Sicherheit im Zugsverkehr: Die Passagiere sind nicht aggressiver

Nr. 37 –

Gut sieben Jahre lang begleiteten abends ZugchefInnen die Zürcher S-Bahnen. Inzwischen wurden sie von Sicherheitsleuten ersetzt. Und bald soll die Bahnpolizei Schusswaffen erhalten. Der ehemalige Zugchef Urs Zbinden ist davon nicht begeistert.


«Es stimmt nicht, dass die Angriffe auf Bahnpersonal zugenommen haben.» So wandte sich Urs Zbinden (30) an die WOZ. Er reagierte auf den Kommentar von Etrit Hasler «Mit der Knarre in den Zug» (siehe WOZ Nr. 34/11) über den Entscheid des Bundesrates, die Bahnpolizei mit Schusswaffen auszurüsten. Er finde den Kommentar zwar gut, schrieb Zbinden. Aber in diesem Punkt sei er falsch.

Zbinden muss es wissen: Er war sieben Jahre lang Zugchef S-Bahn beim Zürcher Verkehrsverbund (ZVV). Er informierte die Fahrgäste über Anschlüsse, räumte Zeitungen zusammen, kontrollierte Tickets und Nachtzuschläge. Er wischte auch manchmal Erbrochenes auf und versuchte aggressive Reisende zu beruhigen. Seit 2004 waren die ZugchefInnen jeden Abend ab 21 Uhr in allen S-Bahnen unterwegs. «Das Wichtigste an unserer Arbeit war die Präsenz», sagt Zbinden. Wie die meisten seiner KollegInnen war er überzeugt, dass sich das System der ZugchefInnen bewährt hatte.

Doch die Leitung des ZVV sah es anders. Vor ziemlich genau einem Jahr stellte sie ihr neues Sicherheitskonzept vor. Die rund 250 Zugchefs erfuhren plötzlich, dass sie nicht mehr erwünscht seien. Sie wehrten sich, aber scheiterten (vgl. «Wir hätten es wie die Polizisten machen sollen» im Anschluss an diesen Text). Inzwischen gibt es keine durchgehende Begleitung der Abend-S-Bahnen mehr. Stattdessen führen BahnpolizistInnen, KontrolleurInnen und Securitas-Angestellte in Zweier- bis Achterteams «Schwerpunktkontrollen» in Zügen durch, in denen viele SchwarzfahrerInnen vermutet werden. Die Teams sind mit Schlagstock und Pfefferspray bewaffnet, die BahnpolizistInnen dürfen PassagierInnen auch durchsuchen oder mit auf den Posten nehmen.

Viele ZugchefInnen bildeten sich zu ZugbegleiterInnen im Fernverkehr weiter – ihre neuen Arbeitszeiten lassen sich allerdings viel schlechter mit einer Familie vereinbaren. Urs Zbinden arbeitete ein halbes Jahr als Lehrer, jetzt plant er ein Studium. Trotzdem verfolgt er die Verkehrspolitik weiter, auch auf seinem Blog (zusforever.blogsport.de).

WOZ: Sie haben mehr als sieben Jahre als Zugchef gearbeitet. Das soll ja ein sehr gefährlicher Job sein ...

Urs Zbinden: Ich bin immer wieder mal verbal attackiert worden. Aber ich habe nie Tätlichkeiten erlebt. Meiner Ansicht nach hat das vor allem zwei Gründe: Erstens war ich freundlich zu den Leuten, und zweitens wollte ich nicht um jeden Preis den Tarif durchsetzen. Denn Konflikte entstehen zu 95 Prozent bei der Frage um das Ticket. Wenn jetzt der Tarif verschärft wird, dann wird es mehr Konflikte geben.

Haben Sie mit Schwarzfahrerinnen oder Passagieren ohne Nachtzuschlag Kompromisse ausgehandelt?

