Lohndumping: Ich wars nicht, der andere wars

Nr. 42 –

Zwei krasse Fälle von Lohndumping in Bern und St. Gallen lassen ahnen, wie es auf vielen Baustellen abgeht: Aufträge an Scheinfirmen, der Einsatz von Temporärkräften und die mangelhafte Kontrolle der Behörden führen zu einem System organisierter Verantwortungslosigkeit.


Zwei Stunden lang blockierte die Gewerkschaft Unia am 7. Oktober die Zufahrt zur Grossbaustelle der neuen Berner Kehrichtverbrennungsanlage. Grund: krasses Lohndumping. Vierzig Schweisser aus Bosnien, alles qualifizierte Fachleute, schuften für gut fünfzehn Franken Stundenlohn sechzig Stunden die Woche. Angestellt waren sie von einer bosnisch-slowenischen Firma. Als Unia-Mitarbeiterin Carmen Rocha die Leute nach Feierabend aufsuchen wollte, musste sie nach Ostermundigen in ein Abbruchhaus fahren. Dort waren die Arbeiter, wie Fotos in der Gewerkschaftszeitung «Work» zeigen, in miesen Dreizimmerwohnungen untergebracht: fünf Personen in zwei Zimmern mit Matratzenlager, umgeben von löchrigem Parkett und mit Klebeband geflickten Stühlen.

Für die miserablen Löhne will niemand die Verantwortung übernehmen, weder die Bauherrin, das bernische Energiewerk, noch die beteiligten Unternehmer. EWB-Chef Daniel Schafer meinte gegenüber den Medien, die Verantwortung für die Löhne obliege dem Unternehmen, dem man den Auftrag erteilt habe.

Genau gleich argumentiert der St. Galler Bauchef Willi Haag. Der FDP-Regierungsrat ist Bauherr eines neuen Verwaltungszentrums des Sicherheits- und Justizdepartements am Oberen Graben in St. Gallen. Dort flog Mitte Oktober ein ähnlicher Lohndumpingfall auf: Mehrere Wochen lang hatten polnische Gipser («Trockenbauer») Leichtbauwände errichtet. Für diese Arbeit erhielten sie laut Vertrag rund siebzehn Franken Stundenlohn. Jede anständig bezahlte Reinigungsfrau in einem Privathaushalt verdient mehr. Doch die Gipser, die kaum Deutsch sprechen, sind ihren Chefs ausgeliefert. Wie mies die Löhne sind, macht ein Vergleich mit den im Gesamtarbeitsvertrag (GAV) festgelegten Mindestlöhnen deutlich: Ein Gipser mit Berufserfahrung müsste mindestens 4500 Franken pro Monat erhalten.

Auch Schweizer Firmen

«Solche Fälle sind nur die Spitze des Eisbergs», weiss der Ostschweizer Unia-Leiter Thomas Wepf. In den letzten Monaten machte die Gewerkschaft in der Grenzregion diverse Fälle von Tieflöhnen publik. Dabei handelt es sich keineswegs nur um solche von aus dem Ausland entsandten Arbeitnehmenden. «Löhne, die nicht mehr zum Leben reichen, schleichen sich immer mehr auch bei Schweizer Firmen ein», so Wepf. Die Firma Eugster /Frismag im thurgauischen Amriswil, wo Espressomaschinen montiert werden, speist Arbeiterinnen mit 16.70 Franken pro Stunde ab. In einem Einkaufszentrum traf die Gewerkschaft eine Verkäuferin der Schuhhandelskette Reno, die einen Stundenlohn von 15.50 Franken erhält. Das macht im Monat magere 2700 Franken.

Nicht besser steht es im Hightechbereich. Für die Montage der «Claris»-Filterpatronen, die für Kaffeemaschinen gebraucht werden, zahlt die expandierende Rheintaler Sanitärtechnikfirma Aquis ebenfalls Stundenlöhne von 15.50 Franken. Weil diese ohne Angabe von Gründen noch gekürzt wurden, kam es im vergangenen Juli zu Protesten. Von tiefen Löhnen in diesem Bereich sind meist Migrantinnen betroffen. Sie haben keine Wahl und nehmen den Job, den sie kriegen. Die Tatsache, dass meist auch ihre Ehemänner berufstätig sind, dient Personalchefs und Gewerblern oft als Rechtfertigung für Schandlöhne. Die tiefsten sind in der Landwirtschaft zu finden: Bei Champignons Kuhn in Herisau oder bei der Gemüsebaufirma Chicorée in Marbach SG fand die Unia Angestellte, die mit dreizehn Franken und weniger abgefertigt werden.

Das Geschäft der Vermittler

Auf dem Bau wird Lohndumping durch Unterakkordanz und Temporäragenturen befördert. Konkret geht das so: Bei der Berner Kehrichtverbrennungsanlage (KVA) ging der Auftrag für die Schweissarbeiten an eine deutsche Firma. Diese gab ihn an ein slowakisches Unternehmen weiter, das dann die bosnischen Büetzer rekrutierte. Für diese Arbeiter sind die tiefen Löhne immer noch attraktiv genug, um den Job anzunehmen und dabei prekäre Arbeitsbedingungen in Kauf zu nehmen. Die Differenz zum GAV-Lohn kassieren dann die Subunternehmen und Vermittlungsagenturen. Vor allem Letztere machen den Schnitt, wie sich am starken Wachstum dieser Branche ablesen lässt. In St. Gallen war es eine einheimische Gipserfirma, die sich den Auftrag vom Kanton angelte. Auch sie gab den Auftrag weiter. «Ohne Akkordgruppen kommt heute niemand mehr aus», verteidigt sich der betreffende Firmeninhaber René Zeller und verweist auf den enormen Termin- und Kostendruck, unter dem man leide. Über eine weitere Firma gelangte der Auftrag an einen deutschen Handwerker, dessen Firma nun formell als Arbeitgeber für die Polen zeichnet.

