Robert Crumb: «Will ich wirklich einer dieser Irren sein?»

Nr. 50 –

Ein Interview mit dem Cartoonisten Robert Crumb über alte Folkmusik – Appenzeller Streichmusik inklusive –, die Wonnen und Abgründe des Sammelns, seine Begegnung mit Janis Joplin und die Arbeit an der Schöpfungsgeschichte als Comic.

WOZ: Robert Crumb, Sie sind als Comiczeichner berühmt, aber auch als Musiker aktiv. Ist Musik Ihre geheime Leidenschaft?
Robert Crumb: Meine Leidenschaft schon, nur nicht geheim. Ich trete seit mehr als vierzig Jahren mit Bands auf. Heutzutage mit McCamy’s Melody Sheiks. Der Bandleader Ian McCamy, ein Fiddlespieler, lebt in der gleichen Ortschaft in Südfrankreich, wo ich seit fast zwanzig Jahren wohne. Wir sind beide an «Old Time Music» interessiert und begannen bei Partys und Festen ein bisschen Musik zu machen. Er ist ein professioneller Musiker, der schon einige Alben veröffentlicht hat. Weil er meine Begleitung auf der Gitarre und dem Banjo mochte, bat er mich, bei der Einspielung des Albums dabei zu sein, was mir grosses Vergnügen bereitete.

Im Booklet-Text zur CD «There’s More Pretty Girls than One» der Melody Sheiks beschreiben Sie die traditionelle Folkmusik als eine sehr demokratische Tradition. Wie ist das genau zu verstehen?
Die traditionelle Musik ist in einem simplen Format gehalten, simpel genug, um selbst Anfängern das Mitspielen zu ermöglichen. Ein Neueinsteiger spielt dann vielleicht mit jemandem zusammen, der diese Musik schon jahrelang macht und ein echter Könner ist. Wenn man sich diese Familienensembles anschaut, die diese Musik früher in den USA spielten, dann musizieren da Kinder mit Erwachsenen zusammen. Man musste nur ein paar Akkorde können, und schon konnte man einsteigen. Kinder machten mit ihren Eltern Musik, aber auch Neffen und Cousinen, Onkel und Tanten waren mit von der Partie. Wenn die Jungen Talent zeigten, konnten sie in diesem Stil zu grossen Virtuosen werden. Sie konnten üben und immer besser werden, aber sie mussten nicht. Man kann diese Musik auch spielen, ohne ein grosser Virtuose zu sein. Der Stil bietet einen Rahmen für jede Stufe musikalischer Fähigkeit. Jeder und jede kann mitmachen. Ein geniales Konzept! Das ist das Schöne an der alten Folkmusik.

Hört sich das dann nicht dilettantisch an?
Kann schon vorkommen, aber das ist nicht der Punkt. Man spielte ja für seine Familie, Leute aus der Nachbarschaft, nicht für Kenner. Es kommt auf die Freude am Musikmachen an und nicht so sehr auf ein grandioses Ergebnis. Im Gegensatz zur Folkmusik errichtet Kunstmusik Barrieren. Das macht den Einstieg schwierig. Man muss erst Jahre im einsamen Kämmerlein üben, bevor man in einem Ensemble spielen kann. Schau dir den Jazz an: Da muss man viel über Akkorde, Tonleitern, Tonarten wissen und ein ungeheurer Könner auf seinem Instrument sein, um Jazz leidlich spielen zu können. Ganz anders die Folkmusik: Die Leute spielten die Old Time Music zu ihrem eigenen Vergnügen auf kleinen, lokalen Anlässen. Es ist Gebrauchsmusik, keine Konzertmusik, gespielt von Hobbymusikanten mit Spass und Freude. Das unterscheidet sie von jeder Art professionell gespielter kommerzieller Musik. Folkmusik findet in einem gänzlich anderen, einem kommunitären Kontext statt.

Sind Sie in Ihrer Kindheit noch solchen Hillbillybands begegnet?
Wo ich in den fünfziger Jahren aufwuchs, gab es solche Gruppen schon lange nicht mehr – keine Spur! Wir wohnten in einer dieser modernen US-amerikanischen Vorstädte: Einfamilienhäuser, Garagen, Vorgärten. Damals war diese Folktradition schon nicht mehr existent. Die modernen Unterhaltungsmedien hatten sie plattgemacht, ausradiert. Die kommerzielle Musik aus dem Radio und von Schallplatten dominierte alles. Da gab es für Hillbillymusik keinen Platz mehr.

