Roma in der Tschechischen Republik: «Möchten Sie mein schwarzes Gesicht?»

Nr. 3 –

In Nordböhmen sind in den letzten zwanzig Jahren mehrere Romaghettos entstanden. Das Leben dort ist geprägt von hoher Arbeitslosigkeit und Armut. Die tschechische Mehrheitsgesellschaft grenzt die Romaminderheit systematisch aus und diskriminiert sie. Allerdings gibt es auch Zeichen der Hoffnung.

  • Verbaute Zukunft: Wer kann, verlässt die Siedlung Janov am Rand der nordböhmischen Stadt Litvinov. Das Leben im hauptsächlich von Roma bewohnten Quartier bietet kaum Perspektiven.
  • Vier Generationen in einer Küche: Klara Snabova (links) mit Tochter Vondulka, Sohn Dominik, Mutter Klara und Grossmutter Marie Pulkova.
  • Eva Bartusova hat in Britannien vergeblich eine Arbeitsstelle gesucht, war aber trotzdem glücklich dort. Ihre Söhne Adam, Kaja und Radek (im Hintergrund) träumen von der englischen Fussballprofiliga.
  • Janov: Das Spielcasino darf nicht fehlen.
  • Lom: Radek Bartus zeigt stolz seinen Ohrclip.
  • Usti nad Labem: Gabriela Balogova spricht fliessend Französisch und findet keinen Job.

«Most» heisst auf Deutsch «Brücke». Im Zentrum der nordböhmischen Stadt Most mit ihren 70 000  EinwohnerInnen sagt eine ältere Passantin, es sei eine Mär, dass es den Roma in der Tschechischen Republik so schlecht gehe: «Stellen Sie sich vor, die Zigeuner können es sich leisten, mit dem Taxi aus Chanov zu uns zu kommen.» – «Ja, und wer bezahlt den arbeitslosen und kriminellen Schwarzen diesen Spass? Der Staat!», ruft ihr Begleiter, mit den Armen rudernd.

Als ich meinen tschechischen Verwandten und Bekannten erzählte, ich möchte einige Tage in Romaghettos wie Chanov verbringen – einer Plattenbausiedlung am Stadtrand von Most –, schauten sie mich entgeistert an. «Du gehst wirklich freiwillig da hin?», fragten sie. «Ich hoffe, du bist bewaffnet», sagten sie und meinten es ernst. «Die sind einfach nicht anpassungsfähig. Der Staat hat ihnen Häuser gegeben, und was haben die getan? Die Holzböden rausgerissen und damit Feuer gemacht», erzählte man mir immer wieder. Und Witze, von denen dieser noch der harmloseste war: «Kommt ein Zigeuner zum Arbeitsamt und sagt, er hätte gerne einen Job. Daraufhin holt der Beamte einen Ordner aus dem Regal und beginnt zu blättern. ‹So, hier haben wir etwas für Sie. Sie werden Direktor einer Bank. Zusätzlich erhalten sie zwei Sekretärinnen, drei Dienstwagen und eine Villa in Prag.› – ‹Herr Beamter, Sie machen wohl Witze!› – ‹Ja, klar, aber Sie haben damit angefangen.›»

Niemand war jemals in Chanov, niemand kennt einen Rom oder eine Romni persönlich, und doch sprechen alle über sie: Roma sind überall präsent, ohne anwesend zu sein.

Satellitenschüsseln kleben an den unverputzten Aussenwänden der vier- bis zehnstöckigen Betonklötze. Vierzehn Plattenbauten sind es insgesamt. Zwei davon sind noch immer nicht fertiggestellt, andere wiederum schon so heruntergekommen, dass ganze Stockwerke leer stehen. 1500 Menschen leben in Chanov – eingepfercht zwischen Autobahn, Eisenbahnschienen und Brachland. Weit über neunzig Prozent sind Roma.

