Zwanzig Jahre nach der Sowjetunion: Der Westen hat den Kalten Krieg gewonnen. Aber Russland hinkt ihm nicht hinterher. Sondern ist ihm voraus. Weil das Land zeigt, wohin der «diki kapitalism», der wilde Kapitalismus, letztlich führt.

Nr. 48 –

Die Auflösung der Sowjetunion und die Einführung der Marktwirtschaft führten in Russland zu Massenarmut und Chaos. Wladimir Putin bot sich ab 2000 als Garant für Sicherheit und Stabilität durch einen starken Staat an. Inzwischen ist der Staat an eine Offshore-Aristokratie ausgeliefert worden. Im Land selber dominieren ein neuer Nationalismus und Nostalgie.

Für viele im Westen ist das Ende der Sowjetunion auch zwanzig Jahre nach ihrem Zusammenbruch ein unbewältigtes Ereignis: Das «Imperium des Bösen» ist ohne den «grossen Knall» verschwunden, auf den der Westen so stark fixiert war. Es kam zu keinem Massenexodus aus der Ex-Sowjetunion, mit dem Westeuropa wegen einer befürchteten Hungersnot ernsthaft gerechnet hatte. Auch eine Weimarer Situation ist nicht entstanden, obwohl Massenarmut und Chaos nach einem «Retter» verlangt hätten. Weder der Kommunist Gennadi Sjuganow noch der rechtsextreme Wladimir Schirinowski sind an die Macht gekommen. Die in den neunziger Jahren weitverbreiteten Katastrophenszenarien haben sich nicht bewahrheitet. Der Westen feierte den Zusammenbruch des Kommunismus und der Sowjetunion als «revolutionäre Zeitenwende», als «Ende der Geschichte», aus der er als Sieger hervorgegangen sei. Zwanzig Jahre später haben sich diese Einschätzungen als naiv erwiesen.

Trotz einer Heerschar von SowjetologInnen wurde der Westen von den Ereignissen überrascht. «Ein so allumfassendes System kann nicht einfach sterben, sondern muss getötet werden», schrieb damals beispielsweise der US-amerikanische Historiker Theodore Draper; er traf damit die vorherrschende Stimmung recht gut. Man war vom Feind hypnotisiert, während Jahrzehnten waren die Rollen von Gut und Böse verteilt. Und plötzlich sollte man sich von den Denkschablonen des Kalten Kriegs lösen, umdenken und Neues beginnen. Dieser Prozess ist bis heute noch nicht abgeschlossen.

Umdenken setzt eine realistische Beurteilung der «Zeitenwende» voraus. So ruft der russische Politologe Dmitri Trenin wichtige Zusammenhänge in Erinnerung, die im Westen oft übersehen werden: «Wenn wir heute richtig einschätzen wollen, was der Kollaps der Sowjetunion bedeutet, dürfen wir nicht vergessen, dass es die russische Gesellschaft selbst war, die dem kommunistischen Regime ein Ende bereitet hat, ohne Hilfe oder Ratschläge von aussen. Und das kommunistische System hat ein schreckliches Erbe hinterlassen, vor allem in menschlicher Hinsicht.»

Erfolgsgeschichte und Tragödie

Der Sturz des kommunistischen Regimes, so erinnert der Direktor des Moskauer Carnegie-Zentrums, zog auch den Zerfall des sowjetischen Imperiums nach sich. Dieser «zweite» Zusammenbruch, im Westen als Sieg im Kalten Krieg gefeiert, wird bis heute von einem Grossteil der russischen Bevölkerung bedauert. Als Wladimir Putin 2005 das Ende der Sowjetunion als «grösste strategische Katastrophe des 20. Jahrhunderts» bezeichnete, provozierte er im Westen empörte Reaktionen, in Russland jedoch wusste er eine Mehrheit hinter sich.

Denn in Russland fiel die Bevölkerung nach der «Zeitenwende» trotz so mancher politischer Freiheiten auf das Niveau einer geradezu vormodernen Gesellschaft zurück. Sie verarmte in einem nicht für möglich gehaltenen Ausmass. Die Politik sah sich hilflos einer Schurkenwirtschaft gegenüber, die von Oligarchen, mafiösen Gruppen und Kadern der alten Nomenklatura beherrscht wurde. Was das Ende der Sowjetunion konkret für die russische Bevölkerung bedeutete, erfuhr ich im Juni 1993 bei einem Besuch in dem etwa 300 Kilometer nordöstlich von Moskau gelegenen Textilstädtchen Juscha. Während Jahrzehnten lebte hier die Bevölkerung in einem bescheidenen, aber gesicherten Wohlstand. Der Direktor der einzigen Fabrik weit und breit war für alles zuständig: nicht nur für den Betrieb, sondern auch für Strassen, Heizung, Kindergärten, Klinik.