Wie wurde Ihr Interesse an dieser Musik geweckt? Wo sind Sie ihr begegnet?
Ich weiss nicht, warum auf mich alte Musik so eine Faszination ausübte, aber schon als Kind war ich davon begeistert. Ich hörte sie zuerst in Fernsehfilmen aus den dreissiger Jahren und fing sofort Feuer. Als ich dann zwölf oder dreizehn Jahre alt war, suchte ich nach dieser Musik, die ich in den alten Filmen gehört hatte. Aber diese Musik gab es nicht auf den Schallplatten, die damals in Umlauf waren – höchstens ein bisschen Dixielandjazz. In Ramschläden stiess ich dann auf alte Schellackplatten, was eine Erleuchtung war.

Sie waren schon als Teenager in Ramschläden unterwegs?
Klar, ich hatte schon immer eine Leidenschaft fürs Sammeln. Mit zehn Jahren durchkämmte ich Junkshops und Secondhandläden auf der Suche nach alten Comic-Heften, auch die Läden der Heilsarmee. Als ich fünfzehn war, stolperte ich in so einem Laden über einen Stapel von Schellackplatten, die sehr billig waren. Sie waren nicht alle toll, Operetten und solches Zeug. Aber eine war von einer Tanzkapelle aus den zwanziger Jahren. Der Name der Gruppe sagte mir nichts, aber die Musik warf mich um. Ich dachte: «Das ist es! Das ist diese alte Musik aus den Filmen, nach der ich schon so lange Ausschau gehalten habe.» Damit war klar, dass ich von nun an nach solchen Schellackplatten fahnden würde. Ich kaufte mehr und mehr davon und entdeckte dabei all diese unterschiedlichen traditionellen Stile: Old Time Jazz, Blues, Gospel, Hillbilly, Cajun – das ganze Spektrum.

Wie wurden Sie auf den Blues aufmerksam?
In der Schulbücherei fand ich ein Buch über Jazz. Darin gab es ein Kapitel über das Schallplattensammeln. Dort war von Sammlern die Rede, die in schwarzen Stadtteilen von Haustür zu Haustür gingen und nach alten Jazzplatten fragten. Wow – glänzende Idee! Sofort machte ich mich auf die Socken. Ich klopfte an die Türen im schwarzen Stadtteil meiner Heimatstadt Dover in Delaware. Die Leute waren sehr neugierig und überrascht: «Was will dieser weisse Rotzjunge hier?» Aber viele hatten noch Scheiben aus den zwanziger und dreissiger Jahren. Sie verkauften sie mir für wenig Geld, zehn Cents das Stück. Dadurch entdeckte ich die Welt des Blues. Junge, Junge – was für eine Musik! Diese Klänge kamen mir zwar absolut fremd und exotisch vor, waren zugleich aber ungeheuer faszinierend.

Blues war die Einstiegsdroge. Wie ging es weiter?
Nach dem Blues entdeckte ich die weisse Folkmusik und mehr und mehr auch die Musikstile der verschiedenen Einwanderergruppen der USA: irische Jigs, griechischen Rembetiko, polnische und ukrainische Musik, böhmische Klänge – einfach alles, was es auf Schellacks gab. Es wurde mir klar, dass jedes Volk irgendwann einmal eine eigene, starke Folkmusiktradition besessen hatte, und einiges davon war auf Schallplatten verewigt worden. Nach diesen Scheiben hielt ich Ausschau. Ich sammle diese Musik bis heute. Ein Freund hat mir vor einiger Zeit Schellackplatten mit Appenzeller Streichmusik besorgt – absolut fantastisch! Ich kannte diesen Stil mit Hackbrett (Crumb spricht das Wort deutsch aus) und Geigen nicht und war total begeistert. Was für ein Schatz! Man hat mir erzählt, dass diese Musik bis heute gespielt wird. Das ist doch wunderbar.