Die Jobs und die TschechInnen verschwanden

«Als ich in den siebziger Jahren in den neu entstandenen Stadtteil gekommen bin, war Chanov eine gemischte Siedlung – eine Schlafstadt für die Arbeiter in den Kohlenminen und der Chemieindustrie», sagt Zdenka Cinova und giesst türkischen Kaffee ein. Die klein gewachsene, etwa fünfzigjährige Frau arbeitet im Gemeindezentrum, einem Flachbau inmitten der Betonklötze. Cinova fährt regelmässig mit dem Taxi in die Innenstadt. Nach Chanov fährt nur eine einzige Buslinie, die beim Bahnhof endet. Das Stadtzentrum ist eine halbe Stunde Fussmarsch entfernt. Ein Busticket ist nur für eine Fahrt gültig. Sobald sich vier BewohnerInnen in Chanov zusammenfinden, die ins Stadtzentrum wollen, lohnt sich eine Taxifahrt. «Aber die Menschen sehen nur das, was sie wollen», sagt Cinova. «Die Kluft zwischen der tschechischen Mehrheitsgesellschaft und der Romaminderheit wird immer grösser.»

Cinova war in den siebziger Jahren mit ihrer Familie aus der Ostslowakei nach Most gekommen – wegen der Arbeit. Nach der Wende 1989 seien erst die Jobs und dann auch die TschechInnen aus der Siedlung verschwunden, sagt sie. «Gekommen sind dafür noch mehr Roma aus der Ostslowakei und die Arbeitslosigkeit.» Chanov ist kein Einzelfall. Im Gegenteil. Besonders in Nordböhmen und -mähren entstehen immer mehr Siedlungen, in denen fast ausschliesslich Roma leben, die man abschätzig als «Zigeuner» oder «Schwarze» bezeichnet. Längst hat sich der Begriff «Romaghetto» durchgesetzt. Und wie in Most liegen diese Ghettos an den Stadträndern, fernab der herausgeputzten und renovierten Zentren.

«Sie hätten vor zehn Jahren hierherkommen sollen! Da sah es in Chanov aus wie in einem Kriegsgebiet», sagt Cinova. Das Gemeindezentrum sei eine Ruine gewesen. «Es gab keine Fenster, keine Sanitäranlagen, kein Licht, keine Heizungen, kein gar nichts.» Mittlerweile gibt es mehrere Schulungsräume und einen grossen Saal für 150 Personen. «Dort feiern wir unsere Feste: Hochzeiten, Geburtstage, Beerdigungen oder auch mal eine Rückkehr aus dem Gefängnis. Vor allem aber trainieren unsere Mädchen traditionelle Tänze.» Stolz zeigt Cinova eine Fotografie, auf der ihre beiden Enkelinnen abgebildet sind, die an der letzten Meisterschaft in Prag mit ihrer Tanzgruppe sehr erfolgreich waren.

«Erfolgsgeschichten sind hier nicht gerade häufig», sagt Martin Nebesar. Der ehemalige Buchdrucker und Verleger hat sein Büro am gegenüberliegenden Ende des Gemeindehauses. Er ist einer der wenigen Nichtroma in Chanov. 2002 hat Nebesar das Gebäude für den symbolischen Preis von einer tschechischen Krone von der Stadtverwaltung gemietet und es dank der finanziellen Unterstützung des Europäischen Sozialfonds renoviert.

Während Cinova und ihr Team als Beratungsstelle fungieren und ein Freizeitprogramm gestalten, kümmert sich Nebesar in Zusammenarbeit mit dem städtischen Arbeitsamt vor allem um die Arbeitsbeschaffung. «Die offizielle Arbeitslosenquote in Chanov liegt bei annähernd neunzig Prozent», sagt er. In Tat und Wahrheit sei sie aber geringer. Wegen der Schwarzarbeit. «Im Sommer und Herbst holen die Baufirmen und Landwirtschaftsbetriebe ganze Lastwagenladungen von billigen Arbeitern hier ab.» Die Schwarzarbeit sei beliebt. Praktisch jeder hier habe Schulden – wegen Stromkosten, offener Telefonrechnungen oder Spielschulden. Und weil so viele Wasserrechnungen nicht beglichen sind, liefern die zuständigen Werke kein heisses Wasser in die Haushalte von Chanov. Viele benutzen ihre Waschmaschinen, um das Wasser zu erwärmen, oder holen es sich aus den Heizungen, was den Wasserverbrauch massiv erhöht. «Würden sie legal arbeiten, müssten sie sogleich einen Grossteil des Lohns zum Schuldenabbau wieder abgeben. So erhalten sie ihren Lohn täglich bar auf die Hand», sagt Martin Nebesar. Und wie sieht es bei einem Arbeitsunfall aus? Er zuckt mit den Schultern: «Dann haben sie Pech gehabt.»

