«Hate Radio»: «Das Böse gibt sich locker, humorvoll, cool»

Nr. 3 –

Milo Rau lässt in einer Ausstellung und auf der Bühne die Radiostation RTLM wieder auf Sendung gehen, die Propagandazentrale des Genozids in Ruanda im Jahr 1994. Nun ist «Hate Radio» auch in der Schweiz zu sehen.

Im Juni 1994 waren die RuanderInnen Valérie Bemeriki und Kantano Habimana und der Exil-belgier Georges Ruggiu auf dem Höhepunkt ihrer Karrieren angelangt. Sie waren es, die mit ihren Stimmen, Mordaufrufen und ihrer Musik den «Soundtrack» zu einem Genozid lieferten, in dem in drei Monaten schätzungsweise eine Million Angehörige der Tutsi-Minderheit und Tausende gemässigter Hutu ermordet wurden.

So wahnsinnig fremdartig, wie man sie sich aus mitteleuropäischer Sicht gerne vorstellen würde, um sich vom masslosen Zynismus einigermassen distanzieren zu können, verhielten sich die drei ModeratorInnen des ruandischen Radiosenders RTLM (Radio-Télévision Libre des Mille Collines) nicht. Selbst dann nicht, wenn sie, nachdem sie gerade «Rape me» von Nirvana ausklingen liessen, weitere Namen von abgeschlachteten Feinden verlasen, um wenig später zu Hip-Hop-Rhythmen zu weiteren Morden aufzurufen.

Die Definition der Tutsi und der Hutu als zwei unterschiedliche «Rassen» war eine Erfindung der deutschen und der belgischen Kolonialmacht. Um nicht einen eigenen Verwaltungsapparat aufbauen zu müssen, versuchten sie, das Volk indirekt zu regieren, indem sie zunächst die herrschende Elite der Tutsi unterstützten. Im ausgehenden 19. Jahrhundert sortierten deutsche «Rassenforscher» die Gesellschaft in «Stämme»: auf der einen Seite die Minderheit der Tutsi, eine in ihren Augen «hochwüchsige, hellhäutige und blaublütige Rasse», auf der anderen die Mehrheit der bäuerlichen und in den Augen der Rassisten «untersetzten, negroiden und servilen» Hutu. Zementiert wurde die Klassifizierung 1934/35, als die belgische Kolonialmacht die jeweilige Zugehörigkeit unter anderem anhand der Anzahl der Rinder definierte, die jemand besass, und ethnisch gekennzeichnete Pässe einführte.

Über eine halbe Million Messer

Mit der Revolution 1959 und der Unabhängigkeit 1962 kam es zur Umkehrung: Nun herrschten die Hutu über die Tutsi. Der Hass der Hutu auf ihre einstigen Unterdrücker steigerte sich im Lauf der Jahre. Anfang der neunziger Jahre, als es zu Versorgungsengpässen kam, fehlte nur noch ein Fanal, um das Ganze auf die Spitze zu treiben: Es ereignete sich am 6. April 1994, als das Flugzeug des ruandischen Präsidenten Juvénal Habyarimana beim Anflug auf die Hauptstadt Kigali von zwei Raketen getroffen wurde. Umgehend begann das Militär, Handgranaten zu verteilen. Bereits in den Jahren zuvor hatte die Regierung – trotz des Waffenstillstands, den ihr westliche Geberländer abgetrotzt hatten – über eine halbe Million Messer importiert und Jugendliche in Gangs organisiert.

Als Propagandamaschine für den Völkermord diente ab dem Spätsommer 1993 der Radiosender RTLM. Dessen Studio und die drei ModeratorInnen stehen im Zentrum des Projekts «Hate Radio» des Autors und Regisseurs Milo Rau und seines International Institute of Political Murder. Wie schon in seinem Projekt «Die letzten Tage der Ceausescus» handelt es sich um ein «Reenactment», das möglichst genaue Nachspielen einer historischen Situation. Rau und MitarbeiterInnen haben dazu unzählige Interviews mit überlebenden Hörerinnen, Journalisten, «einfachen Tätern», Soldaten und Angehörigen der damaligen Regierung geführt.

In einem Gefängnis in Kigali kam es zur Begegnung mit der ehemaligen Moderatorin Valérie Bemeriki, die eine lebenslängliche Strafe absitzt. Aufgrund ihrer Beschreibungen haben Rau und MitarbeiterInnen das Studio originalgetreu nachgebaut. Weiteres Anschauungsmaterial lieferten Ton- und Videoaufnahmen sowie Transkripte des International Criminal Tribunal for Rwanda.

