Personenrätsel: Die konsequente Umtriebige

Nr. 50 –

Nein, woanders als auf der Anklagebank habe ihr Leben nicht enden können, erklärte sie 1884 vor Gericht. Hätte ihr jemand einen friedlichen Weg gezeigt – «sicher, dass ich versucht hätte, ihn zu gehen».

Dabei hatte sie es ja im Guten versucht. Die 1852 geborene russische Gutsbesitzertochter wollte eigentlich als Ärztin «gegen Krankheit und Unwissenheit ankämpfen». Dafür hatte sie mit zwanzig Jahren die Koffer gepackt und sich in Zürich für Medizin eingeschrieben. Als sie dort auf eine Gruppe russischer Studentinnen stiess, die sich mit sozialistischen Theorien, politischer Ökonomie und der Arbeiterbewegung auseinandersetzten, wurde aus ihrer humanitären Mission eine politische. Damals glaubte sie, dass die Revolution nur noch eine Frage der Zeit sei und allein wegen der Überzahl der BefürworterInnen friedlich verlaufen würde.

Doch der lange Arm des Zaren reichte bis in die Schweiz: Den umtriebigen Russinnen wurde kurzerhand das Studium in Zürich untersagt. Die meisten kehrten daraufhin nach Russland zurück, wo sie sich in die Fabriken begaben, um die ArbeiterInnen für den Sozialismus zu gewinnen. Sie aber wollte zu Ende studieren und ging nach Bern.

Als ihre ehemaligen Kommilitoninnen eine nach der anderen der russischen Repression zum Opfer fielen, fühlte sie sich in der Pflicht. 1875 fuhr sie heim, legte eine Prüfung als Hebamme und Arztgehilfin ab und nahm sich der verelendeten Landbevölkerung an. Der Geheimdienst jedoch spann ein Netz von Verleumdungen und Drohungen um sie, das sie bald völlig isolierte. Jeder Möglichkeit der politischen Agitation unter den Bauern und Bäuerinnen beraubt – das absolutistische Regime gestattete weder Presse- noch Meinungs- noch Versammlungsfreiheit –, trat sie der militanten Geheimgesellschaft Narodnaja Wolja (Volkswille / Volksfreiheit) bei, die 1881 den Zaren in die Luft bombte. 1884 wurde sie dafür zu lebenslanger Haft verurteilt. Nach über zwanzig Jahren entliess man sie ins Ausland. 1915 kehrte sie nach Russland zurück, wo sie im Zuge der Revolution amnestiert und gefeiert wurde, bis zu ihrem Tod 1942 jedoch unter geheimdienstlicher Überwachung blieb.

Wer war die Stalin-Kritikerin, deren Alter und Ansehen verhinderte, dass sie in den dreissiger Jahren erneut im Gefängnis landete?

Wir fragten nach der russischen Sozialrevolutionärin Vera Figner (1852–1942).
 In Zürich war sie Mitglied der sogenannten Fritschen-Gruppe, von der viele im Gefängnis, in der Verbannung oder – wie Sofia Perowskaja – am Strang endeten. Als man Vera Figner 1906 die Ausreise erlaubte, tourte sie durch Europa, um Unterstützung für die Gefangenen des Zarenregimes
zu organisieren. Auch nach der Revolution kümmerte sie sich um die ehemaligen politischen Häftlinge, gründete ein Kropotkin-Museum und publizierte unter anderem Artikel zur Revolutionsgeschichte. Ihre Memoiren «Nacht über Russland» waren ein international viel beachtetes Buch.