Nebesar will in Chanov vorab Jugendlichen eine Perspektive bieten. «Wächst ein junger Mensch in einem Umfeld auf, in dem Arbeitslosigkeit und der Bezug von Sozialhilfe seit zwanzig Jahren die Normalität sind, kann das nicht gut sein. Woher soll er sich Vorbilder für seine eigene Berufslaufbahn holen?», fragt er. Wichtige Impulse erhofft er sich vom polyfunktionalen Zentrum, das nebenan entsteht. Momentan arbeiten vor allem in Chanov rekrutierte Bauarbeiter fieberhaft an der Renovierung des Gebäudes, das bis 1990 ein Gemischtwarenladen, seither aber verlassen war. Nun entstehen in den Räumen, die bisher als Autoabstellplatz und von Kindern zum Versteckenspielen benutzt wurden, Werkstätten sowie eine Übungsküche, mehrere Musikräume und ein Fitnessstudio. «Die Hoffnung auf grosse Schritte habe ich verloren, man kommt aber auch mit vielen kleinen Schritten vorwärts. Es ist halt mühsamer», sagt Martin Nebesar.

Spielcasinos in Ghettonähe

Noch ist Chanov in seiner Grössenordnung ein Unikum in der Tschechischen Republik. Doch die Segregation ist weit fortgeschritten. Ein Motor dieser Entwicklung ist die Immobilienbranche. Befand sich dieser Sektor während des Realsozialismus ganz in staatlicher Hand, setzte nach der Wende eine ungehemmte Privatisierungswelle ein. Wohnraum, besonders in den Städten, ist zum lukrativen Spekulations- und Investitionsobjekt geworden. Der Markt hat unzählige Roma in den letzten zwanzig Jahren aus den Zentren und attraktiven Wohngegenden verdrängt. Zuweilen haben auch ImmobilienmaklerInnen nachgeholfen und ein Handgeld bezahlt, um Roma aus den Wohnungen zu locken. Gleichzeitig kauften die Immobilienfirmen einzelnen Städten in Nordböhmen und -mähren ganze Siedlungen ab, in die sie die Romafamilien umquartierten. Die klammen Kommunen waren froh über den Geldzufluss.

Die Segregation hat aber nicht nur politische und ökonomische Ursachen, sondern auch gesellschaftliche: Eine offizielle Statistik besagt, dass drei Viertel der tschechischen Mehrheitsgesellschaft keine Roma als Nachbarn möchten.

Und viele profitieren von dieser Entwicklung: Immobilienfirmen, die hohe Mietzinsen ansetzen und so den Sozialstaat schröpfen, oder LokalpolitikerInnen, die für alle Probleme die «Faulen und Kriminellen in den Ghettos» verantwortlich machen. Besonders perfid: Spielcasinos werden bewusst in Ghettonähe gebaut.

Britannien als Traumziel

Es gibt auch seltene Gegenbeispiele für eine gelungene Koexistenz zwischen der Romaminderheit und der Mehrheitsgesellschaft. In Cesky Krumlov, einem schmucken historischen Städtchen in Südböhmen, hat die Stadtregierung früh auf die Arbeitsplatzverluste nach der Wende reagiert und viele Roma als KommunalarbeiterInnen eingestellt. Der Grossteil der Romagemeinschaft lebt allerdings schon in vierter oder fünfter Generation vor Ort. Nach dem Zweiten Weltkrieg sind kaum neue Roma aus der Ostslowakei hinzugekommen. Das Städtchen weist den republikweit höchsten Anteil an Hochzeiten zwischen Roma und Nichtroma auf. Doch auch in Cesky Krumlov setzt langsam ein Prozess der sozialen Ausgrenzung ein, wie ein Bericht des tschechischen Rundfunks im Frühjahr 2010 aufgezeigt hat.