Sie scheinen ein geradezu fanatischer Sammler zu sein. Woher kommt diese Sammelwut?
Es ist eine Obsession. Ich glaube, es hat mit der Macht der Serie zu tun. Man hat ein Exemplar und will auch die anderen Exemplare der Serie haben – ein Drang nach Vollständigkeit. Es ist wie eine Krankheit, die von einem Besitz ergreift. Man könnte es auch als eine moderne Ausformung des Jagdinstinkts beschreiben, ein archaisches Relikt, vielleicht eine Art Perversion. Die Erregung, die einen erfasst, wenn man sich einem Flohmarkt nähert, die Vorfreude, vielleicht eines der Dinge zu finden, nach denen man seit langem sucht, sind Symptome dieses Gebrechens. Man weiss nie, welche Schätze einen erwarten.

Den Schellackplatten sieht man oft nicht an, welche Musik sie enthalten. Wie vermeidet man Fehlkäufe?
Das ist ja gerade das Wunderbare. Platten sind voller Überraschungen – schlechter wie guter. Als ich diese Musik aus Appenzell das erste Mal hörte, hat mich das regelrecht umgehauen. Ein anderes Mal kaufte ich auf einem Flohmarkt in Paris einen Stapel Schellackplatten. Darunter war eine Scheibe, aus der ich nicht schlau wurde. Ich konnte nicht erkennen, aus welchem Land sie stammte, konnte das Label nicht lesen. Es war so fremdartig und exotisch – total mysteriös! Ich konnte es kaum erwarten, sie daheim auf mein Grammofon zu legen, und hörte eine Musik, die mich aus den Schuhen kippte: Das Orchester spielte die wundersamsten Klänge auf dem Planeten. Pure Ekstase! Und ich konnte immer noch nicht lokalisieren, woher diese himmlische Musik stammte. Nach ausgiebigen Recherchen fand ich heraus, dass sie aus Madagaskar war. Es war eine Odéon-Aufnahme aus dem Jahr 1931 – die wundervollsten Sounds, die man sich vorstellen kann.

So ein Glücksfall entschädigt für die vielen Schallplatten, die man kauft, weil sie billig sind, und die sich, wenn man sie dann hört, als Flops erweisen. Aber man nimmt das Risiko gerne in Kauf. Man muss viele schlechte Platten kaufen, um einige Perlen zu finden. Wenn ich zehn Schellacks auf einem Flohmarkt erwerbe und zwei davon stellen sich als toll heraus, ist das schon ein Grund zum Feiern.

Ich habe gehört, Sie unternähmen gelegentlich richtige Schellacksuchtrips durch die USA, um alte Junkshops zu durchwühlen. Der Sammler Chris Strachwitz hat mir berichtet, dass es, egal wo er auch hinkommt, heisst: «Robert Crumb war schon da!»
Das ist ja lustig, denn wo immer ich hinkomme, mir, dass vor die Leute, dass vor drei Wochen schon Chris Strachwitz hier war.

Sammler gelten als verschrobene Typen. Warum hat diese Leidenschaft so ein schlechtes Image?
Sammeln hat nichts Heroisches an sich. In Filmen ist der Held nie ein Sammler. Sammler sind die pickeligen Typen, die daheim ihre Fundstücke bestaunen, während die anderen Jungs sich mit den Mädchen amüsieren. Aber egal: Jemand muss es machen! Ich habe oft das Gefühl: Ich rettete die Musikkultur, die auf diesen Schellacks bewahrt ist, vor dem Untergang. Damit leiste ich der Gesellschaft einen Dienst. Auf der anderen Seite erlebe ich das Sammeln als sehr selbstsüchtige Angelegenheit, die die niedersten Instinkte in mir zum Vorschein bringt: Neid, Gier! Ich verwandle mich in einen machiavellischen Schurken, wenn ich darüber nachdenke, wie ich an eine bestimmte Platte kommen könnte, von der ich weiss, dass sie jemand anderes besitzt. Ich überlege dann irgendeinen komplizierten Tausch, den ich demjenigen aufschwatzen könnte, nur um diese Scheibe in meinen Besitz zu bringen – ekelhaft!

Kommen einem da nicht manchmal Zweifel?
Die ganze Zeit! Ich frage mich gelegentlich, ob ich eigentlich verrückt bin. Wenn ich auf irgendeiner Schallplattenbörse unter all diesen Männern stehe, die irgendeiner mysteriösen Schellackplatte hinterherjagen und in kleine Notizbücher Nummern kritzeln, kann ich schon ins Grübeln geraten. Was mache ich hier? Will ich wirklich einer von diesen Irren sein?

