Libyen: Nicht verheilte Wunden

Nr. 4 –

Nach dem Ende der 42-jährigen Diktatur von Muammar al-Gaddafi stehen in Libyen immer noch viele unter dem Schock des Befreiungskriegs, wie eine Reise an frühere Kriegsschauplätze zeigt.

In der Nähe des nicht zu Ende gebauten Sportstadions von Benghasi stehen Container, die einst als Unterkünfte für die Bauarbeiter dienten. Jetzt wohnen darin Flüchtlinge und Vertriebene. Die Siedlung trägt den Namen «Campo».

«Das ist ein Fünf-Sterne-Flüchtlingslager», lacht Ahmad Makhluf vom libyschen Roten Kreuz. Er ist stolz auf sein Freiwilligenteam. Sie haben es auf dem Höhepunkt des letztjährigen Bürgerkriegs geschafft, gestrandeten FremdarbeiterInnen Schutz zu bieten. Inzwischen sind die meisten ausländischen Arbeitskräfte in ihre Heimatländer zurückgekehrt. Ein Teil des Lagers ist nun das temporäre Heim von LibyerInnen aus Tawargha.

Muhammad Sibani gehört zu denen aus Tawargha, die nun im Lager von Benghasi leben. Die Haare des etwa 65-jährigen Scheichs sind ganz weiss, sie kontrastieren mit seiner dunklen Haut. Ich frage ihn, weshalb die Tawarghis ihre Stadt verlassen haben. «Während des Ramadans kam Tawargha unter rücksichtslosen Beschuss. Wir verliessen die Stadt, um unsere Familien zu schützen. Von den ursprünglich 40 000 Bewohnern ist niemand zurückgeblieben, wir sind jetzt über ganz Libyen verstreut.»

Tawargha im Verwaltungsdistrikt Misrata ist eine der wenigen Städte, aus denen im Zuge des Kriegs von 2011 die Bevölkerung vertrieben wurde. Die Menschen von Tawargha gehören zum gleichnamigen Stamm, dessen Wurzeln im südlicheren Afrika liegen. Das erklärt auch die fast schwarze Haut vieler BewohnerInnen. Tawargha wurde von den Rebellen beschossen. Die Gründe dafür skizziert Sibani so: «Am dritten Tag der Revolution kamen 7000 Pro-Gaddafi-Kämpfer in die Stadt. Sie planten, die Stadt Misrata anzugreifen. Einige der jungen Männer von Tawargha schlossen sich ihnen an und verübten Verbrechen.»

Sibani beklagt sich, dass seit dem Sturz Gaddafis alle Tawarghis als Kollaborateure des alten Regimes gelten. «Wer Verbrechen begangen hat, soll büssen», sagt er, doch alle anderen solle man in Ruhe lassen. «Wir hören jetzt von vielen, die sagen, alle aus Tawargha sollen nach Afrika zurückkehren. Als ob Libyen nicht zu Afrika gehören würde.» Schliesslich fügt er an: «Wir haben gehört, dass in unserer Stadt immer noch Häuser brennen.»

Ein Spaziergang in Benghasi zeigt, weshalb der Osten Libyens schon länger ein Zentrum der Opposition war: Es fehlt an grundlegender Infrastruktur, die Strassen sind voller Löcher, gefüllt mit Abwässern. Die Wohnungsfrage war eine dauernde Quelle von Spannungen. Auch die Dörfer um Benghasi machen einen ärmlichen Eindruck. Ostlibyen wurde vom Gaddafi-Regime systematisch vernachlässigt.

«Hauptstadt der arabischen Kultur»

Wir brechen zur Fahrt nach Sirte auf, der Geburtsstadt Gaddafis. Am westlichen Ausgang von Benghasi stossen wir auf die Überreste des Militärkonvois, der im Auftrag von Gaddafi die Rebellion in der Stadt hätte beenden sollen. Altes sowjetisches Militärgerät liegt über SA-8-Boden-Luft-Raketen und T-72-Panzern, Lastwagen und Jeeps haben sich in Alteisen verwandelt. Gegen die Bomben der französischen Kampfflugzeuge waren die libyschen Bodentruppen chancenlos.

Kurz vor Sirte halten wir vor einem kleinen Gemüseladen. Der Besitzer fasst die Gemütsverfassung in der Region so zusammen: «Sagt euren Lesern, dass die Rebellen die Nato, Amerika und Frankreich ins Land brachten, um Libyen zu besetzen.» Während seiner ganzen Herrschaftszeit hat sich Gaddafi als Kämpfer gegen fremde Mächte inszeniert. Seine Propagandamaschine versuchte die Rebellen sowohl als Al-Kaida-Agenten wie auch als Kollaborateure der westlichen Mächte hinzustellen.