Die Auflösung der Sowjetunion und die Einführung der Marktwirtschaft hatten für Juscha dramatische Folgen. Die für die Textilindustrie zuständigen Ministerien wurden aufgelöst. Juscha war plötzlich sich selbst überlassen. Der Fabrikdirektor hätte jetzt die gleiche Baumwolle aus Usbekistan zu Weltmarktpreisen auf einer Rohstoffbörse einkaufen und mit eigenen Mitteln für das Marketing der Produkte sorgen müssen. «Uns fehlten die Erfahrung und die Mittel», sagte der Direktor. Während Monaten stand der Betrieb still, die Belegschaft wurde in Zwangsferien geschickt, die Kantinen, Kindergärten und Gesundheitszentren wurden geschlossen. «Bitterer Abschied vom Arbeiterparadies» hiess der Titel meiner Reportage. Zwei Jahre später befand sich die Fabrik in den Händen einer Moskauer Mafia. Der Direktor war unter mysteriösen Umständen gestorben.

Von der «Schocktherapie» überrumpelt

Juscha war überall. Die Krise kristallisierte sich im Oktober 1993 in Moskau. Im russischen Parlament hatte sich eine Opposition gegen die radikalen Reformen verschanzt. Präsident Boris Jelzin liess das Parlament verfassungswidrig durch die Armee stürmen. Die «Oktober-Ereignisse» forderten weit über hundert Todesopfer. Warum, fragte sich die schockierte Bevölkerung, waren die Sowjetunion und der Kommunismus ohne grosses Blutvergiessen zusammengebrochen, während die Einführung des Kapitalismus einen so hohen Blutzoll fordert? Yegor Gaidar, Jelzins Premierminister und Architekt der Radikalreformen, versuchte auf diese Frage indirekt zu antworten: «Wir haben nichts erklärt und die Bevölkerung allein gelassen.» Gaidars Selbstkritik bekräftigte die These, dass die russische Bevölkerung von der «Schocktherapie» überrumpelt wurde, und sie erklärt auch, warum viele bis heute Demokratie und Marktwirtschaft mit Chaos und Bereicherung gleichsetzen.

Der Zusammenbruch der Sowjetunion ist geschichtlich gesehen etwas Einmaliges. In anderen Imperien zerbrach die Welt der Krone und des Adels. Das Weltbild der Begüterten wurde erschüttert, aber nicht zwangsläufig das der Untertanen. In Russland jedoch war es umgekehrt: Dank der per Dekret erlassenen Privatisierung gelang es dem sowjetischen «Adel», sich zusammen mit den Neureichen in die neue Welt hinüberzuretten. Für einen Grossteil der BürgerInnen hingegen stürzte mit dem Ende des «Arbeiter- und Bauernstaats» eine Welt zusammen. Es war nicht das versprochene Paradies auf Erden gewesen, aber – wie in Juscha – eine Welt der kleinen Gleichheit und Sicherheit. Die Privatisierung setzte diesen sozialen Garantien ein Ende. In Russland entstanden frühkapitalistische Verhältnisse.

Aus westlicher Sicht brachte die «Zeitenwende» weitgehende Presse-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Präsident Jelzin durfte kritisiert werden, selbst der erste Tschetschenienkrieg konnte 1996 unter dem Druck einer von kritischen Medien informierten Bevölkerung beendet werden. Aber Massenverelendung und Chaos sind kein guter Nährboden für Freiheit. Was nützt es, die Wahrheit zu erfahren, wenn man nichts ändern kann – so dachten damals viele RussInnen: Was bringen uns all die Freiheiten, wenn die Gegenwart trostlos und unsere Zukunft ungewiss ist?

