Wie es war, wie es wird: Das Rating und die kleinen Siege

Nr. 51 –

Sagen wir mal: AA. So für die Welt als Ganzes im sich dem Ende zuneigenden Jahr. Rating AA heisst im Finanzjargon: Das Ausfallrisiko, die Gefahr der Pleite, ist zwar vorhanden, aber (noch) einigermassen gering – und für die Welt als Ganzes im übertragenen Sinn: Noch sind wir nicht erledigt, gibt es doch Entwicklungen, die uns einigermassen hoffnungsvoll stimmen. Soziale Aufstände in der arabischen Welt führen dazu, dass die vom Westen gestützten Despoten fallen und die Welt merkt, dass die arabischen Länder in erster Linie nicht von bösen Islamisten bevölkert sind, sondern von einer äusserst heterogenen Gesellschaft. Die USA stecken bis zum Hals in der Schuldenkrise, ein Land am Mittelmeer schlittert in die Pleite, reisst halb Europa mit in den Abgrund, und Menschen rund um den Globus merken, dass seit geraumer Zeit allzu vieles im globalen Banken- und Kreditwesen im Argen liegt. Sie stellen Zelte auf und protestieren. Und die Katastrophe in Japan bewirkt, dass sich wenigstens die Schweiz, wenigstens Deutschland endlich zum längst überfälligen Atomausstieg durchringen.

So einiges ist ins Rollen geraten. Doch wohin es rollt, bleibt diffus. Auf dem Tahrir-Platz in Kairo gibt es ein Jahr nach der «Revolution» erneut Tote. Was die Politik in den Euro-Ländern genau tut, weiss niemand so richtig. Oder man sieht, dass sie das Falsche tut, nämlich maroden Volkswirtschaften durch aufgezwungene Sparpakete den Todesstoss versetzen. Die arabischen Revolutionen drohen mancherorts in militärdiktatorische Übergangsregierungen zu münden, die Occupy-Bewegung ist an ihrer basisdemokratischen Offenheit erlahmt, die allzu viele Wirrköpfe teilhaben liess. – Der Aufbruch droht zu ersticken. An Interessen, Macht, Geld. Daran, dass die Welt diversifiziert ist, die Sache komplex und das Feindbild diffus. Besinnen wir uns also auf die kleinen Siege.

Zum Beispiel in der Schweiz: Der Atomausstieg ist, wenn nicht betoniert, so zumindest gefestigt. Die Wahlen zeigten eines: «Schweizer» wählen nur bedingt SVP, und wenn wir auch keine Mitte-links-Regierung, kein Mitte-links-Parlament haben (vgl. Seite 4), so machen die Resultate wenigstens deutlich, dass die selbst ernannte Volkspartei nicht in der Lage ist, weitere WählerInnenschichten mit ihrer monothematischen Hetze zu überzeugen – trotz zugekleisterter Plakatwände, trotz der dicken Brieftasche Christoph Blochers. Die «stärkste Partei der Schweiz» ist zerstritten, gespalten und zieht landauf, landab Hohn und Spott auf sich.

Halten wir weiter fest, dass Widerstand möglich ist. Ja, die Zelte der Occupy-Bewegung sind weitgehend abgebrochen. Ja, der Protest hat seine Kraft verloren. Aber immerhin, er war da, präsent. Ein Unbehagen hat sich Luft verschafft, es steht weiterhin im Raum und lässt sich nicht mehr länger ohne Weiteres ignorieren. Nun beginnt die Arbeit.

Ältere Leute sagen oft: «Heute möchte ich nicht mehr jung sein.» Die älteren Leute sagen: «Früher war es leichter.» Und sie haben recht: Ein AJZ ist einfacher zu haben als die Befreiung vom permanenten Leistungsdruck bei enger werdenden Perspektiven, wie junge Menschen ihn heute erleben. Für die Gleichstellung von Homo- und Heterosexuellen kämpft man gegen das Gesetz. Doch wie bekämpft man ein globales Finanzsystem? An der ersten Occupy-Paradeplatz-Veranstaltung gab es ein Schild, auf dem stand: «Wir wollen nicht ein Stück vom Kuchen, wir wollen die ganze Bäckerei.» Doch mit der Bäckerei ist es so eine Sache. Denn man kriegt sie nicht einfach so, wenn man sie fordert. Man muss jeden Teigschaber, jede Kuchenform einzeln ergattern.

So gesehen ist das Rating AA für die Welt als Ganzes zu optimistisch. Downgraden wir auf A+. Und bleiben wir dran. Nicht nur an der generellen Kritik, sondern vor allem an den einzelnen Forderungen. Es ist einiges ins Rollen geraten. Schubsen wir es, damit es weiterrollt, dorthin, wo es soll. Egal, ob wir Plakate weiss übermalen, Tomaten auf der Dachterrasse pflanzen oder Vorstösse für bezahlbaren Wohnraum einreichen. Erringen wir die kleinen Siege. Und verlieren dabei die Bäckerei nicht aus den Augen.