Sirte war Gaddafis Geburtsort und profitierte während der ganzen 42-jährigen Herrschaft des Diktators davon. Am Eingang zur Stadt steht immer noch ein grosses, inzwischen von Einschusslöchern durchsiebtes Schild, auf dem steht: «Sirte, Hauptstadt der arabischen Kultur 2011». Der gestürzte Diktator hatte den Ehrgeiz, die kleine Oasenstadt auf der Hälfte der Strecke von Tripolis nach Benghasi zur politischen Hauptstadt Afrikas zu machen, zum Sinnbild seiner grössenwahnsinnigen Ambitionen.

In einem Besuchsraum im Innern des Ibn-Sina-Spitals von Sirte werden auf einem riesigen Fernsehbildschirm verstörende Bilder von Toten gezeigt. Sie sind eingehüllt in weisse Tücher. Viele von ihnen sind durch schwerkalibrige Geschosse oder Splitterteile ums Leben gekommen. Man hofft, dass BesucherInnen die Leichen identifizieren können. In ganz Libyen werden noch über 20 000 Menschen vermisst. Immer wieder werden Massengräber entdeckt.

Eine unglaubliche Wut hat Sirte zerstört. Die «Nachbarschaft Nummer 2» ist eine Wohngegend, die sich von der Innenstadt zum Mittelmeer zieht. Es war der letzte Zufluchtsort, an dem sich die Elitekämpfer des alten Regimes am Ende des Kriegs verschanzt hielten. Die Nachbarschaft litt dementsprechend darunter. Die Gebäude sind durch den Einschlag der Artilleriegeschosse schwer zerstört, die Böden immer noch mit Patronenhülsen und Granatsplittern übersät. Selbst scharfe Munition liegt herum, die von den Kämpfern während der Gefechte zurückgelassen worden war.

Der Einfluss der Stämme

Wieso konnte sich Gaddafi 42 Jahre als Diktator halten, fragt man sich immer wieder, wenn man durch das Land reist. Und wieso haben ihm, auch noch während des Arabischen Frühlings, so viele die Treue gehalten? Eine Erklärung dieses Phänomens ist ausgerechnet die lange Dauer der Diktatur. Viele hätten buchstäblich geglaubt, Gaddafi verfüge über schwarze Magie, ist zu hören. Man traute ihm deswegen zu, auch diese Rebellion zu überleben. Zumal Gaddafi es lange Zeit meisterlich verstand, die Bevölkerung via Medien zu manipulieren.

Eine gängigere Erklärung für die Verbundenheit wurzelt in der Stammesgesellschaft Libyens. Der Gaddafi-Clan versuchte diese bewusst für sich zu instrumentalisieren. So wiederholte etwa Saif al-Islam, Gaddafis zweitältester Sohn, in einer Fernsehansprache beim Ausbruch der Unruhen noch und noch den Unterschied seines Landes zu anderen arabischen Staaten: «Libyen ist nicht Tunesien oder Ägypten. Libyen basiert auf Clans und Stämmen.» Auch Muammar al-Gaddafi selber appellierte an die Stammesloyalität. Ausgerechnet. Dabei hatte er seine politische Karriere mit der Parole von der arabischen Einheit gestartet. Später unternahm er nicht weniger als sieben Versuche, verschiedene arabische und afrikanische Staaten mit Libyen zu vereinigen – alle scheiterten. Doch am Ende bedrohte er seine BürgerInnen ausgerechnet mit dem Schreckgespenst eines Stammeskriegs.

Tatsächlich spielte die Zusammensetzung der Gesellschaft aus Stämmen im Krieg eine Rolle. Beim Volksaufstand zuvor war die Frage der Stämme allerdings bedeutungslos. Bei den Erhebungen in den Grossstädten gingen Menschen mit Wurzeln aus den unterschiedlichsten Stämmen und Clans zusammen auf die Strasse. Erst im Krieg gelang es Gaddafi, verschiedene Stämme in kleineren Städten dazu anzustacheln, die Hochburgen der Rebellion anzugreifen. Er versprach seinen Gefolgsleuten als Kriegsbeute Land, Gold und Frauen. Zudem versuchte er, sie auf ihre Stammesehre zu behaften. So forderte er Stämme wie die Warfala auf, Rache für ihre Toten auf dem Schlachtfeld zu nehmen.