Gegengift Putin und die Sowjetnostalgie

Als Putin 2000 an die Macht kam, befand sich Russland in einem desolaten Zustand: Die Industrieproduktion war um etwa 53 Prozent geschrumpft, die Sterblichkeitsrate war ab 1991 um sechzig Prozent gestiegen und die durchschnittliche Lebenserwartung der Männer auf 58 Jahre gesunken. Der gleiche Prozess, den Strobe Talbott – Russlandberater des damaligen US-Präsidenten Bill Clinton – 1993 in einem Senatshearing als «Beginn einer russischen Wiedergeburt» bezeichnet hatte, entpuppte sich als «menschliche Krise von monumentaler Proportion», wie das UN Development Program den Übergangsprozess in Osteuropa und den GUS-Ländern 1999 charakterisierte. Als «Obervolta mit Atomraketen» wurde der Nachfolgestaat der Sowjetunion im Westen verspottet.

Nach dem unpopulären, schwachen und alkoholkranken Jelzin präsentierte sich Putin als Garant eines «starken Staats», der für «Sicherheit» und «Stabilität» sorgt. Der russische Politologe Alexander Domrin versteht die Wirkung Putins als ein «Gegengift für eine Bevölkerung, welche die Demütigung des wirtschaftlichen und politischen Zerfalls bis heute nicht überwunden hat». Und die bisher, so Domrin, auch nicht vergessen hat, dass «der Westen in der entscheidenden Phase der Weichenstellung falsche Strukturen und unpopuläre Politiker unterstützte».

Unter Putin begann die russische Bevölkerung, wieder von den «guten alten Zeiten» zu träumen. Zehn Jahre nach dem Ende der Sowjetunion waren die Hoffnungen auf ein prosperierendes Russland erloschen. Und so erinnerten sich viele an die Breschnew-Zeit, die von DissidentInnen als eine Zeit der Stagnation kritisiert worden war und die Michail Gorbatschows Politik der Perestroika notwendig gemacht hatte. Aber hatte es in der Ära von Leonid Breschnew nicht ein funktionierendes Erziehungs- und Gesundheitssystem gegeben? Mittlerweile geht die Nostalgie so weit, dass das Wort «sowjetisch» bei einer Mehrheit der Bevölkerung positive Gefühle weckt. Dafür sorgen unter anderem Filme, Lieder und Neuauflagen alter sowjetischer Programme, die auf Geheiss des Kremls jede Woche im Fernsehen ausgestrahlt werden.

Abgeschirmt durch diese Nostalgiekulisse begann Putin, die unter Jelzin an die Oligarchen verschacherte Wirtschaft zu renationalisieren. Der dafür in den westlichen Medien oft gebrauchte Begriff «Staatsmonopolkapitalismus» geht aber an der Wirklichkeit vorbei. Es ist nicht der Staat, der sich ein Monopol verschafft, sondern eine kleine Machtgruppe, die sich den Staat angeeignet hat und ihn als Instrument ihrer monopolistischen Interessen nutzt. Das Monopol dient zwei Zielen, die sich gegenseitig stützen: der Gewinnmaximierung und dem Machterhalt. Yegor Gaidar hatte mit der Privatisierung erstmals in der russischen Geschichte den verhängnisvollen Pakt von Eigentum und Macht brechen wollen. Als er nach seinem Rückzug aus der Regierung Jelzin (1994) verstanden hatte, dass ihm das misslungen war, sagte er: «Solange in Russland Eigentum im Magnetfeld der Macht zirkuliert, wird sich das Land nie zu einem modernen Staat entwickeln.» Das «Magnetfeld» blockiere die demokratische Öffnung. Denn die Elite werde nie freie Wahlen erlauben, weil sie wisse, dass sie dann nicht nur ihre Macht, sondern auch ihren illegitimen Reichtum verlieren würde.

Wer hat Russland verloren?

Im Februar 2008 fragte der in den USA lebende gebürtige Russe Dimitri Simes, in welchem Ausmass die US-Politik dafür mitverantwortlich ist, dass Russland keine «liberale Demokratie» geworden sei. Schon der Titel seines Artikels im einflussreichen Magazin «Foreign Affairs» erklärt vieles: «Wer hat Russland verloren?» Verlieren kann man jedoch nur, was man besitzt oder zu besitzen glaubt. Die Annahme des Westens, Russland habe als Verlierer des Kalten Kriegs keine andere Wahl, als sich in die westliche Welt zu integrieren (und zwar zu den Bedingungen des Siegers), erwies sich als Trugschluss.

