Durch den Monat mit Jochi Weil (Teil 2): Wie genau nehmen Sie es mit religiösen Regeln?

Nr. 49 –

Jochi Weil fühlt sich in der Synagoge wohl, auch wenn viele Gemeindemitglieder seine politische Haltung nicht verstehen. Religion und linkes Engagement sind für ihn kein Widerspruch.

Jochi Weil: «Ich habe schon seit Jahrzehnten ein Bild in mir: in einem Arm die Thora, in der anderen Hand das ‹Kommunistische Manifest›.»

WOZ: Herr Weil, letzte Woche haben Sie erzählt, dass Verwandte in Israel Sie nicht mehr sehen wollen, weil Sie sich für Palästina engagieren. Auch in der jüdischen Öffentlichkeit werden Sie kritisiert, ein Blogger nennt Sie etwa «Alibijude» …
Jochi Weil: Das begann vor bald dreissig Jahren. 1982, während des ersten Libanonkrieges, war ich Mitbegründer der Vereinigung kritischer Jüdinnen und Juden in der Schweiz. Damals gingen wir, 36 Frauen und Männer, mit einer israelkritischen Erklärung an die Öffentlichkeit. Die Reaktionen waren heftig. Die jüdische Presse druckte eine Stellungnahme verschiedener jüdischer Gemeinden: Man nannte uns «Nestbeschmutzer», «Randjuden», «Verräter» und «Selbsthasser». Solche Angriffe erlebe ich inzwischen kaum noch, wenngleich mein Engagement wenig akzeptiert wird.

«Randjuden»?!
Ja. Dieser Begriff hat mich aber nie gestört. Ich gehöre nicht zum Zentrum der Zürcher jüdischen Gemeinde – schon meine Eltern waren eher am Rand. Aber wenn meine Mutter eine Wähe machte, dann hatte die ja auch einen Rand, und den hatte ich sehr gern.

Wie sind Sie mit den Angriffen umgegangen?
Die Begriffe «Verräter» und «Nestbeschmutzer» habe ich von mir gewiesen, aber «Selbsthasser» – das hat mich beschäftigt. Wenn du zu einer Minderheit gehörst, die zum Teil abgelehnt wird – und es gibt eine antisemitische Tradition in der Schweiz –, dann besteht die Gefahr, dass du das Fremdbild übernimmst. Ich bin ein psychoanalytisch orientierter Mensch. Selbstreflexion ist mir wichtig. Ich glaube, dass ich früher viel aggressiver aufgetreten bin in meiner Kritik. Wegen dieser Vorwürfe habe ich mich stark mit der Frage auseinandergesetzt, was denn meine Motivation für diese Kritik ist. Heute spüre ich eine tiefe Besorgnis Israel gegenüber, aber gleichzeitig auch viel mehr Selbstakzeptanz. 2000 bin ich wieder Mitglied der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich geworden, nachdem ich vorher gut zwanzig Jahre draussen war.

Warum sind Sie wieder eingetreten?
Ich war verzweifelt über die Situation im Nahen Osten, speziell die der Palästinenserinnen und Palästinenser. Oft lag ich nachts wach und fragte mich, was man überhaupt noch machen kann. Da merkte ich plötzlich, dass mir das religiöse Judentum Halt gibt. Ich fühle mich in der Synagoge wohl.

Aber viele Gemeindemitglieder sind Ihre politischen Gegner …
Trotzdem. Mit jenen Leuten, die mir politisch näher stehen, ist es zwar auf der intellektuellen Ebene einfacher, aber emotional fühle ich mich als Jude oftmals nicht verstanden. Dazu kommt, dass nicht wenige Zürcher Jüdinnen und Juden via Elsass oder Süddeutschland in die Schweiz gekommen sind wie die Familie meines Vaters auch. Das gibt eine gewisse Verbundenheit, wir ticken einfach ähnlich.

Ist Ihnen das Rituelle wichtig?
Ja, vor allem der Ablauf des Gottesdienstes – ein seit Jahrhunderten unveränderter Ritus. Ich bin immer einer der Ersten in der Synagoge, am Samstagmorgen um Viertel vor neun. Und ich bleibe oft bis halb zwölf. Diese Stunden helfen mir, mich zu finden. Ich gehe ja in die orthodoxe Synagoge. Viele haben mich gefragt: Warum gehst du nicht in die liberale Gemeinde, wo Frauen die gleichen liturgischen Rechte haben? Aber in der orthodoxen Synagoge war ich schon als kleiner Bub ab und zu. Sie ist ein Stück Heimat. Und politisch sind sie in der liberalen Gemeinde genauso wenig links …

Wurden Sie religiös erzogen?
Nicht sehr. Wir waren sogenannte Dreitagesjuden. Wir gingen nur an den drei wichtigsten Feiertagen in die Synagoge: an Pessach, an Rosch Haschanah und an Jom Kippur. Ich bin jetzt vielleicht wieder näher bei meinen Grosseltern. Obwohl ich sie nicht kannte.

Wie genau nehmen Sie es mit den Regeln?
Kaum. Ich gehe am Samstag zu Fuss in die Synagoge und wieder zurück, das ist alles. Ich lebe nicht koscher; ich esse, was ich gerne habe, und halte auch den Schabbat nicht konsequent ein. Alles, was mich beengt, finde ich bedrohlich. Ich bin ja ein Altachtundsechziger, habe die Achtzigerbewegung unterstützt und finde die Occupy-Bewegung grundsätzlich gut – die Sehnsucht nach Freiheit, nach Freiräumen hat mich immer begleitet.

Viele würden jetzt sagen: Das geht doch nicht zusammen.
Für mich hat beides nebeneinander Platz, das Befreiende und das Traditionell-Strukturierte. Mir geben die Strukturen des orthodoxen Gottesdienstes Halt. Sie können auch befreiend sein, etwa in den vielen Möglichkeiten, die es gibt, die Thora zu interpretieren. Aber das ist meine persönliche Sicht. Ich will meine Religion niemandem aufoktroyieren.

Seit kurzem bin ich im Vorstand der Resos, der Religiös-Sozialistischen Vereinigung. Ich trage schon seit Jahrzehnten ein Bild in mir: in einem Arm die Thora, aus der wir in der Synagoge jeden Schabbat lesen – und in der anderen Hand das «Kommunistische Manifest». Die meisten Linken, die Religion ablehnen, sehen diese beiden Seiten als antagonistisch. Ich sehe sie dialektisch. Vorletzten Samstag war ich in der Kirche St. Jakob und habe der Occupy-Bewegung die solidarische Unterstützung der Resos übermittelt.

Jochi Weil (69) arbeitet seit dreissig Jahren 
für Medico International Schweiz, die frühere Centrale Sanitaire Suisse (CSS).