In der Ausstellung (wie auch für die Stückfassung) hat Rau die ZeugInnenaussagen sowie Erzählungen der Opfer und der ModeratorInnen in einer Videoinstallation verdichtet, die auf die Studiowände projiziert wird. Das Studio selbst ist während der Ausstellung und der Aufführungen live auf Sendung – die ZuhörerInnen werden über Kopfhörer ZeugInnen, wie die ModeratorInnen (gespielt von den ruandischen SchauspielerInnen Dorcy Rugamba, Nancy Nkusi, Afazali Dewaele und dem Franzosen Sébastien Foucault) zum Massenmord aufrufen.

Bei aller Detailtreue ging es Rau weniger um dokumentarische Genauigkeit als um die «Beschwörung einer Atmosphäre». Die Sendung – ein Kondensat aus unzähligen Transkripten – spielt gegen Ende des Genozids, als die Hysterie auf dem Höhepunkt war. Für Rau bilden diese Stimmen, Songs, Nachrichten und Anrufe nicht nur den «Soundtrack einer sich selbst zerstörenden Menschheit», sondern auch ein «Porträt der 1990er-Jahre» – auf RTLM lief teilweise die gleiche Musik wie in Europa. Entsprechend intensiv hat sich Rau während der Inszenierung auch mit der Zeit der frühen neunziger Jahre beschäftigt, mit diesem «seltsam leeren ‹Alles ist möglich› kurz nach dem Ende des Kalten Kriegs, das in Afrika so entscheidend war wie in Europa, mit diesem No-Future-Gefühl einer Generation X, für die plötzlich alles machbar und nichts notwendig war».

WOZ: Milo Rau, Sie inszenieren das RTLM als zeitgeistigen Ausdruck einer ganzen Generation von jungen Menschen in der sich globalisierenden Welt der frühen neunziger Jahre. Wie hat sich Ihr eigenes Verhalten als Radiohörer aufgrund Ihrer Auseinandersetzung mit dem ruandischen Sender verändert?
Milo Rau: Zunächst ist mir klar geworden, dass das Medium Radio gefährlicher als Fernsehen ist, da es viel unmittelbarer in den Alltag einfliesst. Hinzu kommt: Radio ist weniger kulturspezifisch, globalisierter als Fernsehen. Ein Mitteleuropäer, der kein Französisch versteht, würde aufgrund der Ästhetik des Senders wohl auf einen alternativen Piratensender tippen. Die Moderatoren gefallen sich in ihrer antikolonialistischen Haltung, Bemeriki trägt ein Nelson-Mandela-Shirt, Ruggiu bezieht sich in Kommentaren immer wieder auf die Résistance, Tutsi werden mit Nazis gleichgesetzt. Beim RTLM verbindet sich rassistische Ideologie mit alternativem Mainstream, das Böse gibt sich locker, humorvoll, cool. Da ist nichts von den hölzernen Parolen, die man für gewöhnlich mit Rassismus assoziiert, da ist die ganze Lockerheit, die wir in Europa von der Neuen Rechten kennen. Ja, wir erleben hier den Lifestyle eines postmodernen Genozids in voller Entfaltung.

Die ruandische Erinnerungspolitik unter Präsident Paul Kagame ist stark ritualisiert und beschränkt sich im Wesentlichen auf eine jährliche Gedenkwoche im April. Wie war es möglich, das Stück im Genocide Memorial Centre in Kigali und sogar im ehemaligen Studio des RTLM aufzuführen?
Wir haben von Anfang an mit Betroffenen, ruandischen Künstlern und Regierungsstellen zusammengearbeitet und uns mehr als eineinhalb Jahre Zeit für Recherchen und die Projektentwicklung genommen. Die Tradition des politischen Theaters in Ruanda ist noch sehr jung – entsprechend nervös waren wir vor den Aufführungen in Kigali. Offenbar ist die Zeit aber reif geworden für eine Auseinandersetzung mit der eigentlichen Realität dieses Genozids. Zur Erinnerung: In Deutschland wurde das erste Stück, das sich ohne jede Überhöhung oder Distanzierung mit den Massenmorden in den Konzentrationslagern auseinandersetzte, Peter Weiss’ Auschwitz-Protokoll «Die Ermittlung», erstmals 1962 aufgeführt, also wie «Hate Radio» siebzehn Jahre nach den Ereignissen.