Auch in einem weiteren Sinn hat der Westen Russland «verloren». Denn welche russischen Stimmen kommen bei uns zu Wort, was wollen wir hören und sehen? Jahrelang dienten Gorbatschow, Jelzin und in den ersten Jahren auch Putin als Symbolfiguren eines Reformprozesses nach westlichem Muster. Das war leichter, als sich mit der unübersichtlichen politischen Realität auseinanderzusetzen.

Im Westen wurde immer wieder betont, die Hilfe zur Demokratisierung Russlands dürfe weder einem allgemein verbindlichen Modell folgen noch dem Land aufgezwungen werden. In Wirklichkeit war aber die Botschaft an Russland unmissverständlich. In einem Papier zur nationalen Sicherheitsstrategie der Clinton-Regierung schrieb Strobe Talbott an die Adresse Moskaus: «Wir werden euch durch alle Schwierigkeiten begleiten – solange ihr euch in die richtige Richtung bewegt» («Foreign Affairs» Nr. 6/1996).

Dafür sorgen, dass sich Russland in die «richtige Richtung» bewegt, sollte die Privatisierung der Wirtschaft, die ein von der US-Regierung finanziertes Expertenteam der Harvard University eng begleitete. Priorität hatte, möglichst rasch neue Fakten, neue Besitzverhältnisse zu schaffen, um die «roten Direktoren» auszuschalten und eine Rückkehr der Kommunisten an die Macht zu verhindern. Führende Reformpolitiker pilgerten zu Margaret Thatcher, deren neoliberale Wirtschaftspolitik sie zum Vorbild nahmen. Im Moskau der neunziger Jahre gab es viele liberale Stimmen, die überzeugt waren, Russland müsse das autoritäre Entwicklungsmodell des chilenischen Diktators Pinochet übernehmen, das von westlichen Ökonomen, den sogenannten Chicago Boys, angeleitet worden war.

Joseph Stiglitz, damals Chefökonom der Weltbank, kritisiert in seinem Buch «Schatten der Globalisierung» das Vorgehen der Radikalreformer und ihrer BeraterInnen. Die Privatisierung sei für den Oligarchenkapitalismus verantwortlich und habe eine Verarmung der Bevölkerung zur Folge gehabt. Im Volksmund wurde der Begriff «Privatisazija» zum Schimpfwort «Prichvatisazija» (Klauerei). Die Schlüsselreform diskreditierte die Demokratie, weil sie in den Augen der Bevölkerung als Raubzug im Namen demokratischer Reformen über die Bühne ging.

Die «passable Demokratie»

Mit grossen Summen wurden vom Westen prowestliche Parteien unterstützt, die heute im Parlament nicht mehr vertreten oder gänzlich verschwunden sind. Alle Wahlen in den neunziger Jahren wurden von den USA und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) als «frei und fair» gelobt. Die Wiederwahl Jelzins 1996 galt als Beweis für die «Fortschritte im demokratischen Prozess», obwohl genügend Beweise für Manipulationen vorlagen. Schon früh begannen russische Entscheidungsträger zu verstehen, «was die internationale Gemeinschaft als passable Demokratie zu akzeptieren bereit ist» (wie Sarah Mendelson 2002 in «Foreign Affairs» schrieb).

Als aufmerksame Schüler der «passablen Demokratie» erwiesen sich Putin und seine Leute, die zehn Jahre später die «souveräne Demokratie» erfanden. Auf dem Papier blieben alle demokratischen Institutionen bestehen, in der Realität jedoch wurden die Medien, das Parlament, die regionalen Mächte und die Gerichte Putins «vertikaler Macht» unterstellt.

Wie dehnbar seine Grundprinzipien sind, zeigte der Westen auch im Jahr 2004, als er Jelzins Einmarsch in Tschetschenien nicht nur duldete, sondern sogar rechtfertigte. Präsident Clinton verglich den Konflikt mit Tschetschenien mit dem US-amerikanischen Bürgerkrieg. Der Westen tolerierte, dass die russische Armee durch den unverhältnismässigen Einsatz von Gewalt internationale Verträge und Konventionen schwer verletzte. Wenn heute westliche Regierungen das autoritäre Regime des ehemaligen KGB-Offiziers Putin kritisieren, sollten sie sich daran erinnern, wer in den entscheidenden Jahren des Übergangs welche Entwicklungen unterstützte oder tolerierte.

