Medientagebuch: Prophetische Zeitung

Nr. 46 –

Bernard Schmid über den Anschlag auf «Charlie Hebdo»

In der Nacht vom 1. zum 2. November brannte eine Zeitungsredaktion in Paris zu zwei Dritteln aus. Ursache war der Wurf eines Molotowcocktails. Gegen ein Uhr früh brach das Feuer in den Räumen der linksliberalen satirischen Wochenzeitung «Charlie Hebdo» aus. Am folgenden Morgen lag eine aufsehenerregende Ausgabe dieser Zeitschrift unter dem Titel «Charia Hebdo» (Scharia-Wochenzeitung) an den Kiosken. Als ihr «Chefredaktor (auf Zeit)» wurde, auf ironische Weise, der Prophet Mohammed präsentiert.

Dass eine direkte Verbindung zwischen beiden Ereignissen besteht, erscheint zwar plausibel, ist bisher jedoch nicht bewiesen. Redaktoren von «Charlie Hebdo» selbst mutmassten gegenüber der Zeitung «Le Figaro», es könnte sich auch um eine rechtsextreme Provokation handeln.

Gleichzeitig mit den Redaktionsräumen wurde die Website der Zeitschrift attackiert. Hier sind die Urheber inzwischen bekannt, es handelt sich um eine Gruppe von in der Türkei lebenden jungen Hackern, die unter dem Namen «Akincilar» auftritt. Einer von ihnen, ein zwanzigjähriger Mann, bekannte sich mittlerweile gegenüber einer französischen Sonntagszeitung zum elektronischen Angriff. Er erklärte, seine Gruppe habe gegen die Beleidigung des Propheten Mohammed vorgehen wollen. Vom Brandanschlag distanzierten sich dieser Hacker und seine Kollegen von «Akincilar» allerdings.

«Um die Wahlergebnisse in Tunesien und die Erklärung der Scharia zur Quelle der Gesetzgebung in Libyen zu begrüssen», so schrieb die Redaktion, habe «Charlie Hebdo» die Ausgabe mit dem Titel «Charia Hebdo» produziert. Aus Sicht der ZeitungsmacherInnen ging es darum, jene Leute zu warnen, die von «moderaten Islamisten» etwa in Tunesien sprächen. Thematisiert wurden dann erwartungsgemäss die Verhüllung von Frauen, Züchtigungsstrafen und ähnliche Dinge.

Der suggerierte Bezug auf den Wahlausgang in Tunesien ist allerdings ebenso konstruiert wie falsch. Die Wahlsiegerin in Tunis, die Partei En-Nahdha, ist jedenfalls nicht zur Einführung der Scharia gewählt worden – sie hat ihren Wählerinnen und Wählern im Gegenteil die Bewahrung der bestehenden Zivil- und Familiengesetze versprochen.

«Charia Hebdo» beruht also teilweise auf einem Vorurteil. Andererseits können dieser Redaktion wohl kaum rassistische Motive unterstellt werden. Der plakative Antiklerikalismus von «Charlie Hebdo» gehört zum langjährigen Markenzeichen des Blatts und provoziert normalerweise eher KatholikInnen. Dennoch erhielt «Charlie Hebdo» nach dem Feuer – echte oder auch heuchlerische – Unterstützung von Leuten mit rassistischen Motiven. Etwa von Marine Le Pen, der Chefin des rechtsextremen Front National, die von einem «Anschlag auf den französischen Laizismus» sprach.

Gegen Vereinnahmungsversuche wehrt sich «Charlie Hebdo» jedoch. In einer vierseitigen Beilage für die Tageszeitung «Libération», bei der die Redaktion von «Charlie Hebdo» seit Anfang November Gastrecht geniesst, wurden beispielsweise auch plötzliche Gefühlswallungen des französischen Innenministers Claude Guéant für die «bedrohte Pressefreiheit» spitz hinterfragt: Gerade Guéant war es doch gewesen, der 2010 JournalistInnen illegal abhören liess, um «lecke Stellen» in der Regierung aufzuspüren. Und gegen ihn läuft eine Strafanzeige wegen rassistischer Sprüche.

Bernard Schmid ist WOZ-Mitarbeiter in Paris.