Ortungstechniken: Ein alter Kompass und die neusten Apps

Nr. 42 –

Was geschieht mit uns, wenn wir unsere physische Präsenz zunehmend als Punkt im virtuellen Raum wahrnehmen? Wenn wir nur noch im iPhone ganz da sind – wo sind wir dann?


«There is no there there»* – Getrude Steins berühmtes Bonmot gilt immer mehr für die ganze Erde. Die Schriftstellerin meinte mit dem «there» Oakland in Kalifornien. Sie beschrieb die Stadt als wichtigen Ort, der im unruhigen und umherschweifenden Leben ihrer Kindheit wie ein Anker wirkte. Als sie Jahre später dorthin zurückkehrte, war diese «Orthaftigkeit» erodiert, und damit auch das Lebenszentrum von damals. Sie konnte in diesem «there» nichts mehr finden, was sie an ihre Kindheit erinnerte. Sie hatte mit ihrer geografischen auch ihre psychografische Orientierung verloren.

Diese Orientierungslosigkeit spiegelt eine Erde, die sich anschickt, aus ihrer Physiognomie das Menschliche auszuradieren: die Orte. Die neuen digitalen Vermessungs- und Navigationstechniken hüllen den Globus in ein zunehmend dichteres Informationsnetz und ermöglichen eine Telehumanität in der Form von Fernbeziehungen zu Menschen, Orten und Dingen. Im gleichen Zuge werden die aktuellen und konkreten Orte, an denen wir uns befinden, vorübergehend und flüchtig, zu blossen Transitpunkten eines immer unfesteren Lebens.

Big Google is watching you

Wir alle haben wahrscheinlich schon die Erfahrung Gertrude Steins gemacht. Wir sind vielleicht durch das Stadtviertel gestreift, in dem wir aufwuchsen, und wir haben festgestellt: Mein Geburtshaus ist einem Büroneubau gewichen, jene verkrautete Wildnis am Stadtbach, wo wir als Knaben Nielen rauchten, bis wir grün und gelb wurden, ist überdeckt, das Pärkchen, wo ich den ersten Annäherungsversuch an meinen Schulschwarm unternahm, eine Industriebrache ... Die meisten von uns berührt das Verschwinden solcher Orte, als wäre ihnen ein Teil ihrer selbst abhandengekommen.

Wir brauchen sichtbare und berührbare, konkrete Orte, um unser Gedächtnis «dingfest» machen zu können. Die Substanz unserer Persönlichkeit besteht wesentlich aus besonderen, je eigenen Orten. Orte sind wie Personen nicht austauschbar – oder umgekehrt: Wo wir eine Welt der austauschbaren Orte schaffen, schaffen wir zugleich eine Welt der austauschbaren Personen.

Auf der neuen Erde hinterlassen wir unsere Spuren unauslöschlich. Die Suchmaschinen finden uns überall. Eric Schmidt, Exchef von Google, äusserte sich dazu letztes Jahr in einem Interview: «Tatsächlich glaube ich, dass die Leute Google nicht wollen, um ihre Fragen beantwortet zu kriegen, sondern sie wollen von Google wissen, was sie als Nächstes tun sollen.» Das heisst, sie sehen in der Suchmaschine nicht nur ein Instrument der Netz-, sondern generell der Lebensnavigation. Aufgrund der Information, die Google über eine Person gespeichert hat, «wissen wir grob, wer Sie sind, worum Sie sich kümmern, welche Freunde Sie haben», sagt Schmidt.

Wenn ich also durch die Strassen gehe, «erinnert» mich Google zum Beispiel daran, dass ich Brot brauche, und orientiert mich über die nächstgelegene Bäckerei. Oder wie GeoTour, ein Navigations-App für das iPhone, wirbt: «Stellen Sie sich vor, Sie besuchen eine neue Stadt. Ihr iPhone weiss, wo Sie sind, es führt Sie zu den Hotspots, und es unterhält Sie mit Multimedia, die für Ihre Umgebung direkt von Bedeutung sind.» Vielleicht instruiert mich mein iPhone auch, dass fünfzig Meter weiter um die Ecke ein Antiquitätengeschäft liegt, das den alten Kompass im Angebot hat, den ich schon so lange suche.

Früher fand man derlei durch glücklichen Zufall heraus: durch «Serendipität». Heute delegieren wir sie an die neuen Generationen tragbarer Gadgets. Sie haben Ortsbewusstsein, «location awareness», wie dies im Jargon heisst. Sie überraschen mich mit Informationen vor Ort, von denen ich gar nicht wusste, dass ich sie wissen wollte. Google weiss das. Eric Schmidt mit der branchenüblichen Chuzpe: «Serendipität kann jetzt berechnet werden. Wir können sie elektronisch produzieren.»

Zum Technikanhängsel mutiert

Hier hat man allen Grund zu stutzen. Kann man Serendipität wirklich herstellen und steuern, die Fähigkeit, Dinge zu finden, ohne sie zu suchen? Will man es überhaupt? Genau das ist ja der Punkt. Google erhebt erklärtermassen den Anspruch, die Antwort «für uns» zu kennen, bevor wir fragen. Schmidts Äusserung ist im Grunde nicht technisch, sondern anthropologisch aufschlussreich. Viele Designer von smarter Technik sehen es als ihre vornehmste Aufgabe, menschliche Kompetenzen vollständig an Geräte zu delegieren. Der kürzlich verstorbene Apple-Chef Steve Jobs ist ihrer aller Guru.