Sie haben viele Porträts von alten Bluessängern und Hillbillymusikanten gemalt. Spricht die Musik nicht für sich?
Ohne Frage. Trotzdem wollte ich diesen vergessenen Künstlern ein Denkmal setzen und ihnen meine Wertschätzung bezeugen. Darüber hinaus handle ich in missionarischer Absicht. Ich wollte so viele Menschen wie möglich auf diese fantastische Musik aufmerksam machen. Obwohl das manchmal sinnlos ist, weil die Musik von einigen der Musiker, die ich zeichnete, nie auf LP oder CD wiederveröffentlicht wurde. Es besteht also nur eine äusserst geringe Chance, dass man jemals ein Stück von Mumford Bean & His Itawambians zu Gehör bekommt. Die Band hat 1928 ihre einzigen beiden Stücke für eine Schellackplatte aufgenommen und ist dann wieder von der Bildfläche verschwunden, keine Reissue – nix!

Seit Sie in Frankreich leben, haben Sie auch alte französische Akkordeonspieler porträtiert. Warum?
Ich mag diese Musik. Ich habe ein ganzes Kartenspiel diesen Bal-Musette-Musikanten gewidmet, aber es verkauft sich schlecht. Nur wenige sind an diesem alten französischen Musikstil interessiert. Selbst in Frankreich kümmert man sich nicht um die eigenen Traditionen.

In den siebziger Jahren haben Sie etliche Plattenhüllen für das US-amerikanische Yazoo-Label gestaltet. Wie wurden Sie zum Coverdesigner?
Der Chef des Yazoo-Labels, Nick Perls, hatte eine enorme Schellacksammlung, und ich habe diese Coverbilder gegen Platten getauscht. Ich wurde mit alten Bluesscheiben entlöhnt. Der Mann war sehr wohlhabend und kaufte alte Bluesplatten von Sammlern. Er hatte die unglaublichste Sammlung, vielleicht die grösste und beste der Welt. Er hatte viele Dubletten. Sie allein wären schon eine grandiose Sammlung gewesen. Die besten der alten Bluesscheiben, die ich habe, stammen aus diesem Regal. Perls war etwas geizig und gab mir nicht gerade viele Platten für meine Arbeit. Aber ich war so gierig, dass mir das egal war. Ich hätte mein letztes Hemd dafür gegeben.

Hatten Sie schon davor Schallplattenhüllen entworfen?
Das erste Cover war für die LP «Cheap Thrills» von Big Brother and the Holding Company mit Janis Joplin. Ich lebte damals in San Francisco. Die Band spielte überall, gehörte zum Grundinventar der Undergroundszene. Ich veröffentlichte meine Comics in der Undergroundpresse. Dort hat die Band sie wohl gesehen und nahm mit mir Kontakt auf. Janis Joplin und Dave Getz, der Schlagzeuger, kamen mich besuchen und sagten, die Leute von Columbia Records hätten ihnen einen Vorschlag fürs Cover gemacht, der ihnen nicht gefiele, und ob ich nicht einen Entwurf machen könnte. Aber sie bräuchten ihn schon morgen. Ich warf etwas Speed ein, arbeitete die ganze Nacht durch. Am nächsten Morgen war das Ding fertig.

«Cheap Thrills» war acht Wochen lang die Nummer eins in den Hitparaden, das meistverkaufte Album des Jahres 1968. Das Cover war eine Sensation. Das muss Ihnen viele lukrative Aufträge eingebracht haben?
Nicht wirklich. Andere Rockbands fragten an, sogar die Rolling Stones, aber ich hatte wirklich kein Interesse, für solche Bands Schallplattenhüllen zu gestalten. Ihre Musik gefiel mir nicht.

