Die Kreuzfahrtindustrie: Eine Titanic auf Italienreise

Nr. 3 –

Ein Paar steht an der Reling eines Kreuzfahrtschiffs. «Wow», sagt der Mann, «das ist doch viel besser als letztes Jahr.» Dann blendet das Video zurück: Es zeigt dasselbe Paar völlig verängstigt im Auto auf einem einsamen Campingplatz. Rechts haut ein Bär seine Pranken auf die Kühlerhaube, links faucht ein Löwe. «Nie wieder», sagt die Frau später auf dem Schiff und beisst in eine Erdbeere. «Wie wärs mit einem Szenenwechsel?», heisst es am Ende des Werbespots: «Geniessen Sie eine Carnival-Kreuzfahrt, und haben Sie mehr Spass.»

Die PR-Verantwortlichen der Carnival Corporation (Hauptsitz: Miami, USA) haben das Werbevideo wahrscheinlich für ziemlich lustig befunden, jedenfalls wird es seit vier Wochen in den USA ausgestrahlt. Dass der Spot auch in Europa gesendet wird, ist seit vergangenem Freitag jedoch unwahrscheinlich. Denn als besonders spassig haben die PassagierInnen ihre Kreuzfahrt auf der «Costa Concordia» nicht erlebt. Sie bekamen es zwar nicht mit einem Bären und einem Löwen zu tun, aber mit einem waghalsigen (und offenbar auch feigen) Kapitän, mit einem kleinen Felsen vor der toskanischen Küste und mit einer völlig überforderten Crew.

Die «Costa Concordia» gehört der italienischen Reederei Costa Crociere, einer Tochtergesellschaft des Carnival-Konzerns, dem weltweit grössten Anbieter von Kreuzfahrten. Er kontrolliert über fünfzig Prozent des hoch profitablen und boomenden Markts mit 21 Millionen KonsumentInnen.

Hauptursache der Havarie, die mindestens elf, womöglich aber bis zu dreissig Menschenleben forderte, war auf den ersten Blick menschliches Versagen. Aber warum hat die Crew derart kopflos agiert? Und warum kippt so ein Schiff einfach um? «Für uns kam das nicht überraschend, wir wundern uns eher, dass so was nicht schon früher passiert ist», sagt Andrew Linington von der Gewerkschaft Nautilus International, die in Britannien, den Niederlanden und der Schweiz Kapitäne, Deckoffiziere, Lotsinnen und Hafenmeister vertritt. «Die Kreuzfahrtschiffe werden immer grösser, es sind mittlerweile schwimmende Wolkenkratzer. Das macht sie instabil.» Die «Costa Concordia» zum Beispiel hatte die Dimensionen eines Flugzeugträgers. Sie war fast 300 Meter lang, mit ihren dreizehn Stockwerken 54 Meter hoch und hatte einen Tiefgang von gerade mal 8 Metern.

«Weil immer mehr zahlende Gäste untergebracht werden sollen und es den Reedereien vor allem um die Rendite geht, haben sie einfach das Design, die Architektur kleinerer Schiffe übernommen und hochgerechnet», sagt Andrew Linington. Mit Profitmaximierung habe auch der geringe Tiefgang zu tun, erläutert er: «Das spart die Landungsboote für kleinere Häfen.»

Dabei gehört die 2006 gebaute «Costa Concordia» nicht zu den ganz grossen Kreuzfahrtschiffen. Sie konnte bis zu 4200 PassagierInnen aufnehmen, denen rund 1000 Köche, Putzfrauen, Matrosen und Zimmermädchen zu dienen hatten. Die neueren Kreuzfahrtschiffe haben hingegen eine Kapazität von über 6000 Fahrgästen mit einer 1800-köpfigen Crew. Und die ist, wie die Internationale Transportarbeiter-Föderation (ITF, der gewerkschaftliche Dachverband im Verkehrsbereich) seit langem kritisiert, miserabel bezahlt. Die meist in armen Ländern rekrutierten Beschäftigten arbeiten sieben Tage in der Woche, schuften mindestens zwölf Stunden pro Schicht – und sind oft schlecht ausgebildet. Auch Sicherheitstrainings kosten Geld. Kein Wunder, dass die «Costa Concordia»-Crew nicht wusste, was zu tun ist.

Pünktlich zum Untergang der «Titanic» vor hundert Jahren hat die renditeorientierte und technikbesessene Konsumgesellschaft in ihrem Machbarkeitswahn eine neue Havarie produziert. Zwei Jahre nach der Eisbergkollision des «unsinkbaren» Luxusdampfers vereinbarte die Schifffahrtsindustrie immerhin internationale Mindeststandards in Sachen Sicherheit, Bauweise und Ausrüstung der Schiffe. Vielleicht kommt ja jetzt eine neue Konvention, die endlich auch die Interessen der Crewmitglieder berücksichtigt. Bis dahin aber machen wir lieber Campingferien. Die Chancen, dass wir dabei gleichzeitig einem Bären und einem Löwen begegnen, sind ohnehin minimal – sogar in den USA.