Eva Bartusova lebt zusammen mit ihren vier Söhnen Radek, Kaja, Petja und Adam sowie Ehemann Karel etwas nördlich von Most in der Kleinstadt Lom. «Ich lebe eigentlich gerne hier», sagt die energische Romni. «Man kennt sich hier, tauscht sich aus, quatscht miteinander – Roma und Tschechen.» Während sie in der Küche sitzt und redet, machen sich die Buben bereit fürs Fussballtraining. Sie erzählen sich aufgeregt von ihrem Lieblingsfilm «Bastardi», den sie kürzlich mit ihren SchulkollegInnen gesehen haben. Im Film wird eine nordböhmische Schule als soziales Pulverfass gezeigt. Er war ein Überraschungshit. Jugendfrei ist er nicht. «Jeschesch Maria, ihr habt diesen grässlichen Film gesehen! Wie konntet ihr Lausebengel nur!», schimpft die Mutter. Die Buben grinsen bloss, und nach einer Umarmung stürmen sie aus der Wohnung.

«Mein Traum bleibt England», sagt Bartusova. Im Gegensatz zu Tschechiens Nachbarstaaten Deutschland und Österreich hatte der Inselstaat seinen Arbeitsmarkt für Menschen der mittel- und osteuropäischen Staaten, die 2004 in die EU aufgenommen wurden, geöffnet. Für viele tschechische Roma ist Britannien das Gelobte Land, Tausende haben sich dorthin aufgemacht. Auch die Familie von Eva Bartusova versuchte vor zwei Jahren ihr Glück in der Nähe von Middlesbrough im Nordosten Britanniens. Weil weder sie noch Karel eine Stelle fanden, kehrten sie nach ein paar Monaten zurück. «Obschon ich tschechische Staatsbürgerin bin, fühle ich mich hier fremd und beobachtet – im Supermarkt, im Bus, bei den Behörden, einfach überall. In England war ich eine Ausländerin, habe mich aber nicht so gefühlt. Das war schön.»

Dann kommt Ondrej Kocur zur Tür herein. «Ah, unser Ombudsmann», begrüsst ihn Bartusova. Der gross gewachsene Mann mit grauem Abraham-Lincoln-Bart unterstützt die Familie seit fünf Jahren beim Papierkram. «Besonders bildungsschwache Roma haben Probleme mit der Beamtensprache», sagt er. Das würden Firmen, etwa aus der Telekommunikationsbranche, ausnutzen und Verträge mit hohen Gebühren aufsetzen. «Fatal dabei ist, dass beide – die Firma und die Roma – wissen: Am Ende bezahlt der Staat», sagt Kocur. Ihm sei bewusst, dass die Rollen nicht klar verteilt seien in Opfer und Täter. «Aber die Spiesse sind nicht gleich lang, darum geht es mir.»

Viele Roma sind verschuldet. Doch spezifische Aufklärungskampagnen und Rechtsberatungen existieren nicht. Die Behörden würden Romafamilien eher schikanieren als unterstützen, sagt Kocur. 2003 hat er die Menschenrechtsgruppe «Gemeinsam leben» gegründet, um Romafamilien aus den Mühlen der Bürokratie zu halten und bei der Entschuldung zu unterstützen. «Ich kenne die Gesetzesparagrafen mittlerweile auswendig. Bei den Behörden kriegen sie Schweissausbrüche, wenn sie mich sehen», sagt er, und beide lachen.

Systematisch diskriminiert im Bildungsbereich

«In der Tschechischen Republik gelten rund 80 000  Menschen als sozial ausgeschlossen, davon sind drei Viertel Roma», sagt Alena Zigelerova von der staatlichen Agentur für soziale Inklusion (ASI). Das Land habe aber kein «Romaproblem», wie es in den Medien immer heisse. «Die soziale Ausgrenzung ist das Problem. Die staatlichen Strukturen greifen nicht, und es sind in besonderem Masse Roma, die davon betroffen sind, aber längst nicht nur. Arbeitslosigkeit und Armut, das kann in diesem Land sehr viele treffen. Aus dieser Spirale wieder herauszukommen, das ist unglaublich schwierig.»