Doch der von Gaddafi entfesselte Stammeskrieg misslang doppelt. Erstens auf dem Schlachtfeld: Die Koalition seiner Eliteeinheiten – angeführt von den beiden Söhnen Chamis und Mutasem – mit verschiedenen irregulären Stammeskämpfern versagte in den Schlüsselgefechten. Sie versagte auch beim Versuch, in Sirte eine Widerstandsbastion zu errichten. Die Zivilbevölkerung flüchtete. Die letzten Kämpfer des Regimes blieben isoliert zurück.

Auf dem Weg von Sirte Richtung Westen machen wir nach wenigen Kilometern halt, um uns die Wasserleitungen unter der Strasse anzusehen. Hier wurde Gaddafi von den Rebellen aus Misrata gefangen genommen. Die Mauern in der Umgebung sind mit Graffiti übersät. Fünfzig Meter von der Strasse entfernt liegen immer noch verbrannte Metallstücke der Autos aus Gaddafis Konvoi.

Auf dem weiteren Weg nach Misrata kommen wir an Tawargha vorbei, der Stadt, aus der die Vertriebenen in Benghasi stammen. Ich zähle acht Feuer. In verschiedenen Häusern und Wohnblocks brennt es noch immer, obwohl die Stadt schon vor Monaten verlassen wurde. Die Kämpfer aus Misrata wollten offenbar vollkommen sicher sein, dass Tawargha nie mehr ihre Nachbarstadt sein wird: Sogar der Name der Stadt wurde von den Hinweisschildern entlang der Hauptstrasse entfernt.

Noch immer unter Schock

Misrata ist die drittgrösste Stadt Libyens und beherbergt den grössten kommerziellen Hafen des Landes. Die Tripolistrasse, die zentrale Verkehrsachse der Stadt, steht in Ruinen. Die Rebellion in der Stadt begann im Anschluss an den Aufstand von Benghasi. Daraufhin marschierten Pro-Gaddafi-Kräfte in die Stadt ein: die berüchtigte Chamis-Brigade sowie Stammeskämpfer aus Tawargha und aus Slitan.

Muhammad Darrat ist Händler und Besitzer einer Fabrik. Er zählt zu den führenden Köpfen der Rebellion von Misrata. Darrat sagt: «Die Menschen hier stehen immer noch unter dem Schock der Freiheit, sie wissen nicht, wie sie sich verhalten sollen.» Als die Demonstrationen gegen das Regime begannen, war Darrat mit seiner Familie in Saudi-Arabien. Er kehrte umgehend zurück.

Die Familie Darrats zahlte für den Freiheitskampf in Misrata einen hohen Preis: Sein jüngster Sohn schloss sich den lokalen Milizen an. In den ersten Tagen der Kämpfe versuchte er, einen Panzer mit einer RPG-7-Rakete anzugreifen. Er verfehlte das Ziel wegen fehlender militärischer Erfahrung. Der Panzer erwiderte das Feuer und traf den jungen Mann. Jetzt wird er in einem deutschen Spital gepflegt, ein Bein musste ihm amputiert werden. Die Geschichte von Muhammad Darrats Bruder ist noch tragischer: Als die Rebellion begann, reiste Ali aus Deutschland an, um als Mediziner den Aufstand zu unterstützen. Eines Tages überquerte er aus Versehen die Frontlinie und wurde von Kämpfern aus Tawargha gefangen genommen. Er wurde in ein Gefängnis nach Tripolis gebracht und dort kurz vor der Befreiung exekutiert.

Allein in Misrata starben während der Revolution 1270 KämpferInnen, 12 000 wurden verwundet, und 500 sind immer noch vermisst. Aber das Schrecklichste für Misrata waren die Massenvergewaltigungen, als die loyalistischen Kräfte in die Stadt eindrangen. Noch immer ist es schwierig, gegen Personen, die dieses Verbrechens verdächtig sind, gerichtlich vorzugehen. Das Thema wird tabuisiert. In den Worten eines ausländischen Hilfswerkmitarbeiters: «Sie bringen es nicht einmal über sich, die Namen der vergewaltigten Frauen niederzuschreiben. Wie soll man solche Fälle vor Gericht bringen?»

Die libysche Revolution

Der Aufstand gegen die Diktatur von Muammar al-Gaddafi begann Mitte Februar 2011 in Benghasi. Innert weniger Tage erhob sich in verschiedenen Städten die Bevölkerung, doch das Regime antwortete mit blutiger Repression. Der Aufstand mündete schliesslich in einen fast sechs Monate dauernden Bürgerkrieg, in den sich aufseiten der Aufständischen auch die Nato einmischte.

Am 20. Oktober wurde Gaddafi in der Nähe seiner Geburtsstadt Sirte gefasst und getötet. Nachdem zuvor bereits alle Städte befreit worden waren, hatte damit die Revolution endgültig gesiegt.