En Passant: Endlich Klassenkampf

Nr. 48 –

«Kennt ihr Hershey’s?», fragt Ellen Friedman ihre dreissig StudentInnen. Als Gastdozentin am Center for Labor Research der Sun-Yat-Sen-Universität in Guangzhou geniesst die US-Aktivistin viele Freiheiten. Sie muss nicht mal das Skript für ihren Kurs «Arbeit und Globalisierung» genehmigen lassen, eine Pflichtveranstaltung im Studiengang Soziologie. Trotzdem hält die Marxistin es für besser, zuerst einmal über Probleme in den USA zu sprechen – und lässt zu Beginn ein Lied aus der US-Bürgerrechtsbewegung der sechziger Jahre vorspielen.

Hausaufgabe der letzten Woche war, dass sich die StudentInnen vorstellen mussten, beim Computerhersteller Foxconn zu arbeiten und einen Brief nach Hause zu schreiben. Schwierig für die knapp Zwanzigjährigen. Denn um auf die Sun-Yat-Sen-Universität zu kommen, muss man nicht nur überdurchschnittliche Noten vorlegen. Man braucht auch begüterte Eltern. Sich selbst als ArbeiterInnen vorstellen, das hätten sie nicht gekonnt, sagen die Studierenden, das wäre für sie «zu hart» gewesen.

Und schon steht eine Ahnung von zwei Klassen im Raum. Dass Identitäten von den Eliten geschaffen werden – zum Beispiel mit dem Wohnberechtigungssystem, das ChinesInnen in Stadt- und Landmenschen trennt und dazu führt, dass WanderarbeiterInnen in riesigen Massenwohnheimen auf dem Fabrikgelände wohnen müssen –, das fiel den StudentInnen wahrscheinlich doch ein bisschen schwer zu begreifen. Obwohl alle Marxismus-Leninismus in der Schule hatten.

Und Hershey’s? Die US-Firma produziert Schokoladensauce. «Jedes Jahr stellen die US-Botschaften ausländischen Studenten J-1-Visa aus», sagt Friedman, «für Kulturaustausch und Praktika. Aber wie sich zeigte, arbeiteten im Hershey’s-Lager 200 Studenten mit J-1-Visum», darunter viele aus China – und das Vollzeit. «Den ganzen Tag Kisten schleppen! Die haben sich organisiert und einen richtigen Streik …»

«Das finde ich aber gut!», ruft Ralf, ein Deutscher, der am Labor-Center mit Übersetzungen hilft und den Friedman im «anarchistischen Lager» vermutet. «All diese privilegierten Studenten, die sich überhaupt leisten konnten, an so einem Programm teilzunehmen und in die USA zu fliegen. Dass die jetzt am eigenen Leib erfahren, was es heisst, Wanderarbeiter zu sein, ist das Beste, was denen überhaupt passieren konnte!», sagt er und strahlt über sein ganzes, sonst immer sehr ernstes Gesicht.

Wolf Kantelhardt ist China-Korrespondent der WOZ.