Dass die ASI überhaupt existiert, geht auf ein Ereignis vom 17. November 2008 in der Kleinstadt Litvinov unweit von Most zurück. Tausend Rechtsradikale wollten damals unter der Regie der heute verbotenen Arbeiterpartei (Delinicka strana) in die (noch) gemischte Siedlung Janov eindringen. Nur ein ebenso grosses Polizeiaufgebot konnte das verhindern. Den grossen Schrecken lösten damals aber nicht die Bilder von den Strassenschlachten aus, sondern dass sich an jenem Novembertag die «weisse» Bevölkerung nicht mit ihren NachbarInnen, sondern mit den Rechtsextremen solidarisierte und den braunen Mob gar noch motivierte, auf die «schwarzen Säue» loszugehen.

Die Ereignisse in Janov schreckten die damalige konservative Regierung gehörig auf. Umgehend rief sie die ASI ins Leben. Sie ist direkt der Regierung unterstellt und keinem Ministerium angeschlossen. «Das ist unser grosser Vorteil», sagt Alena Zigelerova, Koordinatorin der ASI. «Die Problembereiche, mit denen wir uns befassen, sind breit gefächert: Arbeit, Bildung, Wohnen, Gesundheit, Sicherheit. Wären wir einem bestimmten Ministerium unterstellt, wäre der Fokus viel zu eng.» Die Hauptaufgabe der ASI sind die Vernetzung und der Austausch von Behörden, Nichtregierungsorganisationen und Kommunen. Das jährliche Budget beträgt 33,5 Millionen Kronen (zirka 1,6 Millionen Franken), ein Drittel kommt von der Regierung, der Rest von der EU. Rund dreissig MitarbeiterInnen sind für die ASI tätig.

In Nordböhmen ist die ASI besonders aktiv. Die Region weist mit über fünfzehn Prozent die landesweit höchste Arbeitslosenquote auf – der Durchschnitt liegt unter neun Prozent. Und in keinem anderen Landkreis fehlen mehr Arbeitsplätze als in Most. Die Zusammenarbeit mit den Arbeitsämtern zählt zu den Hauptaufgaben der ASI. So ist ein Gesetz bei der Vergabe von öffentlichen Bauaufträgen vorgesehen. Zehn Prozent der Bauarbeiter müssten demnach aus dem Landkreis stammen. «Wir können uns eine weitere Generation, die mit Arbeitslosigkeit und im Sozialhilfesystem aufwächst, gar nicht leisten», sagt Zigelerova.

Die aktuelle Politik bewirkt das Gegenteil: Sie zieht geradezu eine nächste verlorene Romageneration heran. In vielen Romasiedlungen – etwa in Chanov – fehlen Kindergärten. Und gerade wenn die Eltern ein tiefes Bildungsniveau aufweisen, werden die Kinder im Vorschulalter kaum gefördert.

Monika Kynclova ist Direktorin der Grundschule in Chanov. Sie sagt: «Vielen Kindern im Einschulungsalter fehlen hier ganz elementare Dinge. Ich spreche nicht vom Zählen, Schreiben oder Lesen – die Kinder können keinen Bleistift halten, sie können keine Farben unterscheiden, kennen die Uhrzeiten und Himmelsrichtungen nicht.»

Meist wird gar nicht versucht, diese Defizite wettzumachen. Stattdessen holen die Schulen für viele Romakinder psychologische Gutachten ein. Die Diagnose läuft häufig auf eine «leichte mentale Behinderung» oder auch eine «mittlere geistige Behinderung» hinaus. Die Konsequenz: Besuch der sogenannten praktischen Schule statt der Grundschule. Mit einem solchen Schulabschluss sind die Chancen auf dem Arbeitsmarkt praktisch gleich null. Landesweit werden etwa zwei Prozent der Kinder in die praktische Schule eingeteilt. Unter Romakindern liegt die Quote bei annähernd dreissig Prozent. In den nordböhmischen Ghettos ist sie besonders hoch. In der Barackensiedlung «UNO», die laut einer ASI-Studie als «schlechteste Adresse» in Litvinov gilt, beträgt sie gar hundert Prozent. Alle der etwa zwanzig schulpflichtigen Kinder besuchen die praktische Schule.