Für das Arhoolie-Label entwarfen Sie später eine wunderbare Plattenhülle für ein Album der Gruppe The Klezmorim. Sagte Ihnen Klezmermusik besser zu?
Auf jeden Fall! Ich kannte den Betreiber von Arhoolie Records, besagten Chris Strachwitz, schon länger. Er ist ein noch besessener Sammler als ich. Er sammelt die alte Tex-Mex-Musik vom Rio Grande. Er machte jeden Schellacksammler ausfindig und besuchte ihn, um ihm seine Tex-Mex-Scheiben abzuluchsen. Er kam auch zu mir und gab mir Blues- oder Hillbillyscheiben für meine mexikanischen Platten. So lernte ich ihn kennen. Wahrscheinlich tauschte ich auch das Cover für die Klezmorim-LP für ein paar Schellacks.

Sie traten in den siebziger Jahren als Banjospieler mit der Band Cheap Suit Serenaders an die Öffentlichkeit. Woher kam das Bedürfnis, selber Musik zu machen?
Gewiss nicht von meinen Eltern. Ich wollte immer schon Musik spielen, aber bekam keinerlei Ermutigung. Ich baute mir eine Ukulele aus einer Zigarrenschachtel. Zum zwölften Geburtstag bekam ich dann eine Ukulele aus Plastik mit Spielanleitung (lacht höhnisch). Das war immerhin der Startschuss. Ich spielte für mich alleine, ziemlich isoliert, machte kaum Fortschritte, weil niemand da war, der mir etwas zeigen konnte.

Erst in San Francisco 1967 traf ich ein paar Jungs, die Old Time Music mochten. Ich kaufte mir eine kleine Banjo-Ukulele auf einem Flohmarkt, und wir fingen an, gemeinsam Musik zu machen. Ich spielte mit diesen Burschen schon fast zwei Jahre, als eines Tages einer sagte: «Crumb, es wird Zeit, dass du dir ein richtiges Instrument zulegst.» Er half mir, ein ordentliches Banjo zu erwerben, das ich bis heute noch ab und zu spiele. Zuerst spielten wir nur so zum Spass, dann aber auch in der Öffentlichkeit, wobei wir uns Cheap Suit Serenaders nannten. Wir spielten populäre Musik der zwanziger Jahre, ein paar Noveltytitel, auch Ragtimenummern und Old Time Country Music. In manchen Stücken setzten wir eine singende Säge ein, was sehr gut ankam, wenn wir auf der Strasse spielten. Die singende Säge zog Publikum an. Wir kämpften uns durch ein paar schwierige Ragtimenummern, auf die wir sehr stolz waren, aber kein Schwein blieb stehen. Kaum holten wir die Säge hervor, geschah das Wunder: Schlagartig bildete sich eine Zuhörermenge, und es hagelte Geldstücke.

Sie haben gerade die Schöpfungsgeschichte als Comic illustriert. Weshalb?
Die Schöpfungsgeschichte ist Teil des kollektiven Gedächtnisses der westlichen Hemisphäre, sehr tief in unserem Bewusstsein verankert. Das hat mich fasziniert. Aber die Arbeit schleppte sich hin, es ging nur langsam voran, bis meine Frau auf die Idee kam, mich in ein einsames Häuschen zu verfrachten, wo ich ungestört arbeiten konnte. Sonst wäre das Ding nie fertig geworden. Das war goldrichtig. Ich zog mich also in dieses Haus in den Bergen zurück. Ausser meiner Frau wusste niemand, wo ich war.

Ich verbrachte Wochen dort. Meine Frau brachte mir am Wochenende Essen, füllte den Kühlschrank. Es war himmlisch. Ich konnte mich völlig auf die Arbeit konzentrieren. Ich hatte noch nie eine solche Situation erlebt. Ich bekam einen ziemlich klaren Kopf. Es war wie im Kloster. Ich arbeitete am Schöpfungsgeschichten-Comic, spielte ab und zu ein bisschen Banjo oder Mandoline, malte etwas in mein Notizbuch, las Bücher. Paradiesisch! Ich machte Riesenfortschritte, auch was mein musikalisches Können betraf. Ich mag die Zurückgezogenheit. Ich arbeitete vier Jahre an der Sache. Dann hatte ich von der Bibel wirklich genug. Also malte ich wieder Pornografie!

