Europa in der Krise: Die Totengräber der Marktwirtschaft

Nr. 51 –

Wo steht Europa nach drei Jahren Krisenpolitik? Warum streitet Bundeskanzlerin Merkel über die Europäische Zentralbank? Und was hat Marktwirtschaft mit Demokratie zu tun? Eine erklärende Auslegeordnung.

Ein ehemaliger Brüsseler Korrespondent des britischen «Economist» soll einmal gesagt haben, mit EU-Parlamentsabgeordneten rede er nicht. Eitle Schwätzer seien das. Ohne jegliche Macht. Er höre den Regierungschefs der mächtigen Mitgliedsstaaten zu.

Das gilt für die meisten JournalistInnen. Wenn Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel in Brüssel etwas in die Mikrofone redet, wird das von den Medien um den Globus geschleudert. Ohne die parlamentarische Kritik. Die goldene Regel, wonach alle Seiten zu Wort kommen sollten, gilt hier nicht. Und so war es auch, als Merkel am 9. Dezember nach einer langen Verhandlungsnacht zur Schuldenkrise den Durchbruch zur «Stabilitätsunion» verkündete: Einige sündige Mitgliedsstaaten hätten über ihre Verhältnisse gelebt. Doch nun sollen sie zur Disziplin erzogen werden – mittels Schuldenbremse und Sanktionen.

Brüssels Geschichtsschreibung hat ein zentrales Kapitel unter den Teppich gekehrt: Die Finanzkrise 2008. Weltweit standen damals zig Banken vor dem Kollaps. Die EU-Staaten nahmen 4600 Milliarden Euro in die Hand, um ihre Institute zu stützen. Dann sprang der Funke auf die gesamte Wirtschaft über: Den Staaten brachen die Einnahmen weg, die Sozialausgaben stiegen. Seither geraten immer mehr Länder in eine Schuldenspirale: Mit den Schulden steigen die Zinsen – und mit ihnen die Schulden. Und ein Ende ist nicht in Sicht.

In Griechenland stieg die Staatsschuldenquote seit der Finanzkrise von 107 auf 166 Prozent des Bruttoinlandprodukts. In Portugal von 68 auf 106, in Spanien von 36 auf über 67 Prozent. In Irland gar von 25 auf über 109 Prozent.

Die Währungsunion

Brüssel verdrängt auch ein weiteres Kapitel, ein Kapitel, das einen Teil der aktuellen Misere erklärt: Die Einführung des Euro am 1. Januar 1999. Bis dahin konnten schwache Volkswirtschaften wie Griechenland ihre mangelnde Konkurrenzfähigkeit durch eine tiefe Währung kompensieren: Die Drachme machte die griechischen Waren im Ausland billig. Damit war nun Schluss. Und das war im Sinn des neoliberalen Dogmas durchaus gewollt: Die schwachen Staaten sollten zur Wettbewerbsfähigkeit geprügelt werden.

Doch der Schuss ging nach hinten los: Während Deutschland seither Exportüberschüsse verzeichnet, importiert Griechenland ständig mehr, als es ennet seiner Grenze verkauft. Mit Geld, das es sich leiht.

Möglich machte dies unter anderem die gemeinsame Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB). Mit der Währungsunion passten sich die Zinsen einander an. Für Deutschland, dessen Wirtschaft damals schwächelte, waren sie angemessen. Doch für den Süden waren sie zu niedrig. Dazu kam die Deregulierung der Finanzmärkte: Die Banken verteilten Kredite, ohne zu rechnen. In Griechenland griff der Staat zum billigen Geld, die Spanierinnen und Iren pflasterten ihr Land mit Häusern zu, und vielerorts deckten sich die Menschen blind mit Konsumkrediten ein.

2008 platzte die Blase. In den Bankbilanzen rissen Löcher auf, auch wegen fauler US-Papiere. Also eilten die Staaten den Banken zu Hilfe – indem sie sich bei den Banken verschuldeten.

Die Lehre aus all dem ist simpel. Wenn der Euro schwache Volkswirtschaften an die Wand fährt, dann müssen sie von den starken Unterstützung erhalten, fordern ÖkonomInnen. In der Schweiz nennt sich das «Finanzausgleich». In der EU redet man von «Transferunion». Doch das wollen Kanzlerin Merkel und ihre zahlreichen Verbündeten in Brüssel nicht.

Die Einkommensungleichheit

Aber das ist nicht die ganze Geschichte: Was hätte Deutschland getan, wenn kein anderes Land seine Exportüberschüsse gekauft hätte? Hätten sich die Deutschen am Ende nicht auch selbst verschuldet?

Die Ursache der Schuldenkrise liegt nicht (nur) in der Ungleichheit zwischen Staaten. Sondern in der zwischen Menschen – sogenannte Neokeynesianer haben dies in zahlreichen Studien vorgerechnet. Das Problem der zunehmend ungleichen Einkommensverteilung hat die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) im Titel einer eben publizierten Studie auf den Punkt gebracht: «Divided We Stand» – gespalten stehen wir da. Seinen Anfang nahm dieser Trend Ende der siebziger Jahre in Britannien. In den Achtzigern breitete er sich aus. Und ab 2000 erreichte er auch Skandinavien. Und insbesondere Deutschland.

