Die Schweiz und die Wirtschaftskrise: Gerettet wird nur die erste Klasse

Nr. 33 –


«Wir sind noch einmal davongekommen.» Der Titel des Theaterstücks von Thornton Wilder, das im März 1944 am Zürcher Schauspielhaus aufgeführt wurde, gab, gegen Ende des Krieges, ziemlich treffend die damals vorherrschende Stimmung in der Schweiz wieder. Sind wir heute, nach dem «Finanz-Taifun» von 2008 (NZZ), einmal mehr davongekommen? Das ist alles andere als gewiss. Im Moment begnügt man sich mit der Feststellung, wir seien zumindest besser als unsere Nachbarn davongekommen.

Aus dem Lied «Noch einmal davongekommen» ist der Mythos vom Sonderfall entstanden. Im Ersten Weltkrieg, in der Inflation der Nachkriegszeit, in der Krise der 1930er Jahre, im Zweiten Weltkrieg und in den Wirtschaftskrisen der 1970er und 1990er Jahre – immer war man mehr oder weniger gut davongekommen. Es war, als wäre die Prophezeiung des Staatsrechtlers und freisinnigen Vordenkers Carl Hilty Wirklichkeit geworden: «Die schweizerische Eidgenossenschaft ist», hatte er 1897 geschrieben, «nach unserer Auffassung ein von Gott gewolltes und mit einem ganz besonderen Berufe ausgestattetes staatliches Gebilde, ein gesondertes Volk Gottes.»

Es war jedoch weder Gottes Hand – und noch viel weniger die «unsichtbare Hand» des Marktes –, die der Schweiz ein glimpfliches Davonkommen erlaubte. Man sollte eher von Kuhhändeln und opportunistischer Ausnützung der jeweiligen internationalen Situation sprechen. Mit umfangreichen Waffenlieferungen und Krediten wurden beispielsweise in Kriegszeiten potenzielle Aggressoren zufriedengestellt. In der Krise der 1970er Jahre schickte man die ausländischen ArbeiterInnen in ihre Heimatländer und hielt so die Arbeitslosigkeit in Grenzen. Und beim grossen Streit um die nachrichtenlosen Vermögen in den 1990ern brachten einige Milliarden Busszahlungen die KritikerInnen zum Schweigen. Ähnlich zog im Februar 2009 auch die UBS ihren Kopf aus der Schlinge, als sie sich mit 780 Millionen US-Dollar Busse ein Strafverfahren in den USA vom Leibe hielt.

Ohne viel Skrupel

Allen Widrigkeiten zum Trotz hat die Schweiz von Krisen meist profitiert. Am Ende der beiden Weltkriege konnte die Exportwirtschaft – unversehrt und mit im Krieg angehäuftem Kapital gut bestückt – neue Märkte erobern. In ähnlicher Weise war nach dem Ersten Weltkrieg auch ein grosser Teil des deutschen Versicherungsgeschäfts in Schweizer Hand gekommen. Ökonomische und politische Schwachstellen auszunutzen, gehört zu den bevorzugten Strategien des Schweizer Finanzplatzes. Erinnert sei etwa an den wirtschaftlichen Boykott von Südafrika zur Zeit des Apartheidregimes. Schweizer Unternehmen und Banken ersetzten ohne viel Skrupel die ausländischen Firmen, die sich vom Geschäft zurückgezogen hatten.

Die Anhäufung von Kapital beruht nicht zuletzt auf zweifelhaften Dienstleistungen. Schon in der Alten Eidgenossenschaft brachte das Söldnerwesen beträchtliche Kapitalien ins Land. «Die Schweiz hat auf dem Unglück Europas eine Bank errichtet», schrieb vor 200 Jahren der französische Schriftsteller und Politiker François-René de Chateaubriand. Am Ende des 19. Jahrhunderts kam das Geschäft mit ausländischen SteuerhinterzieherInnen in Gang. So kamen die Banken zu Kapitalien, deren Umfang, gemessen an der Bevölkerungszahl und am Volkseinkommen, alle anderen Länder übertraf. Schon vor dem Ersten Weltkrieg betrug der verwaltete Kapitalstock ein Mehrfaches des Volkseinkommens. 2008 war dieses Kapital neunmal grösser als das Sozialprodukt der Schweiz.

In der aktuellen, noch lange nicht durchgestandenen Krise zählen Politikerinnen, Wirtschaftsführer und Banken erneut auf ein für die Schweiz günstiges Schlupfloch. So soll offenbar das Doppelbesteuerungsabkommen mit Deutschland noch einen Zipfel vom Bankgeheimnis retten. Zu vermuten ist zudem, dass die Bankiers längst neue, der Steuerhinterziehung förderliche Finanzkonstrukte entwickelt haben, während die noch vor kurzem von der Politik lauthals geforderte rigorose Kontrolle des Finanzplatzes im Sande verlaufen ist. Dafür erwartet man heute, angesichts des teuren Frankens, dass die Schweizerische Nationalbank uns aus dem Schlamassel führt.

Verluste und politische Flurschäden

Bei all dem sollte nicht vergessen werden, dass es beim «Davonkommen» wie beim Untergang der «Titanic» zugeht. Gerettet werden in erster Linie die Passagiere der ersten Klasse. So auch bei den Krisenbewältigungen in der Schweiz. Die Kosten und materiellen Opfer der Kriege trug die breite Bevölkerung. In den Inflationsschüben verloren grosse Teile der Mittelklasse ihre Ersparnisse, während die ArbeiterInnenschaft jahrelang unter tiefen Löhnen und Arbeitslosigkeit litt. Auch die Verluste der zwei vergangenen Jahrzehnte sind auf die breite Bevölkerung abgewälzt worden. KleinaktionärInnen verloren ihr Erspartes, die Pensionskassen werden von der Börse geplündert, und die «Flexibilisierung» der Arbeit zehrt am Lebensalltag der Lohnabhängigen.

Ob nun heute das «von Gott gewollte [...] staatliche Gebilde» erneut relativ unbeschadet davonkommt, bleibt vorläufig offen. Ein ernsthafter Schaden ist jedoch schon heute festzustellen. Wie alle andern Staaten auch hat die Schweiz ihre Souveränität und die Politik ihre Handlungsfreiheit verloren. Unsere Demokratie, schon eh von der populistischen Rechten brutal in die Zange genommen, ist korrumpiert. So stellt sich die Frage, wer noch einmal davonkommen wird: der Finanzplatz oder die Demokratie? Beide zusammen wohl kaum.

Hans-Ulrich Jost ist emeritierter Geschichtsprofessor in Lausanne.