommt die joviale Fassade ein paar Risse. Kritische Fragen zu seinem Briefkastenimperium hört Mertenat nicht gern, er wird vorsichtig, skeptisch. «Hören Sie», sagt er, «all diese Firmen sind real. Das sind keine Scheinfirmen. Diese Gesellschaften werden von Revisionsgesellschaften kontrolliert, der Staat besteuert sie ordentlich. Das können Sie mir glauben. Sie befinden sich hier nicht in einer geheimnisvollen Steueroase. Ich habe keinen Gaddafi unter meinen Kunden.»

Der Betrüger

Mertenat steht auf, führt in den nächsten Raum, nimmt einen von den rund 200 roten Ordnern aus dem Regal. «Sehen Sie, das sind alles Belege über die Versteuerung dieser Firmen im Kanton Jura. Sie haben schon recht: Juristisch gesehen sind das ‹Briefkastenfirmen›. Aber es gibt keine betrügerischen Geschäfte. Das sind Beteiligungsgesellschaften, Immobilienfirmen, Vermögensverwaltungen. Hier wird kein Geld versteckt.» Mertenat hinterzieht nicht, er optimiert. Und mit AusländerInnen geschäftet er kaum.

Mertenat liegt viel daran, dem Besucher zu versichern, dass hier alles mit rechten Dingen zugehe. Immer wieder zeigt er Belege oder ergänzt seine Sätze mit den Worten: «Das können Sie prüfen.» In über vierzig Jahren in seinem Beruf war er nur einmal in eine «äusserst unangenehme Affäre» verwickelt, wie er sagt.

Das war 1997. Ein belgischer Geschäftsmann investierte damals in Villars bei Lausanne, was für einige Aufregung sorgte, da ihn niemand kannte und niemand wusste, woher sein Geld stammte. Die Investmentgesellschaft wurde von Mertenat verwaltet. Als klar wurde, dass der Belgier ein Betrugssystem aus gefälschten Schecks aufgebaut hatte, fand sich Mertenat plötzlich inmitten einer Finanzaffäre wieder. «Das war schlimm für mich.» Er hatte das Mandat nur übernommen, weil ihm der Belgier von der Waadtländer Kantonalbank empfohlen worden war. «Ich wurde nie angeklagt, noch nicht mal beschuldigt. Aber es stimmt: Plötzlich war ich in eine dubiose Geschichte involviert.»

Seither habe er nie mehr ausländische Kunden mit hohen Vermögen angenommen. «Das passiert mir nicht noch einmal.» 95 Prozent seiner Kunden stammten aus der Schweiz, nur vereinzelt seien auch Ausländer darunter, etwa der französische Luxusuhrenhersteller Richard Mille, der mit dem Tennisprofi Rafael Nadal wirbt.

Der Verwaltungsrat

Das Geschäft läuft auch so: Mertenat ist momentan in rund 300 Gesellschaften Verwaltungsratsmitglied, wobei das nur formelle Mitgliedschaften seien, wie er sagt. Pro Gesellschaft, die er verwaltet, verdiene er rund 3000 Franken im Jahr. Das wirkt sich auch auf die Gemeinde Soyhières aus. Erhielt das Dorf früher Geld aus dem Finanzausgleich, so musste es dieses Jahr erstmals an andere Gemeinden zahlen.

Aber Mertenat hat noch nicht genug, obwohl er mit 71 Jahren längst pensioniert wäre. «Ich habe gesehen, was mit meinen Freunden geschehen ist: Sie langweilten sich, hatten nichts zu tun. Das will ich nicht.» Mertenat arbeitet weiter, so wie er es immer gemacht hat. Und er hat eine Vision: Die jurassischen Bezirke sollen je eine steuergünstige Gemeinde etablieren, eine Investment-Insel sozusagen. Im Bezirk Delémont wäre es – Soyhières. Die Gemeinde habe tiefe Infrastrukturkosten, sei schön gelegen, keine dreissig Autominuten von Basel entfernt: ein potenzielles Steuerparadies. «Wenn jemand mit viel Vermögen hierherzieht, könnten wir die Steuern bald senken. Damit die Gemeinde noch attraktiver wird.» Und sein Geschäft, kleiner Nebeneffekt, noch besser läuft.

Aber das seien alles nur Gedankenspielereien, dafür gebe es noch nicht einmal ein konkretes Konzept. Das mag man glauben, ebenso wie man Mertenat den Wohltäter abkaufen mag. Tatsächlich ist er weder Jagdhund noch Hase, sondern ein finanztechnischer Fuchs. Man könnte auch sagen: ein fiskalischer Spekulant.

Der Modellbahner

In seinem ganzen Leben habe er nie länger als zwei Wochen Ferien gemacht, sagt Mertenat. «Ausser einmal: Da nahm ich vier Wochen frei – um mich auf das Examen als Wirtschaftsprüfer vorzubereiten.» Ein Hobby hat der Workaholic immerhin. Mertenat führt in eine andere Wohnung im selben Haus: 80 Quadratmeter Modelleisenbahn, 4 verschiedene Strecken, 1400 Lokomotiven, 4700 Waggons. «Ein Bubentraum», sagt Mertenat, geht hinters Kontrollpult, drückt ein paar Knöpfe, dann grinst er hämisch. Vor ihm ein halb ausgebranntes Gebäude, aus dessen eingestürztem Dach künstlicher Rauch zu qualmen beginnt. Der Schriftzug auf der Fassade ist noch lesbar: Finanzamt.