Über die Gründe wird wild gestritten. Die Globalisierung? Der technologische Wandel? Unbestritten ist: Die Entwicklung fällt mit dem Siegeszug des Neoliberalismus zusammen, dem Projekt des ungezügelten Kapitalismus: Wer das Kapital besitzt, befiehlt. Die Deregulierung der Finanzmärkte trieb die Forderung nach immer höheren Renditen an. Gleichzeitig drückten auch die Globalisierung, die Schwächung der Gewerkschaften und die Aushöhlung des Arbeitsrechts immer mehr auf die normalen Löhne – während die Top-Gehälter in den Himmel schossen.

Mit dem Ausbau des Sozialstaats wurde zwar immer mehr umverteilt. Doch OECD-Zahlen zeigen: Kaum ein Staat konnte die wachsende Ungleichheit kompensieren.

Und hier liegt der Kern der Krise: Die breite Nachfrage, auf die das Wirtschaftssystem gründet, brach in den meisten Staaten Schritt für Schritt weg. Zwei Wege gab es, um die mangelnde Binnennachfrage zu kompensieren: Deutschland – dessen Konkurrenzfähigkeit nicht zuletzt auf den niedrigen Löhnen gründet – exportierte ins Ausland, und zwar vor allem in jene Länder, die den zweiten Weg wählten: den Weg, der breiten Masse zu Krediten zu verhelfen. Schliesslich gab es immer mehr Vermögende, die ihr Geld verleihen wollten. Dazu kamen die lockere Geldpolitik und die Deregulierung der Kreditvergabe.

Der hohe Schuldenstand, mit dem einige Staaten in die Finanzkrise geschlittert sind, zeigt zudem: Auch Staaten griffen zum geliehenen Geld. Anstelle ihrer BürgerInnen. Um die Kosten des Sozialstaats zu stemmen. Die Staaten haben über ihre Verhältnisse gelebt, um gleichzeitig Konzerne und Gutbetuchte von ihrer sozialen Verantwortung entbinden zu können: Die Spitzensteuersätze für Private wurden innerhalb der EU seit 1995 von durchschnittlich rund 47 auf 37 Prozent heruntergeschraubt, jene für Unternehmen von 35 auf 23 Prozent. Griechenland regelte das durch die Hintertür. Die Steuern für Reiche blieben konstant. Doch die Beamten trieben sie nicht ein.

Auch ohne Euro wären also in Europa die Schulden gestiegen. Sie hätten sich nur nicht so einseitig auf einzelne Länder konzentriert. Und ja: Auch Deutschland hätte sich wohl verschuldet.

Eine Transferunion ist also tatsächlich nötig. Doch was es braucht, ist ein Transfer von Reich zu Arm – wenn auch über Staatsgrenzen hinweg: Wenn ein deutscher Hartz-IV-Empfänger schimpft, er wolle nicht für eine griechische Steuerhinterzieherin geradestehen, hat er vollkommen recht. Dazu muss das Kapital demokratisiert werden: Etwa durch die Reregulierung der Finanzmärkte, höhere Spitzensteuern, Erbschaftssteuern und die Stärkung und Mitsprache der ArbeiterInnen und Angestellten.

Sonst hat das Zeitalter der Überschuldung erst begonnen.

Kapitalismus und Demokratie

Das Kapital demokratisieren heisst nicht die Marktwirtschaft abschaffen. Im Gegenteil. Vielmehr hat der entfesselte Kapitalismus zu einer Kapitalkonzentration geführt, die die Marktwirtschaft zu erdrücken droht. Den Beweis liefern die Bankenrettungsaktionen: Die Staaten luden sich die Schulden der Privaten auf die Schultern – und verletzten damit ein zentrales marktwirtschaftliches Prinzip: Wer einen Kredit vergibt, trägt das Risiko (dafür erhält er auch einen entsprechenden Zins). Doch die Banken waren «too big to fail», zu gross, um fallen gelassen zu werden.

Die private Vermögenskonzentration oben, die zunehmend auch auf den Schulden der BürgerInnen basiert, hebelt jedoch nicht nur zunehmend die Marktwirtschaft aus. Sondern auch die Demokratie: Europa ist auf dem Weg in einen autoritären Kapitalismus. Derzeit regieren die Banken mit ihren Zinsen.

Dieses Diktat wäre zu brechen. Kurzfristig, indem die EZB den Not leidenden Staaten die Schuldpapiere zu niedrigen Zinsen abkauft, wie Frankreich dies vorgeschlagen hatte. Oder indem Brüssel dem Rettungsschirm EFSF eine Banklizenz erteilt, sodass dieser Geld von der EZB den Staaten weiterverleihen könnte. Ein Staatsbankrott würde damit unmöglich. Und die (Risiko-)Zinsen, die die Banken verlangen, sänken. Dann könnte ein Teil der Staatsschulden, die die Vermögen Privater sind, gestrichen werden, ohne durch höhere Zinsen bestraft zu werden. Bereits jetzt möglich wäre es, Vermögen wieder höher zu besteuern, um damit die Schulden zu tilgen.

Doch Kanzlerin Merkel wie die grosse Mehrheit der europäischen Elite haben klargemacht: Sie wollen das nicht. Marktwirtschaft? Demokratie? Egal. Die Banken sollen die Staaten disziplinieren. Und Merkel will ihnen dabei helfen. Von Brüssel aus, denn dort redet ihr kein Parlament rein. Europas BürgerInnen sollen die Schuldenlöcher irgendwie füllen: Staatsstellen sollen privatisiert werden, Stellen gestrichen, Renten und Löhne gekürzt.

In der Krise wird die Umverteilung nach oben weiter forciert. Während der Kontinent tiefer in den Abgrund schlittert.