Kollektive Solidarität, individuelle Freiheit

Die Ansicht ist im Westen weitverbreitet und wird auch von vielen RussInnen geteilt: In Russland wird die Demokratie nie eine Chance haben. Die russische Gesellschaft brauche eine starke Hand und habe einen quasi natürlichen Hang zum Autoritären. Diese Auffassung übersieht eine wichtige Tatsache: Russland hat in seiner ganzen Geschichte nie einen funktionierenden Staat erlebt. Eine Demokratie mit Wahlen, Meinungsfreiheit und Bürgerrechten kann sich jedoch nur entfalten, wenn der Staat sich legitimiert und seine Aufgaben wahrnimmt. Die russische Bevölkerung spricht sich bei Umfragen regelmässig für die Demokratie aus. Im russischen Verständnis von Demokratie haben aber kollektive Werte wie öffentliche Ordnung, Wohlfahrt, soziale Gerechtigkeit einen höheren Stellenwert als Wahlen und individuelle Rechte, die im Westen an erster Stelle stehen.

Dieses Demokratieverständnis hat seine Wurzeln im vorrevolutionären Russland. Weil die Bevölkerung vom autoritären Zarenregime keinen Schutz erwarten konnte, organisierten die russischen Bauern in den Gemeinden ihre eigene dörfliche Demokratie (Mir). Sie wählten die Gemeindechefs, der Boden gehörte der Gemeinschaft, und die Haushalte konnten das Land je nach ihrer Grösse (ausschlaggebend war die Anzahl ihrer männlichen Mitglieder) nutzen. Im alten russischen Bauerndorf herrschte das Prinzip der kollektiven Solidarität (Sobornost).

Da es in der Dorfgemeinschaft kein Privateigentum gab, konnte sich auch keine feste Beziehung zum Besitz und keine Wertschätzung der Arbeit entwickeln. Die Last dieser historischen Hypothek ist auch im postsowjetischen Russland zu spüren: Die Neureichen, die über Nacht zu ihren Reichtümern gekommen sind, sind keine Unternehmer. Und sie lassen den kleinen MittelständlerInnen, die ihre Geschäfte aufbauen wollen, keine Chance. Die Radikalreformer und ihre westlichen BeraterInnen waren davon ausgegangen, dass eine rasche Liberalisierung und die Privatisierung der Wirtschaft zu einer pluralistischen und marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaft führen würden.

Dass das nicht funktionierte und angesichts der fehlenden Voraussetzungen auch nicht funktionieren konnte, hat sich mittlerweile herumgesprochen. Selbst die in Moskau stationierten US-DiplomatInnen gehen – wie die von Wikileaks veröffentlichten Depeschen zeigen – davon aus, dass sich um Putin eine «korrupte, autoritäre Kleptokratie gebildet [hat], in der Staatsbeamte, Oligarchen und die organisierte Kriminalität miteinander verflochten sind und einen wahrhaften Mafiastaat bilden». Eine genauere Beschreibung des Systems gibt der ehemalige Wirtschaftsberater Putins, Andrej Illarionow: «Das wichtigste Prinzip von Russlands neuem Wirtschafts- und Rechtsmodell ist Selektivität. Die Ressourcen werden nur an jene verteilt, die ‹zu uns› gehören.» Bei den Auserwählten handle es sich um eine relativ kleine Schar von «Putin-Oligarchen», die in der Öffentlichkeit weniger bekannt, aber viel mächtiger und reicher seien als die «Jelzin-Oligarchen» der neunziger Jahre.

Die Offshore-Aristokratie

Wie der Westen an diesem innerrussischen Verteilungskampf beteiligt ist, darauf macht Wladimir Surkow aufmerksam. In einer bemerkenswert ehrlichen Umschreibung bezeichnet der Berater von Präsident Dmitri Medwedew und Premierminister Putin Russlands «Nouveaux Riches» als «Offshore-Aristokratie». Diese «Machtelite» bringe ihre Reichtümer im Ausland in Sicherheit und beweise damit, wie wenig sie Russland vertraue. Gelegentlich berichten kritische Medien, wie Oligarchen und ihre Verbündeten im Kreml ihre Millionen und Milliarden im Ausland platzieren. So publizierte die «Novaja Gazeta» eine Luftaufnahme der imposanten Genfersee-Villa des Ölmilliardärs und Putin-Freunds Gennadi Timtschenko, der seine Erdölhandelsfirma (Gunvor) in Genf registriert hat.

