Zehn Jahre Unerhört!: «Wir konfrontieren sie einfach mit Jazz»

Nr. 46 –

Das Zürcher Unerhört!-Festival geht neue Wege und präsentiert Jazzkonzerte an unerwarteten Orten. Der Zürcher Saxofonist Omri Ziegele, Mitbegründer des Unerhört!, gibt Auskunft.

Das Zürcher Unerhört!-Festival feiert sein Zehn-Jahr-Jubiläum. Von einer Handvoll Zürcher JazzmusikerInnen ins Leben gerufen, hat das Festival vor sechs Jahren auch begonnen, Konzerte an Zürcher Mittelschulen ins Programm einzubeziehen – mit überraschendem Erfolg. Jenseits aller Didaktik eröffnen solche Auftritte SchülerInnen die Möglichkeit, neue musikalische Erfahrungen zu machen.

WOZ: Bei Jazzkonzerten sieht man heute kaum noch junge Leute. Stirbt der Jazz aus?
Omri Ziegele: Wir haben Ähnliches beobachtet: Das Publikum bei unseren Konzerten wird immer älter, stirbt zum Teil weg. Jugendliche gehen in Techno- oder Hip-Hop-Clubs, nicht in Jazzclubs. Sie meiden die Orte und die Musik ihrer Eltern. Gleichwohl bemerke ich Keime eines Gegentrends: Schüler gehen wieder vermehrt zu Livekonzerten und sind sogar an Freejazz interessiert. Die Jugendlichen lernen wieder Instrumente und sind für analoge Musik aufgeschlossen. Diese beiden Beobachtungen gaben den Ausschlag, das Projekt «Konzerte an den Schulen» aus der Taufe zu heben.

Wie vermittelt ihr der Jugend den Jazz?
Wir gehen bewusst nicht pädagogisch vor. Nur wenn Fragen gestellt werden, erzählen wir etwas über die Musik. Wir wollen die Schüler auf dem «falschen Fuss» erwischen: Wir spielen einfach ein Konzert, konfrontieren sie unmittelbar mit unserer Musik – einer Musik, der sie sonst nicht begegnen würden.

Und wie reagieren die Schüler darauf?
Häufig sind sie total begeistert und fordern Zugaben. Es schlägt uns eine Aufgeschlossenheit entgegen, der man sonst bei Konzerten kaum begegnet, weil es oft das erste Mal ist, dass sie solche Musik hören. Sie sind unbefangen, kein blasiertes Publikum aus Jazzkennern.

Wie entstand die Idee zu den Schulkonzerten?
Früher bin ich gelegentlich mit meiner Gruppe Billiger Bauer an «falschen» Auftrittsorten gelandet, etwa in einem Popclub, und das Publikum – lauter junge Leute – ist ausgeflippt. Das war die Initialzündung. Solche Erfahrungen gaben uns den Mut, eine derartige Initiative überhaupt zu wagen.

Was waren denn die Bedenken?
Wir fürchteten, dass die Schulumgebung der Sache abträglich sein könnte, weil Schüler ja in der Schule oft eine Haltung einnehmen, die stark von Abwehr bestimmt ist. Deshalb hatten wir Angst, dass dort so etwas atmosphärisch nicht geht. Doch die Lehrer ziehen mit. Sie bereiten die Schüler auf das Konzert vor.

Es gibt noch engagierte Pädagogen, denen es wichtig ist, dass ihre Schüler vielfältige Erfahrungen machen und nicht nur das konsumieren, was ihnen die Massenmedien und die Kulturindustrie vorsetzen. Natürlich achten wir darauf, dass die Musik nicht vollkommen abstrakt ist, sondern so klingt, dass die Jugendlichen auch einen Zugang finden können. Rhythmus und Melodie sind wichtig.

Ist die ganze Schule bei solchen Konzerten zugegen?
Das variiert. Am besten funktioniert es mit den oberen Klassen, also Schülern, die vor der Matura stehen. Bei einem Konzert war einmal die ganze Schule präsent, 500 Schüler, von Zwölf- bis Achtzehnjährigen. Das war zu viel. Die Zwölfjährigen waren überfordert.