Die tschechische Regierung hat 2010 vom EU-Gerichtshof für Menschenrechte einen Rüffel für diese diskriminierende Praxis erhalten, an der Situation geändert hat sich bislang nichts. «Der Rassismus gegen Roma ist ein gesellschaftlicher als auch politischer Konsens, der von den Eliten geduldet wird. Es fehlt an Empathie den Roma gegenüber. Und zwar von allen Seiten», sagt Alena Zigelerova.

Ein Wort aus der Naziära

Im Zusammenhang mit Roma taucht immer wieder ein bestimmtes Wort auf: «anpassungsunfähig». «Das Wort stammt aus der Naziära», sagt Jan Cerny, der für die Menschenrechtsgruppe Menschen in Not (MiN) tätig ist. Er lebte im Herbst 1999 in der nordböhmischen Metropole Usti nad Labem, als das Wort erstmals wieder auftauchte. Damals veranlasste die Regierung von Usti nad Labem den Bau einer 1,80 Meter hohen und 62 Meter langen Mauer, um eine mehrheitlich von Roma bewohnte Strassenseite abzutrennen. AnwohnerInnen hatten sich über Lärm und Schmutz beklagt. Die Mauer wurde indes nie gebaut. Die Tschechische Republik wollte es sich als damaliger Beitrittskandidat nicht mit der EU verscherzen.

Erschüttert von den Entwicklungen rund um den Mauerbau trat Cerny MiN bei. Damals wie heute kritisiert der Streetworker, der in seiner Freizeit Ziegenkäse herstellt, die Rolle von PolitikerInnen und Medien scharf: «1999 konnten die Stadtvertreter in den Medien unkommentiert behaupten, die Mauer diene dem ‹Schutz der anständigen Anwohner vor den anpassungsunfähigen Bewohnern›.»

Im letzten Spätsommer hatte das Wort erneut Hochkonjunktur. Eine Kneipenschlägerei im Schluckenauer Zipfel, einem Landstrich im Nordosten von Usti nad Labem, führte zur Eskalation. Rechte und rechtsextreme Kreise stilisierten den Zwischenfall zu einem rassistischen Übergriff von Roma auf «Weisse» und organisierten Wochenende für Wochenende im ganzen Zipfel Demonstrationen und Märsche. Wie zuvor in Litvinov solidarisierte sich die «weisse» Bevölkerung mit den Rechtsextremen. Rufe wie «Zigeuner ins Gas!» hallten unwidersprochen durch die Strassen. Die Medien übernahmen die Interpretation des rassistisch motivierten Übergriffs ungefragt. «Diese Demos kosteten den Staat wegen der Sicherheitskosten täglich sechs Millionen Kronen. Aber die hinterfragt niemand», sagt Cerny.

Sie habe andere Sorgen als die Aufmärsche der Rechtsextremen, meint Gabriela Balogova. Sie ist in Usti nad Labem geboren und wohnt heute auch wieder dort – in Predlice, einem ehemaligen Industriequartier am westlichen Stadtrand. Die 33-Jährige hat sich kürzlich telefonisch als Kellnerin in einem Bowlingcenter beworben. Der zuständige Personaldienstleiter lud sie umgehend zu einem Vorstellungsgespräch ein und meinte am Telefon, er könne sich eine Zusammenarbeit gut vorstellen. Als er die vierfache Mutter vor sich sah, runzelte er die Stirn und sagte bloss, die Stelle sei bereits vergeben. Das sei ihr nicht zum ersten Mal passiert, sagt Balogova. «Dabei bin ich tschechische Staatsbürgerin. Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Ich habe die gleichen Rechte wie alle anderen auch.» Auf dem Heimweg vom Bowlingcenter sei sie wütend und enttäuscht gewesen. «Da habe ich meine Sitznachbarin im Bus in einer Mischung aus Scherz und Trotz gefragt, ob sie Interesse an meinem schwarzen Gesicht hätte. Ich würde es gratis abgeben. Sie ist wortlos aufgestanden und bei der nächsten Haltestelle ausgestiegen. Die Menschen hier lachen über uns, aber nicht mit uns», sagt Gabriela Balogova. «Wenn sich das ändert, schöpfe ich wieder Hoffnung.»