Das Auto der Zukunft etwa ist autonom, es fährt uns, nicht wir es. Zweifellos können die neuen Navigationsgeräte unserer Orientierung helfen. Aber wie immer – und wahrscheinlich stärker als bisher – zeigt sich auch bei dieser Technik eine Ambivalenz: Geräte verstärken nicht nur Fähigkeiten, sie schwächen gleichzeitig andere. Je mehr «location awareness» mein Navi hat, desto weniger brauche ich meinen eigenen Ortssinn. Je mehr wir uns immateriell mit andern Personen und Plätzen verbinden, desto schwächer wird unsere materielle Bindung an Personen und Plätze. Dieses umgekehrte Verhältnis wird sich mit fortschreitender Virtualisierung vertiefen. Der in sein Handydisplay versunkene Mensch: Er ist nicht da, wo er ist – das emblematische Paradox unserer Zeit.

Als der Softwaredesigner Brad Templeton an einer Konferenz 2009 gefragt wurde, ob eine Gesellschaft, in der man der Welt immer weniger Aufmerksamkeit schenken muss, nicht auch die kognitiven Fähigkeiten des Menschen verkümmern lasse, antwortete er lapidar: «Ich sehe hier keinen Defekt, sondern ein besonderes Merkmal.» Und auf den Einwand, dass es in der Welt doch viele Dinge gebe, die unsere Aufmerksamkeit verdienen, tönt es aus der Branche erbarmungslos optimistisch zurück: Ja, und wir haben die nötigen Apps dazu!

Das Problem ist nicht die smarte Technologie, die uns überall auf der schönen neuen Erde sagt, wo wir sind und was wir tun wollen und sollen. Wenn wir ihre Verheissungen wirklich ernst nehmen, müssen wir uns fragen, was wir eigentlich wollen. Smarte Technik ist nur dann nützlich, wenn wir unserer eigenen Smartheit trauen. Man muss die Logik der ganzen Entwicklung zu Ende denken: Letztlich erleichtert sie uns nicht das Suchen und Finden, sondern schafft es langsam und stetig ab. Nur das Beste für die Nutzerin zu wollen, verrät implizit, wie wenig man ihr eigentlich zutraut. Der Gestus ist paternalistisch. Das Ideal dieses Schlags von TechnikdesignerInnen ist der zum Technikanhängsel mutierte Mensch. Die ganze elektronische Fahrhabe navigiert ihn durch die Welt, er sieht alles, ohne selbst zu schauen. Er braucht gar nicht «da» zu sein. Er hat ja in Gestalt des iPhones seine Daseinsprothese.

Es ist ein Grundbedürfnis des Menschen, das herausgefordert wird. Die französische Philosophin Simone Weil hat es als Verwurzeltsein bezeichnet. Wurzeln können nicht aus der immateriellen Hülle um uns heruntergeladen werden; sie lassen sich weder über fiberoptische Kanäle übermitteln noch in Köfferchen herumtragen. Sie finden sich nur in einem konkreten, besonderen «Da». «There is no there there» bedeutet deshalb heute: Die «location awareness» der neuen Technik treibt unserem Ortssinn die Wurzeln, also die Seele, aus.

Dabei sei angefügt, dass das «Da» auch eine eminent soziale Bedeutung hat. Simone Weil: «Ein menschliches Wesen ist durch seine tatsächliche, tätige und natürliche Teilnahme an einer Gemeinschaft verwurzelt.» Muss betont werden, dass gerade diese Teilnahme durch die neuen sozialen Netzwerke eher geschwächt als gestärkt wird?

Verirren wir uns!

Die Erde – scheint es – ist immer mehr erforscht, erkundet, kartiert: Terra cognita. Gibt es auf ihr nichts mehr zu entdecken? Die Frage ist falsch gestellt. Wer sucht, der findet, weiss schon die Bibel. Aber nur wer sich irrt und verirrt, sucht überhaupt. Reisende früherer Zeiten gewannen dem Verirren durchaus seine positive, erkenntnisfördernde Bedeutung ab. So schreibt etwa der grosse Geher durch Europa Johann Gottfried Seume zu Beginn des 19. Jahrhunderts: «Ich verirrte mich abermals und kam, anstatt nach Syrakus, nach Lentini. Es war mir indessen nicht unlieb, die alte Stadt zu sehen.» Könnte ironischerweise ein Zeitalter, das dem Verirren den Garaus machen will, ausgerechnet dieses Verirren – das Nirgendwo- oder Anderswoankommen – als menschliche Kunst und Tugend wieder aufwerten?

Statt sich vom iPhone sagen zu lassen, wo man sich und was sich alles in der Umgebung befindet, könnte man sich ja auch eingestehen, in unbekanntes Gelände geraten zu sein, das man nun auf eigene Faust erkunden möchte. Plötzlich entdeckt man selbst Orte. Vielleicht ermöglichen die medientechnische Erschliessung der Welt und das Zeitalter des industrialisierten Reisens einen neuen Typus des Reisenden – Homo erratus –, der in den toten Winkeln der Navigationssysteme, in verlassenen «Abräumen», auf dem Terrain vague zwischen den Netzen, neue Terra incognita entdeckt: den Exotismus der Nähe, des Unscheinbaren, des Ortes ohne Koordinaten.

Dazu müsste man allerdings neugierig werden, seine eigenen Sinne gebrauchen: hinsehen, hinhören, berühren, riechen, schmecken. «Sinnlichkeit» war bis ins 18. Jahrhundert ein anderes Wort für Klugheit, Verständigkeit. Das wäre nicht das Letzte. In der Tat hätte man mit ihr einen Fuss schon in ein anderes Zeitalter gesetzt, in jenes nach dem Web.

* Zur deutschen Übersetzung siehe den Text aus der «taz» auf www.tinyurl.com/tazthere