Und tauchen einzelne Schüler später dann an euren regulären Konzerten auf?
Die Nachhaltigkeit ist schwer zu überprüfen. Aber wir bieten den Schülern an, zu reduzierten Eintrittspreisen zum Unerhört!-Festival zu kommen. Das Projekt «Konzerte an den Schulen» ist auch als Werbung für das Unerhört! gedacht. Unser Auftritt motiviert manchmal ganze Klassen, zum Festival zu kommen.

Das Unerhört!-Festival verlässt das traditionelle Milieu des Jazz, geht nicht nur an Schulen, sondern auch in Museen, Theater und ins Altersheim …
Es war uns von Beginn an wichtig, neue Formen der Musikvermittlung zu finden: Jazz an neuen Orten zu präsentieren, ihn aus seiner üblichen Umgebung rauszuholen. Wir wollten nicht nur vor der kleinen Gruppe von Kennern spielen. Die Frage war: Wie erreichen wir Leute, die nicht schon harte Jazzfans sind?

Und? Gibt es mittlerweile auch anderswo Interesse als in den Zürcher Mittelschulen?
Die Sache expandiert in andere Kantone. Ausser in Zürich sind wir im Kanton Aargau und neuerdings im Kanton Luzern tätig. Der Erfolg von «Konzerte an den Schulen» hat uns selbst überrascht, und wir hoffen, dass sich die Initiative nach dem Schneeballprinzip weiter ausbreitet. Dem Jazz kann das nur guttun.

Unerhört! 2011: Das Programm : Hochkarätiges aus Zürich – und der Welt

«Ich wollte nicht nur im Ausland, sondern auch in der Schweiz gehört werden», beschreibt Irène Schweizer in der Jubiläumsschrift «10 Jahre Unerhört!» das Motiv, warum sie im November 2002 mit einer Handvoll weiterer Zürcher JazzmusikerInnen das Festival aus der Taufe hob.

Anfangs ein kleiner eintägiger Event mit zwei Konzerten, wuchs das Unerhört! in den Folgejahren zu einem formidablen Jazzfestival heran, das letztes Jahr an verschiedenen Auftrittsorten um die 2000 BesucherInnen anzog. Das Unerhört! ist eine Erfolgsstory und inzwischen zur wichtigsten Plattform der Zürcher beziehungsweise Schweizer Jazzszene avanciert, mit vielfältigen Verbindungen nach aussen.

Von Beginn an achteten die OrganisatorInnen darauf, nicht nur im eigenen Saft zu schmoren. Man öffnete die Fenster zum internationalen Jazzgeschehen, lud komplette Ensembles aus dem Ausland ein, aber auch einzelne SolistInnen zu Kollaborationen. Daraus sind über die Jahre vielfältige Verbindungen entstanden, ja selbst ein paar feste Formationen sind aus dem Unerhört! hervorgegangen.

Auch dieses Jahr sind wieder MusikerInnen aus den USA, Deutschland, Frankreich, England und Südafrika dabei. So lässt Omri Ziegele für die zweite Auflage seiner Band Where’s Africa eigens die südafrikanische Sängerin Siya Makuzeni einfliegen. Diese Gruppe ist am Samstag, 26. November, in der Roten Fabrik zu hören in einem Konzert, das ausserdem das Piano-Schlagzeug-Duo von Vera Kappeler und Peter Conradin Zumthor sowie Pierre Favres neues Trommelquartett präsentiert.

Oliver Lake ist vielleicht der renommierteste Name im diesjährigen Programm. Der New Yorker Saxofonist, Mitglied des World Saxophone Quartet, tritt gleich zweimal auf. Am Mittwoch, 23. November, im Musikclub Mehrspur mit der Workshopband der JazzstudentInnen der Musikhochschule Zürich sowie am Freitag, 25. November, im Trio mit dem Schweizer Rhythmusteam Dieter Ulrich (Schlagzeug) und Christian Weber (Bass). Dieses Ensemble kann als eine der Errungenschaften des Festivals verbucht werden. Die drei Musiker kamen beim Unerhört! 2007 erstmals zusammen und haben daraufhin eine exzellente CD eingespielt, die internationales Aufsehen erregte. So wirkt das Unerhört! weit über Zürich hinaus. Christoph Wagner