Nachträge

Mit dem 1. Januar 2012 ist die Sparpolitik der aktuellen rechtslastigen Regierung in der Realität angekommen: Neben einer massiven Teuerung – der untere Mehrwertsteuersatz wurde von zehn auf vierzehn Prozent erhöht – sind zugleich die sozialen Ausgaben drastisch gekürzt respektive die Auflagen verschärft worden. Nach Meinung der Regierung war auch das «viel zu grosszügige Sozialsystem» für das soziale Elend der Roma verantwortlich – es erlaube ihnen nämlich, einfach nichts zu tun. «Ich fürchte, diese Massnahmen führen zum Bürgerkrieg», sagte ein Sozialarbeiter in Litvinov nur halb im Scherz.

Die Tschechische Republik erhält aus EU-Fonds bis 2013 insgesamt 200 Millionen Euro zur Restrukturierung von Romaghettos. Die Gelder sind bisher laut einem Bericht des Nachrichtenmagazins «Tyden» vorwiegend in «weisse» Wohnviertel geflossen – in Parkplätze und Fussgängerzonen. Gleichzeitig schlossen beispielsweise Spielzentren für Kinder in Romawohnheimen aus finanziellen Gründen.

Ob die ASI ihre Arbeit über 2013 hinaus weiterführen kann, ist momentan unklar. Die Regierung hat die weitere Finanzierung bisher nicht beschlossen.

Roma in der Tschechischen Republik: www.romove.radio.cz/de

Medienportal von RomaaktivistInnen: www.romea.cz/english
European Roma Rights Center: www.errc.org

Alltag in Chanov : Kein Kino, kein Gasthof, keine Langeweile

«Kommen Sie herein in unsere schöne Welt», sagt Klara Snabova und bittet in ihre Dreizimmerwohnung im zweiten Stock eines Plattenbaus in Chanov am Rand der Stadt Most. Tatsächlich hat man das Gefühl, eine andere Welt zu betreten. Die Diskrepanz zwischen den öffentlichen und den privaten Räumen in den nordböhmischen Romaghettos ist eindrücklich. Draussen vor den Häusern, auf den Strassen und in den Treppenaufgängen ist es oftmals trostlos, verwahrlost und dreckig. Die Wohnungen hingegen sind gepflegt, gemütlich eingerichtet und sehr bunt geschmückt. Die Tapeten sind durchwegs mit hellen Farben bemalt – meist rosa, orange oder grün. An den Wänden hängen Porträts von verstorbenen Verwandten, Kruzifixe und Plastikblumen. Auf den Kommoden stehen liebevoll aufgestellt Porzellanfiguren und -vasen, Puppen und Stofftiere. In den Wohnzimmern finden sich grosse Stoffsofas, meistens auf den Fernseher ausgerichtet, der im Hintergrund immer läuft.

Klara Snabova ist 32 Jahre alt und hat ihr ganzes Leben in Chanov verbracht. Sie teilt sich die Wohnung mit ihren drei Kindern und ihrer Mutter. Seit sie mit sechzehn Jahren die Grundschule abschloss und schwanger wurde, hat sie nie eine feste Stelle gehabt. Aber sie arbeitet monatlich zwanzig Stunden in einem städtischen Beschäftigungsprogramm. Dadurch erhöht sich ihre Sozialhilfe um 1000 Kronen (zirka 50 Franken). Das ist ein stattlicher Betrag, der Mindestbedarf liegt bei etwas über 3000 Kronen (zum Vergleich: Der durchschnittliche Bruttomonatslohn lag 2010 bei knapp 24 000  Kronen).

Snabovas Alltag und ihr soziales Umfeld sind fast ausschliesslich auf Chanov beschränkt, wo es weder ein Kino oder ein Theater noch einen Gasthof oder einen Supermarkt gibt. «Alle meine Verwandten und Bekannten leben hier. Langweilig wird es mir nie», sagt sie. Und ihre Grossmutter Marie Pulkova, die in der Zwischenzeit hinzugekommen ist, ergänzt: «Es gibt immer viel zu tun: die Wohnung putzen, Wäsche machen, kochen, Kaffee trinken, Familienbesuche, Spaziergänge im Quartier.»