Ja, oft. Irgendwann kam auch die Weisung, wir könnten selber entscheiden, wann wir hart bleiben und wann nicht. Und manchmal haben wir Billette im Zug verkauft, obwohl wir das offiziell nicht durften.

Laut SBB-Mediensprecher Reto Kormann haben die Angriffe auf das Zugpersonal zwar nicht zugenommen, aber sie sind aggressiver geworden. Haben Sie das nicht so erlebt?

Nein, wirklich nicht. Die Leute fühlen sich laut ZVV-Umfragen sicherer als vor einigen Jahren. Und die Angriffe haben sogar abgenommen. Sowieso: Von Montag bis Freitag ist es in den meisten S-Bahnen abends extrem ruhig. Manche Leute fühlen sich unsicher, weil der Zug fast leer ist. In solchen Fällen war unser Einsatz sicher sinnvoll ...

Und am Wochenende?

Dann geht es lauter zu, auch frecher und manchmal aggressiv. Viele Passagiere versuchen, sich der Kontrolle zu entziehen, erfinden eine Ausrede: Der Akku vom Natel sei leer, und der Nachtzuschlag wäre drauf gewesen ... Es gibt mehr Reibungsfläche, weil das Billettsystem repressiver wird. Nicht weil die Gesellschaft so viel schlimmer geworden ist.

Was raten Sie den Transportunternehmen?

Was SBB und ZVV jetzt machen, halte ich für völlig kontraproduktiv: Aufrüsten mit Securitas und Bahnpolizei, kein Billettverkauf mehr in Fernverkehrszügen, und in Zukunft soll es auch noch verschiedene GAs geben. Wenn man Konflikte vermeiden wollte, müsste man das Umgekehrte tun: den Nachtzuschlag abschaffen, den Billettverkauf im Zug im Fernverkehr beibehalten und auch im Regionalverkehr wieder einführen.

Das würde aber mehr kosten.

Ja, natürlich. Die Personalkosten wären höher. Ich glaube, man muss ohnehin die ganze Entwicklung vor dem Hintergrund der Liberalisierung des Bahnverkehrs sehen: Die SBB muss immer mehr Kosten selber tragen, also irgendwo Geld reinholen, und das versucht sie, indem sie Billettpreise erhöht und beim Personal spart. Oder auf mehr Effizienz setzt. Als ich Zugchef wurde, hatten wir noch das alte Zugpersonalgerät. Damit konnte niemand kontrollieren, was du genau gemacht hast. Mit dem neuen Gerät wird ausgewertet, wer wie viele Formulare ausgefüllt hat, und dann gibt es eine Statistik ...

Was für Formulare sind das?

Zum Beispiel wenn jemand schwarzfährt oder das Abo vergessen hat. In der Statistik sieht man dann, welcher Zugchef wie viele Formulare ausgefüllt hat; und wer unter dem Durchschnitt ist, muss zum Chef.

Dann warf man uns auch noch vor, wir machten die Kontrollen im Nachtnetz nicht richtig, es würden zwei Millionen in der Kasse fehlen. Im Nachhinein stellte sich aber heraus, dass sie fehlten, weil es so viele verschiedene regionale Nachtzuschläge gibt. Die Leute hatten den Überblick verloren. Sie hatten zwar einen Zuschlag, aber den falschen.

Was taten Sie in einem solchen Fall?

Die Weisung war, dass wir beide Augen zudrücken dürfen. Auf keinen Fall Bussen verteilen.

Sind die Kontrolleure in Zukunft auch hier knallhart?

Ich glaube, sie sind es jetzt schon. Und die Grosskontrollen sollen die Effizienz der Billettkontrollen erhöhen.

Obwohl es nur noch Stichproben sind?

Ja. Logisch ist das nicht.

Jetzt will der Bundesrat die Bahnpolizei mit Schusswaffen ausrüsten.

Das ist ein Witz, weil jeder weiss, dass sie sowieso nicht eingesetzt werden. In einem vollen Zug kann man das nicht machen. Aber für mich passt es gut zur Verschärfung des Billettsystems: Man muss halt immer mehr Gewicht in die Waagschale werfen, um diese Neuerungen auch durchzusetzen.