Wäre es nicht auch wichtig, den Blick auf die Rolle europäischer Staaten zu richten – oder zumindest auf die Unterstützung der Schweiz beim Aufbau Ruandas und seiner mörderischen Infrastruktur?
Wir verzichteten bewusst darauf, den Genozid in politische Zusatzerklärungen einzuordnen, wobei diese natürlich in jedem im Studio gesprochenen Wort, in jeder Zeugenaussage explizit mitschwingen. Aber «Hate Radio» ist kein Lehrstück, es ist auch kein postkoloniales Selbstbespiegelungsstück. Es ging uns darum, dem Zuschauer durch die schiere Realität der Aufführung jede Distanzierungsmöglichkeit zu nehmen, diesen europäischen, letztlich exotisierenden Aussenblick zu vermeiden – was an der Verstricktheit Europas in den Verlauf des Genozids natürlich nichts ändert.

Inwieweit hat sich dadurch Ihre Sicht auf Europa verändert?
Sicher in Bezug auf unsere fixe europäische Idee der «Demokratie». Der Genozid in Ruanda geschah ja nicht während der Diktatur, sondern erst nach der demokratischen Öffnung des Landes. Erst durch die Beschäftigung mit dem ruandischen Genozid habe ich diese dunkle Seite der Demokratie genauer untersucht: ihre Anfälligkeit für Pogrome, das mögliche Verhängnis dieser ja im Kern sehr positiven Vorstellung einer «Herrschaft der Mehrheit». Erst dadurch konnte ich erkennen, wie fragwürdig der Demokratiebegriff auch in einem Land wie der Schweiz ist, wo Menschen ohne entsprechenden Pass allein aufgrund ihrer Herkunft kein politisches Mitbestimmungsrecht haben. Daraus ist letztes Jahr auch das umstrittene St. Galler Projekt «City of Change» entstanden. Neben der Einführung des Ausländerstimmrechts ging es mir dort darum zu zeigen, wie aus einer Herrschaft der Bevölkerung die Herrschaft eines bestimmten «Volkes» werden kann – inklusive landesweiter rassistischer Hetzkampagnen.

«Volksfestartiges Spektakel»

Die Mörder in Ruanda waren vor allem fünfzehn- bis dreissigjährige Männer. «Leichtsinnigkeit und Todesverachtung, aber auch Autoritätsgläubigkeit und Gruppenzwang», so Rau, «diese typische Psychopathologie männlich dominierter Jugendkulturen war prägend für die Gestalt des ruandischen Genozids.»

Im Gegensatz zur «Banalität des Bösen», die die Philosophin Hannah Arendt bei technokratischen Befehlshabern in totalitären Staaten ausmachte, sieht Rau im ruandischen Völkermord die grausamen Züge eines «volksfestartigen Spektakels». Der Schauspieler Dorcy Rugamba, der im Genozid fast seine gesamte Familie verloren hat, bringt das im Programmheft auf den Punkt, wenn er sagt: «Meine Grosseltern haben für die Unabhängigkeit gekämpft, meine Eltern Ruanda aufgebaut – für meine Generation war das einzige Projekt der Genozid.»

Auf einem Foto aus seiner Unizeit sieht er lachend alle versammelt: die, die wenige Wochen später zu Gejagten wurden, und die, die sie getötet haben. Der ruandische Völkermord war ein Genozid der Nähe und Nachbarschaft, nicht der Ferne und der Deportation: Die ModeratorInnen sprachen mit ihren Opfern, bevor sie ihre Mörder zu ihnen schickten.

Aufgrund eines Krankheitsfalls entfallen im Migros-Museum in Zürich die Liveperformances von «Hate Radio» und werden durch eine permanente Videoinstallation ersetzt. Die Ausstellung wird von einem umfangreichen Abendprogramm begleitet (unter anderem mit Elisabeth Bronfen, Carolin Emcke, Sylvia Sasse und Stefan Zweifel). Ab Februar wird «Hate Radio» wieder regulär gespielt.

«Hate Radio» in: Zürich, Migros Museum für Gegenwartskunst, Mi, 25., und Fr, 27. Januar, 12–21 Uhr, Do, 26. Januar, 12–20 Uhr, 
Sa/So, 28./29. Januar, 11–21 Uhr (Ausstellung); 
Luzern, Südpol, Do/Fr, 2./3. Februar, 20 Uhr; Basel Kaserne, Do–Sa, 19.–21. April, 20 Uhr; 
Bern Schlachthaus Theater, Mi, 25., 
Fr–So, 27.–29. April, 20 Uhr (Aufführungen).

Im April erscheint im Berliner Verbrecher-
Verlag die Publikation «Hate Radio» mit dem 
Stücktext sowie Beiträgen von Milo Rau, Diedrich Diederichsen, Dorcy Rugamba, Mark Terkessidis, Assumpta Mugiraneza und anderen.

www.migrosmuseum.chwww.international-institute.de