Viel mehr mag Klara Snabova aus ihrem Leben oder über die sozialen Strukturen und Hierarchien in Chanov nicht erzählen. Jene Roma, die noch in der Stadt Most leben, würden sich aber für etwas Besseres halten, sagt sie noch. Auf die Frage, wo eigentlich die Männer seien, die zumindest tagsüber kaum zu sehen sind, antwortet sie schliesslich lachend: «Die Männer? Ach, vergessen Sie die, das sind Taugenichtse und Drogensüchtige. Wir brauchen keine Männer!»

Jan Jirát

Geschichte der Roma in der Tschechischen Republik : Verfolgt, ermordet, umgesiedelt, ausgegrenzt

Seit dem Spätmittelalter leben Roma, deren Wurzeln im indischen Subkontinent liegen, im Gebiet der Tschechischen Republik. Von Beginn an ist ihre Geschichte geprägt von Verfolgung und Ausgrenzung. Und schon immer waren sie ein Spielball der Politik: nützlich als Metallverarbeiter, HofmusikerInnen und Soldaten, vor allem aber als Sündenbock. Brannte es oder brach eine Krankheit aus, waren die Schuldigen rasch gefunden. Ab dem 18. Jahrhundert versuchten die Behörden vermehrt, die Roma zur Sesshaftigkeit zu zwingen. Mit Erfolg: Statistische Daten von Ende des 19. Jahrhunderts zeigen, dass damals bereits über neunzig Prozent der lokalen Roma sesshaft waren. Isoliert von der Mehrheitsbevölkerung blieb die Romagemeinschaft aber weiterhin.

Als Adolf Hitlers Truppen im März 1939 in die Tschechoslowakei einmarschierten, begann für die Romagemeinschaft das dunkelste Kapitel ihrer Geschichte. Von den 8000 tschechischen Roma überlebten nur ein paar Hundert den Porajmos («das Verschlingen»), den nationalsozialistischen Völkermord an den europäischen Roma. Ein Grossteil fand in den Gaskammern von Auschwitz den Tod. Im Gegensatz zu den besetzten tschechischen Gebieten blieb die Slowakei formal selbstständig – faktisch war sie ein Satellitenstaat Nazideutschlands. Eine Nazifizierung der Verwaltung blieb weitgehend aus und damit auch die systematische Verfolgung und Vernichtung der über 100 000  slowakischen Roma.

Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg begann eine erste Phase, in der slowakische Roma nach Böhmen und Mähren umsiedelten, vorwiegend in Regionen, wo nach der Vertreibung der Sudetendeutschen freier Wohnraum vorhanden war. Eine zweite Phase folgte in den sechziger und siebziger Jahren, als der Bedarf an – vor allem unqualifizierten – ArbeiterInnen besonders in den nordböhmischen und -mährischen Industriezentren gross war. Die jüngsten Übersiedlungen gehen auf die Auflösung der Tschechoslowakei am 1. Januar 1993 zurück. Damals konnten alle ehemals tschechoslowakischen BürgerInnen ihre neue Staatszugehörigkeit wählen. Viele slowakische Roma entschieden sich für die tschechische: Das Land war reicher, die Arbeitsmarktsituation besser, und die Sozialleistungen waren höher. Heute leben schätzungsweise 275 000  Roma in der Tschechischen Republik. Das entspricht nicht ganz drei Prozent der Gesamtbevölkerung. Sie sprechen fast ausschliesslich Tschechisch oder Slowakisch, ihr eigener Romani-Dialekt hat den Porajmos nicht überlebt. Die Mehrheit ist katholisch.

Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung schätzt, dass in ganz Europa neun Millionen Roma leben. Sie sind somit die grösste Minderheit auf dem Kontinent. Die meisten leben in Osteuropa, vor allem in Rumänien, Bulgarien, Ungarn sowie in der Slowakei und in Serbien. Die Situation der Roma ist nicht überall identisch mit jener in der Tschechischen Republik, aber doch vergleichbar: «Weil sie oft nur einen geringen Bildungsstand besitzen und häufig arbeitslos sind, leben sie in prekären Verhältnissen und geniessen nur ein niedriges soziales Ansehen», schreibt das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung.

Jan Jirát

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