Die «Offshore-Aristokratie» konnte sich nur mithilfe westlicher Banken und Regierungen bilden. Darüber ist man sich auch in Moskau im Klaren. Vorläufig gibt es dort auch noch keinen Grund, Angst zu haben, dass diese Fluchtgelder in absehbarer Zeit einmal als «Potentatengelder» beschlagnahmt werden könnten.

Wladimir Surkow geht davon aus, dass Russland eine «nationale Bourgeoisie» brauche – ein Bürgertum, das erstmals in der Geschichte sich in den Dienst des Staats stellt und den Staat nicht als sein Eigentum betrachtet. In Wirklichkeit aber entwickelt sich Russland in eine andere Richtung. So sieht es jedenfalls der Politologe Boris Kagarlitzki, nach dessen Ansicht in Russland eine Refeudalisierung der Gesellschaft stattfindet. Auf der Strecke bleibt ausgerechnet der Mittelstand, jene Gesellschaftsschicht also, welche die Basis für Demokratie und Marktwirtschaft bilden sollte. Kagarlitzki dreht den Spiess um: Das «Transitionsland» Russland hinke nicht etwa hinterher, sondern zeige dem Westen, wohin der «diki kapitalism», der wilde Kapitalismus, letztlich führe.

Mit dem linken Kritiker Kagarlitzki einverstanden ist ausgerechnet Francis Fukuyama, der einstige Vorzeigeintellektuelle der amerikanischen Neokonservativen, von dem der Spruch vom «Ende der Geschichte» stammt. In seinem neusten Buch stellt er fest, dass die Macht der neuen Finanzoligarchen in den USA bereits ein Ausmass angenommen habe, das sich nicht mehr unterscheide «von den Zuständen in Schwellenländern wie Russland oder Indonesien». Von einer «Russifizierung» der westlichen Demokratie spricht auch der konservative britische Publizist Charles Moore.

Nur noch ein Sozialismus für die Reichen

Das postsowjetische Russland zeigt, dass eine politische Liberalisierung ohne soziale Gerechtigkeit keine demokratische Gesellschaft hervorbringt. Im Westen war im Rausch des Siegs über das «Reich des Bösen» nur noch von Freiheit die Rede. Soziale Gerechtigkeit, sofern man überhaupt an sie dachte, sollte sich von selbst einstellen. Heute erleben wir nicht nur in Russland eine Polarisierung der Gesellschaft in Arm und Reich, wie sie zu Beginn der neunziger Jahre kaum vorstellbar war. Das ist keine Folge der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise. Die Krise hat mit der Sozialisierung der Verluste (bei anhaltender Privatisierung der Gewinne) nur verschärft, was die Politik der letzten zwei Jahrzehnte anrichtete. Zwanzig Jahre nach dem Ende des «real existierenden Sozialismus» ist, so gesehen, nur eine Art von Sozialismus übrig geblieben – der «für die Reichen» (Stiglitz).

Der Westen hat den Kalten Krieg zwar gewonnen, spätestens seit der Finanzmarktkrise ist er aber seines Triumphs nicht mehr froh. Jene, die vor zwanzig Jahren das «Ende der Geschichte» verkündeten, sehen sich von der Geschichte eingeholt. Es ist kein äusserer Feind, sondern der Kapitalismus selbst, der die Ideale der Demokratie unterspült. Wie Russland vor zwanzig Jahren muss sich nun auch der Westen der Systemfrage stellen.

Und Russland? Seit zwei Jahrzehnten durchlebt das Land einen Prozess zwischen Niedergang und Aufbruch. Russland, so war vor zwanzig Jahren die Erwartung gewesen, sollte innert kurzer Frist und gleichzeitig Entwicklungen nachholen, die bei uns nacheinander und über Jahrhunderte hinweg stattfinden konnten: demokratische Institutionen und eine Wirtschaft mit neuen Eigentumsformen aufbauen, imperiale Träume überwinden und ein normaler Nationalstaat werden. Gleichzeitig sollte sich eine von der Aussenwelt abgeschottete Gesellschaft plötzlich in einer globalisierten Welt zurechtfinden. Für die Bewältigung dieses historisch einmaligen Vorgangs braucht die russische Gesellschaft aber mehr Zeit. Seit 1991 sind erst zwanzig Jahre vergangen.

Roman Berger war Korrespondent des «Tages-Anzeigers» in Washington (1976–1982) und in Moskau (1991–2001). 2001 erschien sein Buch «Russland hinter den Schlagzeilen» (Werd Verlag).