Die Gewerkschaft des Verkehrspersonals, der SEV, begrüsst die Schusswaffen.

Ja. Wir waren uns während unserer Kampagne auch nicht immer einig mit dem SEV. Beim SEV sagen viele, es brauche mehr Bahnpolizei, um das Zugpersonal zu schützen. Wir Zugchefs fanden dagegen, es gebe keinen Grund zum Aufrüsten. Die Übergriffe auf das Personal sind auch gesamtschweizerisch zurückgegangen. Ob das dank oder trotz der vermehrten Bahnpolizei-Einsätze so ist, darüber gibt es verschiedene Ansichten.

Die SBB und andere Transportunternehmen scheinen die Reisenden immer weniger als Kunden und immer mehr als potenzielle Gefahr zu betrachten.

Das stimmt. In meiner Ausbildung zum Zugchef hiess es: Wir gehen davon aus, dass jeder Reisende ein Billett hat. Das ist der Grundsatz. Wir sollten die Leute nicht schon von Anfang an als potenzielle Schwarzfahrer anschauen. Inzwischen scheinen es immer mehr Leute umgekehrt zu halten, auch bei der Sicherheit: Man geht davon aus, dass die Leute gefährlich sind.


Die Abschaffung der Zugchefinnen : «Wir hätten es wie die Polizisten machen sollen»

Am 31. August 2010 erfuhren die ZugchefInnen der Zürcher S-Bahnen, dass der Zürcher Verkehrsverbund (ZVV) ihren Beruf abschaffen wollte. Statt einer durchgehenden Begleitung der S-Bahn-Züge ab 21 Uhr sollte es künftig Stichkontrollen geben; statt unbewaffneter Zugchefs mit Pfefferspray und Schlagstöcken ausgerüstete Sicherheitsleute. «Am Anfang herrschte Konfusion – wir wurden erst informiert, als es schon in den Zeitungen stand», sagt Zbinden. Besonders empörend fanden die Zugchefs, dass niemand, der für den Entscheid verantwortlich war, mit ihnen reden wollte. «Wir beschlossen: Wenn die nicht zu uns kommen, gehen wir eben zu ihnen.» Am 15. September 2010 organisierten sie eine Demo und überbrachten ZVV-Direktor Franz Kagerbauer eine Protestnote. Wenig später starteten sie eine Petition, die dem ZVV am 4. Oktober mit 3100 Unterschriften übergeben wurde.

«Wir hätten es machen sollen wie die Polizisten mit ihrem Bussenstreik», meint Urs Zbinden rückblickend. «In den Zügen präsent sein, aber keine Billette mehr kontrollieren. Das hätte eine schöne Schlagzeile im ‹Blick am Abend› gegeben. Damit hätten wir Druck ausüben können.» Die meisten seiner KollegInnen wollten aber zuerst die legalen Mittel ausschöpfen – «und irgendwann war die Luft draussen. Je länger es ging, desto mehr schaute jeder für sich. Das ist auch verständlich, schliesslich mussten sich die Leute nach neuen Jobs umsehen.»

Dank eines Minderheitsantrags der SP-Kantonsräte Sabine Ziegler und Marcel Burlet kam das Thema im Februar 2011 noch in den Zürcher Kantonsrat. Sie forderten, dass die ZugchefInnen in das neue Sicherheitskonzept integriert würden. Der Antrag wurde jedoch mit 99 zu 59 Stimmen abgelehnt. «Was nützen Zugbegleiter, die sich nicht mehr in die Waggons trauen?», fragte etwa CVP-Kantonsrat Willy Germann rhetorisch. Urs Zbinden verfolgte die Debatte von der Tribüne aus. «Es war frustrierend, den Kantonsräten zuzuhören und zu merken, dass viele keine Ahnung haben», sagt er.