«Firma» muss dabei in Anführungszeichen gesetzt werden. Denn oft handelt es sich um blosse Scheinfirmen, die schnell gegründet werden und nur aus Einzelpersonen bestehen, die bloss über ein Handy erreichbar sind. Auch im vorliegenden Fall ist am angeblichen «Firmen»-Sitz im thurgauischen Arbon keine Gipserwerkstatt zu finden, sondern ein Wohnhaus mit Briefkästen, an denen man den Namen des angeblichen Inhabers vergeblich sucht. Dafür sind von Hand aufgeklebte Schilder mit lauter polnischen Namen zu sehen. Das Rätsel löst sich in der Nachbarliegenschaft auf: Dort ist das Temporärunternehmen Eupro AG domiziliert, das auf die Vermittlung von osteuropäischen Arbeitskräften spezialisiert ist. Ein Augenschein zeigt, dass die Agentur im erwähnten Wohnhaus mit den Briefkästen mehrere Wohnungen gemietet hat, in denen sie die rekrutierten Polen unterbringt.

Das Geschäft mit dem Personalverleih aus Osteuropa läuft anscheinend gut. Eupro hat in den letzten Jahren zahlreiche Filialen in der ganzen Deutschschweiz eröffnet, es sind schon über ein Dutzend. Die Firma wurde bereits im Jahr 2004 von der Gewerkschaft Unia beschuldigt, für Lohn- und Sozialdumping mitverantwortlich zu sein, Firmensprecher stritten dies jedoch immer ab. Tatsache ist: Rund vierzig Prozent der Temporärfirmen halten laut einer Untersuchung die in den GAV festgehaltenen Mindestnormen nicht ein, wenn sie Personal in GAV-Branchen vermitteln. Daran wird sich wenig ändern, solange es keinen Gesamtarbeitsvertrag für die Temporärbranche gibt. Ein solcher wurde zwar vor zwei Jahren ausgehandelt, doch bleibt er wegen des Widerstands von Konzernen wie Novartis blockiert. Diese setzen in grossem Stil auf Teilzeitkräfte, die günstiger sind als Festangestellte.

Passive Behörden

Das Schwarzpeterspiel auf den Baustellen, bei dem jeder die Verantwortung auf den andern abschiebt, wird durch Unterakkordanz und fehlende Kontrollen ermöglicht. Passive Behörden, die Lohndumping eigentlich bekämpfen müssten, geraten zunehmend in ein schiefes Licht. «Dieser Zustand ist unhaltbar», sagt Wepf von der Unia. Sowohl in Bern als auch in St. Gallen werden die Behörden wohl über die Bücher gehen und die Kontrollen verstärken müssen – gegen den Widerstand von Wirtschaftsvertretern, die möglichst keine neuen Vorschriften wollen. In Bern fand diese Woche ein Gespräch zwischen der Unia und der KVA-Bauherrin statt. Vorher hatte sich die Betriebsleitung geweigert, die Gewerkschaft zu empfangen. Laut Carmen Rocha steht der Einsatz von weiteren 120 Arbeitern aus Polen bevor. Eine Lösung, um weitere Missbräuche zu verhindern, sei daher dringend.

Der Lohndruck bietet nicht nur lokalen, sondern auch innenpolitischen Zündstoff: «Die Akzeptanz der Personenfreizügigkeit schwindet, wenn zu wenig gegen die negativen Auswirkungen getan wird», warnt Gewerkschaftsbundpräsident Paul Rechsteiner. Nach langem Zögern will nun der Bundesrat die flankierenden Massnahmen zum Schutz der Löhne ausbauen. Er stellt einen verstärkten Kampf gegen Scheinselbstständigkeit und schärfere Strafen gegen Mindestlohnverstösse in Aussicht.

Die Gewerkschaften aber fordern mehr, zum Beispiel eine Solidarhaftung der Unternehmer. «Die Baumeister müssen in die Verantwortung einbezogen werden, nur so gibt es Ordnung», sagt Unia-Bauchef Hansueli Scheidegger. Dagegen wehrt sich allerdings der Baumeisterverband. Präsident Werner Messmer (FDP) ist zwar auch gegen Lohndumping, will aber lediglich Hand dazu bieten, dass in Verträgen schriftlich statt bloss mündlich zugesichert wird, die Mindestnormen der Branche einzuhalten. Dies aber verhindert Lohndumping nicht, wie gerade der St. Galler Fall aufzeigt: Die Gipserfirma, die vom Kanton den Auftrag erhalten hat, verweist nämlich darauf, dass sie bei der Weitergabe des Auftrags an den Unterakkordanten die Einhaltung der Arbeitsbedingungen verlangt habe. Doch wen schert das schon in einem System organisierter Verantwortungslosigkeit?