Woher nehmen Sie die Ideen für die Comics?
Diese Frage ist schwer zu beantworten, weil Ideen aus allen möglichen Quellen kommen – ein sehr komplexer Prozess, der mir am wenigsten klar ist. Ich sauge die Kultur um mich herum auf und verarbeite sie auf meine persönliche Weise in den Cartoons. Es sind meistens die Dinge, mit denen man sich tagtäglich herumschlägt – etwa sexuelle Obsessionen. Als ich noch jung war, versuchte ich Sex aus meinen Geschichten rauszuhalten. Aber diese Fantasien waren sehr zudringlich. Sie klopften Tag für Tag bei mir an. Die Figur «Fritz the Cat» hatte ich schon in meiner Jugend gezeichnet. Es war unsere Hauskatze, die sich dann in eine Comicfigur verwandelte und zunehmend einen eigenen Charakter annahm. In den siebziger Jahren habe ich schlagartig damit aufgehört. Ich habe die Comicfigur getötet, als der Film herauskam. Er war so unsäglich schlecht, dass ich damit nicht mehr arbeiten wollte. Ich bin auch stark von anderen Cartoonfiguren beeinflusst, Figuren aus historischen Comicstrips, die mich beeindruckt haben.

Haben Sie eine bestimmte Arbeitstechnik?
Gelegentlich plane ich eine Geschichte sehr sorgfältig, andere entstehen eher spontan. Normalerweise arbeite ich am Tisch in meinem Zimmer. Als Cartoonist braucht man nicht so viel Platz. Alle meine Arbeitsmaterialien sind hier. Ich benutze seit Jahrzehnten das gleiche Papier. Es ist immer schwerer zu beschaffen, und inzwischen bekomme ich es nur noch in New York. Meine Zeichenfedern sind total antik. Zum Glück habe ich noch eine ganze Schachtel davon, denn die neuen Federn sind Schrott.

Einen Comic arbeite ich oft zuerst mit Bleistift aus, wenn ich keinen Rohentwurf gefertigt habe. Anschliessend wird er mit Tusche farbig gestaltet. Über die Jahre habe ich eine Technik entwickelt, die Schwarzweisszeichnungen zu fotokopieren, damit ich, falls ich einen Fehler mache, nicht ganz von vorne beginnen muss. Wenn früher etwas schiefging, war der ganze Comic versaut.

Woran arbeiten Sie im Moment?
An nichts! Ich komme zu nichts und habe auch nicht mehr den Drive, den ich in jungen Jahren noch hatte. Darüber hinaus ist mein Leben so kompliziert und irrwitzig geworden, seit ich ein bisschen bekannter bin. Das macht mich noch verrückt. In Paris habe ich im Frühjahr eine grosse Ausstellung, und die Leute rufen mich täglich an, fragen nach Details und bitten mich, altes Material zu überarbeiten. Und bin nicht rüpelhaft genug, um zu sagen: «Fuck you!» Ich bemühe mich, nett und hilfreich zu sein. Das treibt mich fast in den Wahnsinn.

CD: McCamy’s Melody Sheiks (feat. Robert Crumb): 
«There’s More Pretty Girls than One». Arhoolie.

Bücher: Robert Crumb: «The Complete Record Cover Collection». 
267 Abbildungen. Verlag W.W. Norton. London, New York 2011. 
96 Seiten, 460 meist farbige Illustrationen. Zirka 24 Franken.

Robert Crumb: «Genesis». Carlsen Verlag. Hamburg 2009. 
228 Seiten. Fr. 40.90.

Robert Crumb

Neben Gary Larson («The Far Side») und Art Spiegelman («Maus») gilt Robert Crumb (*1943) als einer der bekanntesten Cartoonisten der Gegenwart. Berühmt wurde der US-amerikanische Comiczeichner Ende der sechziger Jahre mit «Fritz the Cat», den Abenteuern eines arbeitsscheuen und sexsüchtigen Katers, die 1972 zum Kinohit wurden. Mit dem bärtigen «Mr. Natural» schloss Crumb an diesen Erfolg an.

Unlängst sorgte er mit seiner Cartoonversion der Schöpfungsgeschichte für Beachtung. Heute ist Robert Crumb Kult und wird selbst von der Kunstwelt gefeiert. 2004 widmete ihm das Kölner Museum Ludwig eine Einzelausstellung, und im Herbst 2008 war im Kunstmuseum seiner Geburtsstadt Philadelphia eine Retrospektive seines Gesamtwerks zu sehen.